Vor fast zwanzig Jahren veröffentlichte die amerikanische Essayistin Susan Sontag ihr letztes Buch: Regarding the pain of others (2003). Diese Reflexion über das Betrachten der Leiden anderer im Medium der Kriegsfotografie, die an Sontags frühere Texte in On Photography (1977) anschließt, ist seither eine schon klassisch gewordene Referenz. Was können Fotos oder auch dokumentarische Fernsehbilder, die Sontag in ihre Überlegungen einbezieht, angesichts des Grauen eines Krieges bewirken, beziehungsweise: Was tun sie? In welche Position versetzen sie uns, die Betrachter:innen der Bilder vom Schmerz und den Verletzungen jener, die die zerstörerische Macht der Waffen an ihren Körpern und ihren Psychen erlitten haben? Stumpfen sie ab – oder helfen sie zu verstehen? Oder emotionalisieren sie nur, ja beeinflusst die „Macht der Bilder“ jetzt sogar die „emotionalisierte Außenministerin“, wie Jürgen Habermas glaubt?
Die Dringlichkeit dieser Fragen und die Notwendigkeit, sie zu stellen, ist so aktuell wie damals, auf dem Hintergrund der Balkankriege und des ersten Irak-Kriegs, auf die Sontag sich häufig bezieht. Aber die Medientechnologie und die Medienökologie von heute unterscheidet sich deutlich von der Medienlandschaft selbst noch am Anfang des 21. Jahrhunderts. Das Leiden anderer erscheint heute vor allem auf Social Media, in meinem Fall in der Twitter-Timeline und auf YouTube (es könnten auch, vice versa, Facebook, Instagram, TikTok oder ein Telegram-Kanal sein). So viel man auch von Sontag lernen kann, wirft das doch Fragen auf, die sie nicht stellen konnte und die ich im zweiten Teil meiner Überlegungen aufgreifen werde: Wie veränderte diese mediale Verschiebung die Funktion und Wirkung von Fotografie (oder auch von kurzen Videosequenzen) im Raum des öffentlichen Sehens? Wie ‚funktionieren‘ heute insbesondere die Bilder aus dem Krieg in der Ukraine? Und wie gehen wir mit diesen Bildern um?
Los desastres de la guerra

Francisco de Goya, Desastres de la guerra, Blatt 3; Quelle: wikipedia.org

Francisco de Goya, Die Erschiessung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid, 1814. Museo del Prado Madrid; Quelle: artfritz.ch
Sontags Essay ist eine Reflexion über unser Verhältnis zum Grauen des Krieges, das die Bilder bezeugen oder zu bezeugen scheinen. Sie lässt die Geschichte solcher Bilder in der Moderne mit Los desastres de la guerra des spanischen Hofmalers Francisco de Goya beginnen: Eine Sammlung von über achtzig Radierungen mit Szenen aus dem kriegerischen Widerstand Spaniens gegen Napoleons Invasionsarmee, die allerdings erst viel später, 1863 und damit Jahrzehnte nach Goyas Tod, publiziert wurden. Einzelne Motive dieser späteren Serie schmückten nach der Niederlage Napoleons und daher mit politisch eindeutiger Konnotation als große Tafelbilder den Spanischen Königshof. Ob jedoch Goya selbst seine posthum veröffentlichten Radierungen als künstlerischen Protest gegen die Schrecken des Krieges als solchen verstand hatte, wie man oft annimmt, oder nicht doch ‚nur‘ als eine scharfe Verurteilung von Napoleons Aggression, bleibt unklar.

Alexander Gardner, Confederate Soldier, Metropolitan Museum of Art, New York City; Quelle: metmuseum.org
Was die Fotografie betrifft, so zeigen die ersten Prints aus dem Krymkrieg und dem Amerikanischen Bürgerkrieg zwar auch schon bedrückende Szenen, die aber der schweren Kameras und wenig empfindlichen Glasplatten wegen noch ausschließlich statisch waren. Das änderte sich schon im Ersten Weltkrieg, aber erst ab 1925 machte die Leica das Fotografieren auch schnell bewegter „action“ (Sontag) und aus naher Distanz möglich.

