Alice Schwarzer weiss es genau: „In diesem Kulturkreis ist seit exakt 1979 die Hölle los.“ Sie bezog sich auf die Islamische Revolution im Iran in den Jahren 1978/79, als der Schah von Persien durch einen schiitisch motivierten Volks- und Kleriker-Aufstand gestürzt und im März 1979 eine Islamische Republik errichtet wurde. Mit Hilfe von Verbündeten wie Pakistan und Saudi-Arabien (!) habe der Iran seit diesen Tagen „einen Feldzug bis hin in das Herz von Europa und sogar nach Amerika“ initiiert, sagte Schwarzer laut der Zeitung Die Welt nach den Ereignissen von #Koelnhbf in einer ZDF-Talkshow.
Man hört sie derzeit oft, die Rede vom ‚Kulturkreis‘. Einer repräsentativen N24-Emnid-Umfrage zur Flüchtlingsdiskussion vom 15. Januar zufolge glaubt eine Mehrheit der Befragten, dass der „Kulturkreis der Täter eine Rolle bei sexuellen Übergriffen spielt“. Ähnliches liest man auch in Deutschschweizer Medien: „Sie kommen aus einem völlig anderen Kulturkreis – und wir dachten, wir könnten sie einfach so integrieren“, zitiert der Blick eine Sexualtherapeutin. Die Pendlerzeitung 20Minuten fragte ihre Leserinnen: „Kommen Sie ursprünglich aus diesem Kulturkreis und können uns einen Einblick in die Welt dieser Männer geben? Schreiben sie uns!“ Fremde Männer aus einer fernen, abgeschlossenen Welt, in die nur Insider Einblick haben können – wer von ‚anderen Kulturkreisen‘ spricht, scheint zu wissen, dass diese mit den Sitten und Gebräuchen in ‚unserem Kulturkreis‘ nichts zu tun haben. Bestenfalls könnte es gelingen, jenen, die von ‚dort‘ zu ‚uns‘ kommen, begreiflich zu machen, dass Anpassung an ‚unsere Gesetze‘, Anerkennung ‚unserer Werte‘ und die Änderung ‚ihres Verhaltens‘ verlangt ist.

‚Kulturkreis‘ Ostafrika? Bild: phs
Stellen wir die Frage, ob eine solche Annahme berechtigt ist, kurz zurück und fragen zuerst, was eigentlich so ein ‚Kulturkreis‘ ist. Wenn man von den vielen Kulturkreisen absieht, die in Kleinstädten und Dörfern kulturelle Veranstaltungen organisieren – oder gar Deutschkurse für Flüchtlinge –, dann lässt sich der Begriff auf das frühe 19. Jahrhundert zurückführen, als er einerseits als selten verwendetes Synonym für „europäische Zivilisation“ auftauchte, und andrerseits, ebenso selten, als Synonym für die Kultur einer Menschheitsgruppe, eines ‚Volkes‘ oder einer Region. Letztere Bedeutung überwog, und der Begriff wurde Ende des 19. Jahrhunderts schon häufiger benutzt. Besonders der Ethnologe Leo Frobenius (1873-1938) wollte mit ihm die Kunst Afrikas erschliessen, lehnte den Begriff später aber als zu „mechanistisch“ ab.
Es war der Historiker und Ethnologe Fritz Gräbner (1877-1934), der in seiner Methode der Ethnologie (1911) eine „Kulturkreislehre“ entfaltete, die die verschiedenen Kulturen der Welt sowie den Wandel von Kulturen mit ‚Rassen‘ und ‚Rassenmischung‘ in Verbindung brachte. Karriere machte die Rede vom ‚Kulturkreis‘ als Differenzformel erstmals während des Ersten Weltkriegs, dann in kontinuierlicher Progression während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus (ohne allerdings im engeren Sinne Nazi-Jargon zu sein). Das all time high seiner Verwendung fand der ‚Kulturkreis‘ im Jahr 1950, als im Kontext des frühen Kalten Krieges auch die Rede vom ‚Abendland‘ so lautstark wie nie zuvor die Angst vor dem bedrohlichen ‚Osten‘ bezeichnete.