Robert Capa, The Falling Soldier, 1936, Gelatin silver print, The Metropolitan Museum of Art, New York City; Quelle: medium.com
Das bis heute vielleicht bekannteste Kriegsfoto, Robert Capas Bild eines tödlich getroffenen, rückwärts fallenden republikanischen Soldaten zeigt in ikonischer Verdichtung die Dramatik und den Schrecken kriegerischer Gewalt – und es demonstrierte übrigens auch die Fähigkeit der Leica (und des Fotografen), es sogar mit der Geschwindigkeit der Gewehrkugel aufnehmen zu können. Kriegsfotografie wurde zu einer Sache für Profis. Überhaupt war, so Sontag, der Spanische Bürgerkrieg der erste militärische Konflikt, der von einem ganzen Korps professioneller Fotografen begleitet und dokumentiert wurde – und deren Bilder in illustrierten Zeitungen und Zeitschriften von distanzierten Betrachter:innen konsumiert werden konnten.
Moderne Medien

Larry Borrows, Soldaten nach einem Gefecht in Südvietnam, Oktober 1966; Quelle: life.com
Dieses mediale Dispositiv war genuin modern: Professionelle Fotograf:innen belieferten kommerzielle Massenmedien, die ihre Leser:innen ebenso zu Zeugen machten, wie sie ihnen die Beruhigung des distanzierten und bloß passiven Blicks ermöglichten. Sontags ganzer Essay kreist um diese Spannung zwischen Zeugenschaft und Distanz, zwischen möglicher Betroffenheit und Desinteresse. Zum einen weiß sie, dass die während des Vietnamkriegs in Life publizierten, erstmals durchgängig farbigen Fotos des amerikanischen Kriegsreporters Larry Borrows wesentlich zur wachsenden Kritik am Einsatz der USA in Vietnam beitrugen. Andrerseits zitiert sie eine Frau aus dem besetzten Sarajevo, mit der sie im April 1993 sprach (ich zitiere in meiner Übersetzung): „Im Oktober 1991 saß ich hier in meiner schönen Wohnung im friedlichen Sarajevo, als die Serben in Kroatien einmarschierten, und ich erinnere mich, als in den Abendnachrichten Bilder von der Zerstörung des nur ein paar hundert Kilometer entfernten Vukovar gezeigt wurden, dachte ich: ‚Oh, wie schrecklich‘, und wechselte den Kanal.“
Sie verstehe deshalb auch, dass Menschen in Frankreich oder Deutschland angesichts der Belagerung von Sarajevo so denken würden; das sei „normal, menschlich“, wie Sontag diese anonyme Gesprächspartnerin sagen lässt. Aber ihre eigenen Fragen an die Kriegsfotografie gehen über solche etwas triviale Einsichten in die Grenzen menschlicher Anteilnahme hinaus. Liegt es denn nicht am Wesen der Fotografie und der Logik ihrer Bilder, dass sie diese Ambivalenz der möglichen Reaktionen selbst erzeugt? Müssen denn solche Bilder des absoluten Schreckens, wie zum Beispiel in Ernst Friederichs drastischem Fotoband Krieg dem Kriege! (1924), nicht in jedem denkenden und fühlenden Wesen unvermeidlich die Überzeugung wecken, dass Krieg um jeden Preis zu vermeiden sei?
Sontag weiß es besser: Die selben Bilder von Kindern, die im Jugoslawienkrieg bei der Bombardierung eines Dorfes getötet wurden, erschienen mit jeweils entgegengesetzter Bedeutung in der serbischen und der kroatischen Propaganda: „Ändere die Bildunterschrift“, schreibt sie, „und das Sterben dieser Kinder kann immer wieder neu verwendet werden.“ Fotos, selbst die scheinbar nur dokumentarischen, sind immer polysemisch, mehrdeutig, sie sind immer nur ein Ausschnitt, kein Abbild der Wirklichkeit. Ihre Aussage hängt daher, wie Judith Butler in ihrer Auseinandersetzung mit Sontags Essay unterstreicht („Photography, War, Outrage“, 2005), immer und grundsätzlich vom gewählten frame, vom Ausschnitt ab, der immer schon das framing, die Bedeutung-gebende Rahmung bestimmt. Sontag traut dem Bild selbst zwar zu, mit seiner schrecklichen Darstellung von menschlichem Leid eine zumindest bruchstückartige Wahrheit zu besitzen, so wie ein „Funke“, der ein Nachdenken erzwingt. Sie revidiert damit ihre Ansicht von 1977, dass Fotos letztlich nur abstumpfen, ja in ihrer medialen Masse bedeutungslos werden. Aber sie traut dieser Funktion der Bilder dennoch nicht so recht über den Weg und betont immer wieder, Fotografien selbst ergäben noch keine „Narration“, ihre Bedeutung könne nur in einem erklärenden Text stabilisiert werden. Das Kriegsbild ist für Sontag ein Schreckensbild, das uns bis in unsere Träume hinein verfolgen kann und soll – aber seine Wahrheit und Bedeutung erhalte es allein durch den Text, der es einrahmt und seinen Sinn stabilisiert. Ja, letztlich könne nur ein Text „wahr“ sein.
Bild und Text

Getöteter Fahrradfahrer in Butscha; Bild: Reuters; Quelle: n-tv.de
Es ist klar, dass für eine solche Sichtweise einiges zu sprechen scheint. Bilder können auf vielfache Weise lügen – oder man kann behaupten, dass die Wahrheit, die sich in ihnen zeigt, gelogen ist. In einer Passage von Sontags Essay, die auch angesichts der russischen „Fake“-Behauptungen über die Bilder aus Butscha geschrieben sein könnte, heißt es, die Standardantwort auf fotografische Beweise von Kriegsverbrechen der eigenen Seite laute jeweils, „dass die Bilder eine Fälschung sind, dass eine solche Gräueltat nie stattgefunden hat, dass es sich um Leichen handelt, die die andere Seite in Lastwagen aus dem städtischen Leichenschauhaus geholt und auf der Straße verteilt hat, oder dass, ja, es ist passiert, aber es war die andere Seite, die es getan hat, an den eigenen Leuten“.

Exhumierte Leiche in Butscha; Quelle: @Podolyak_m/Twitter
Daher scheint es eigentümlich widersprüchlich, wenn nicht fast schon ein wenig naiv, dass Sontag dem Text grundsätzlich mehr Wahrheit zutraut als dem Bild. Was sollte denn diese Annahme stützen? In dem Moment, als ich diese Zeilen schrieb, twitterte zum Beispiel der Linken-Politiker Gregor Gysi von seiner Reise in die Ukraine, ganz ohne Bild: „Zum Abschluss waren wir in Butscha. Ich bin sehr für die internationale Untersuchung zu den Kriegsverbrechen, die hier stattgefunden haben sollen, damit wir hoffentlich erfahren, was hier tatsächlich passierte.“ Könnten denn, so Gysis infame Unterstellung, wider alle Evidenz und im Kleid professioneller juristischer Skepsis, die Bilder der vergewaltigten, gefolterten und getöteten Zivilist:innen nicht doch täuschen? Könnten diese Kriegsverbrechen nicht bloß angeblich stattgefunden haben – irgendwelche Ereignisse also, die hier zwar „tatsächlich passierte[n]“, von denen man aber vor einer solchen „Untersuchung“ noch gar nicht wissen könne, wie sie zu bewerten wären und wie sie zustande kamen…?

„Satellite images show bodies in Bucha before Russian retreat“, The Times, 5.4.2022; Quelle: thetimes.co.uk
Die allzu simple Entgegensetzung von Bild und Text führt in die Irre, wie natürlich auch Sontag weiß, und im Fall von Butscha sind es daher nicht nur die nach dem Abzug der russischen Truppen entstandenen Fotos, die die schreckliche Wahrheit bezeugen, sondern genauso die Aussagen der Überlebenden, der abgehörte Funkverkehr russischer Soldaten, Satellitenaufnahmen sowie die Evidenzproduktion von Journalist:innen, internationaler Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtsorganisationen vor Ort. Bilder und Texte stützen sich gegenseitig.
Mediengeschichte
Wie also ‚funktionieren‘ die aktuellen Bilder des Krieges in der Ukraine – und wie kann man angemessen auf sie reagieren? Und was hat sich, wie gesagt, verändert, seit Sontag ihren Essay schrieb? Das Offensichtlichste ist banal: Seit die Bilder in (m)einer Timeline erscheinen, kann man sehr leicht weiterscrollen und von Link zu Link hüpfen. Aber das unterscheidet den Gebrauch von Social Media nicht grundsätzlich vom gelangweilten Blättern in einer Illustrierten oder vom Wechseln des Kanals beim Fernsehen. Überhaupt hilft Medienkritik dieser Art nicht weiter. Die neuzeitliche Mediengeschichte des Westens begann im 16. Jahrhundert mit reißerischen Bildern auf billigen Einblattdrucken, nahm im späten 18. In Frankreich einen wirkungsvollen, d.h. revolutionären Umweg über politische Pornographie, führte im 19. ebenso zur Etablierung von Qualitätszeitungen wie der Yellow Press, schien im 20. in der Kulturkatastrophe Fernsehen zu kulminieren („Wir amüsieren uns zu Tode“) – und sie wird im 21. nicht mit Social Media enden. Man kann sich kulturpessimistische Medienkritik zur Analyse der gegenwärtigen Lage also sparen.
Neu ist auch nicht, dass Bilder auf Social Media „emotionalisieren“ – das taten sie schon immer (und können Texte genauso). Die Frage lautet heute nur, ob diese Emotionalisierung – dieses Schockieren, Aufrütteln, etc. – als irgendwie begründet und berechtigt empfunden wird, oder eben nicht. Wenn Habermas die Emotionalisierung zurückweist, dann entweder, weil sie ihm politisch als unbegründet erscheint – oder weil sie eine bisher eher verschwiegene Regel seiner Diskursethik verletzt: Schreie niemals um Hilfe, wenn mündige Bürger:innen gerade dabei sind, das beste Argument zu ermitteln. (Und natürlich: Verwende dazu niemals Bilder!)
„Emotionalisierung“ und „Eskalation“ der Bilder
Ironischer Weise ermöglicht Social Media jedoch gerade eine ganz eigene, tatsächlich neue „Deliberation“ der bildgestützten Behauptungen, Thesen, Forderungen, claims…: Die Medienhistorikerin Annekathrin Kohout hat kürzlich in einem Gespräch auf den Umstand hingewiesen, dass Bilder auf Social Media uns über die share– und like-Funktionen ständig dazu auffordern, auf sie zu reagieren. Einzelne Bilder verbreiten sich auf diese Weise „viral“ und werden visuelles Allgemeingut – ebenso, wie wenn sie ehemals in Life erschienen wären –, andere bleiben in einer kleinen Blase, und wieder andere verschwinden so schnell und spurlos wie Sternschnuppen. Der Vorwurf der „Eskalation“ durch „emotionalisierende“ Bilder ist dabei (von Seiten des Interviewers) schnell zur Hand. Tatsächlich aber schaffen Bilder auf Social Media gerade mit ihrer emotionalen Kraft, aber zugleich auch mit ihrer zuweilen geradezu forensischen Genauigkeit einen gemeinsam geteilten Wissensraum, in dem und aus dem heraus Politik möglich wird: Formulierungen wie „seit den Bildern von Butscha“ oder „seit die Welt die Zerstörungen in Mariupol gesehen hat“ in der Rede von Politiker:innen oder medialen Meinungsmacher:innen beweisen diesen Punkt. Die Ambivalenz der Bilder ist damit zwar nicht aufgehoben, aus keinem einzigen Bild allein lässt sich die „richtige“ Politik ableiten. Aber es wäre mindestens naiv, dies als bloße „Emotionalisierung“ und „Eskalation“ abzutun. Oder genauer noch: Hinter einer solchen Rede verbirgt sich wohl der Versuch, den Horror dieser Bilder zu verdrängen. Nicht mehr die Verbrechen erscheinen dann als „Eskalation“, sondern die Bilder, die sie dokumentieren.

Foto: Nick Út, 1972; Quelle: welt.de

Foto: Eddie Adams, 1968; Quelle: stern.de
Dazu kommt eine weitere Beobachtung. Westliche Bildagenturen und Zeitungsredaktionen waren schon immer – vielleicht außer während des Vietnam-Krieges – sehr zurückhaltend damit, „eigene“ Verwundete und Tote zu zeigen, während die „Anderen“, wie auch Sontag notiert, in ihrer ganzen Verletztheit ins Bild gesetzt werden konnten – selbst dann, wenn das Bild Mitgefühl erzeugen sollte. Das vielleicht berühmteste Beispiel dafür ist das dramatische Foto des von Napalm verletzten nackten Mädchens, dessen Name Kim Phúc erst später bekannt wurde. Das Bild emotionalisiert, natürlich zu Recht, aber der Unterschied zur heutigem Medienpraxis ist dennoch frappant: Die Nacktheit dieses neunjährigen Kindes wurde in keiner Weise „gepixelt“ oder hinter einem Flecken Milchglas verborgen. Dasselbe gilt für das ebenso ikonische Foto der Erschießung von Nguyễn Văn Lém, einem Mitglied der südvietnamesischen Guerilla, durch Nguyễn Ngọc Loan, General und Polizeichef von Saigon: Die Leica (oder Nikon) des Fotografen war nur zwei drei Schritte weiter vom Hingerichteten entfernt wie die Pistole des Generals, und sie „schoss“ im selben Moment. Man sieht’s.

Quelle: @nexta_tv/Twitter
Wer heute von einer „Eskalation“ der Bilder spricht, sollte das im Blick behalten: Wenn der Eindruck nicht täuscht, gehen Social Media-Nutzer sowohl als Produzent:innen wie als Konsument:innen, aber auch TV-Stationen in ihren Reportagen, die auf YouTube zu sehen sind, in der Regel zurückhaltender, wenn nicht gar bewusster mit Bildern um. Dass Bilder „triggern“ oder „retraumatisieren“ können, ist eine wohl zu Recht verbreitete Ansicht, und Twitter stellt die Möglichkeit zur Verfügung, Bilder hinter Milchglas zu verbergen und mit einer Warnung vor „graphic content“ zu versehen. Damit ist den User:innen die Entscheidung überlassen, ob sie sie betrachten wollen oder nicht. Ich tue es meist nicht. Aber ich weiß, dass diese Bilder notwendig sind, um die Leiden anderer zu dokumentieren.
Drohnen, Smartphones und 360°-Bilder
Die eigentliche medientechnische Innovation – oder Revolution – jedoch geht weit über das Anliegen von Sontags Essays und auch über die Möglichkeiten dieser kurzen Überlegungen hinaus. Bilder im Sinne von Visualisierungstechnologien gehören zwar nicht erst seit gestern zu Instrumenten der Kriegsführung, aber der Medienverbund von hochauflösenden Kameras in Satelliten, Drohnen, Geolokalisation, Social Media, Smartphones und Lenkwaffen scheint dennoch ein Paradigma-Shift der Kriegsführung darzustellen – und zugleich auch, als Techniken in der Hand privater und öffentlicher Investigatoren wie etwa Forensic Architecture oder Bellingcat, ein Instrument der Aufklärung. Im Raum des öffentlichen Sehens, oder eben: in meiner Timeline, erzeugen die Bilder, die aus diesen beiden miteinander vernetzten Medienverbünden heraus allgemein zugänglich werden, eine Präsenz der Kriegsführung und eine Präzision der militärischen Beobachtung, die der Präsenz der Bilder des Leidens gleichkommt.

Quelle: @360war_in_ua/Twitter
Die Wirkung von Bildern explodierender Schiffe aus der Perspektive der angreifenden Drohne oder der Zerstörung von Panzern ist enorm. Auch wenn es grundsätzlich immer richtig ist, angesichts aller Bilder vom Krieg zur Skepsis zu mahnen, ihren Wahrheitsgehalt und ihre Quelle so gut wie möglich zu prüfen, wäre es falsch zu behaupten, dass ich die Fotos und Videos russischer militärischer Verluste oder umgekehrt der zerstörten ukrainischen Städte „distanziert“ betrachte. Daher endet dieser Text auch nicht mit einem noch besseren Argument, sondern mit einer Medienempfehlung: die Webseite 360war.in.ua mit nach oben und unten schwenkbaren, gestochen scharfen 360°-Panoramaaufnahmen dem Erdboden gleichgemachter Kleinstädte und Dörfer westlich von Kiyv. Was soll man sagen? Wer Augen hat, der sehe.