Die heutige Ethnologie lehnt den Begriff ‚Kulturkreis‘ wegen seiner Verbindung mit dem schwer kontaminierten Konzept ‚Rasse‘ durchweg ab, ebenso die Geschichtswissenschaft. Dennoch taucht er im Feuilleton und in der politischen Sprache seit den 1980er Jahren bis heute immer häufiger auf. Einen ersten Sprung nach oben verzeichnet die Wort-Statistik im Jahr 1980, das heißt nach der Iranischen Revolution im März und der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979, als angeblich auch in unserem „Kulturkreis die Hölle los“ war. Doch auch ohne die Sprache von Frau Schwarzer zu bemühen: Es scheint tatsächlich so zu sein, dass „seit 1979“ die semantischen Abgrenzungsgesten des Westens nicht nur gegenüber dem sozialistischen Osten, sondern neu auch gegenüber der islamischen Welt langsam aber stetig die Intensität und das ideologische Konflikt-Niveau des frühen Kalten Krieges erreichen.
Die Rede vom ‚Kulturkreis‘ suggeriert angebliche Geschlossenheit und Kohärenz, ja ungebrochene ‚Identität‘ der ‚eigenen‘ wie der ‚fremden‘ Kultur. Sie legt damit aber auch Vorstellungen von Differenz und Abgrenzung nahe – und folglich des Konflikts. Berühmt wurde diese Sichtweise durch den amerikanischen Politologen Samuel Huntington, der mit „civilizations“ das meinte, was Fritz Gräbner als „Kulturkreis“ bezeichnet hatte – und was in der deutschen Ausgabe seines berühmten Buches Clash of Civilizations (1996) auch meist als „Kulturkreis“ übersetzt wurde. Nach dem Ende des Kalten Krieges, in welchem zwei moderne Ideologien und Gesellschaftsentwürfe einander gegenüberstanden (‚Kapitalismus‘ vs. ‚Kommunismus‘), postulierte Huntington in Anlehnung an ältere angelsächsische civilizations-Konzepte nicht nur, dass die künftigen Weltkonflikte von religiösen Triebkräften genährt würden. Vor allem behauptete er, dass dadurch ganze civilizations miteinander in Konflikt gerieten – und zwar beinahe unweigerlich. Huntington unterschied sieben bis acht ‚Kulturkreise‘, prognostizierte künftige Konflikte aber in erster Linie zwischen „the west and the rest“. Das bedeute für den ‚Westen‘, dass er sich auf eine „mulitpolare“ Welt einzustellen habe, in der er nicht mehr dominieren oder Dominanz anstreben könne, sondern vielmehr um seine eigene ‚Identität‘ und seine Grenzen, ja seine Existenz kämpfen müsse:
Das Überleben des Westens hängt davon ab, dass die Amerikaner ihre westliche Identität bekräftigen und die Westler sich damit abfinden, dass ihre Kultur einzigartig, aber nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneuern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften zu schützen. –Samuel Huntington
An den Pegida-Demonstrationen und in den rassistischen tweets nach #Koelnhbf klingt es zwar weniger gelehrt, aber nicht grundsätzlich anders. Huntington ist zurück – obwohl die Kritik an der Huntington-These sowohl in der Politologie als auch von anderen Sozial- und Kulturwissenschaften schon bald und gründlich geleistet wurde. Zudem haben, zum Beispiel, Illja Trojanow und Ranjit Hoskoté vor einigen Jahren schon in ihrem schönen, leicht lesbaren Buch Kampfabsage (2007) zum „Zusammenfluss der Kulturen“ an unzähligen Beispielen gezeigt, wie sehr die abendländische Kultur seit jeher vom Islam gelernt, von ihm Sprachformen, Ideen und Bilder übernommen und durch den Austausch mit ihm bereichert wurde. Zum Beispiel beim Fussballspiel, wenn die Fans Olé… Olé Olé Olé singen…:
Die meisten Fans bringen den Schlachtgesang wahrscheinlich mit Spanien in Verbindung, assoziieren damit Toreros oder Don Juan. Welcher Hooligan weiss schon, dass der Schlachtruf, mit dem sich die Fans gegenseitig aufpeitschen, das arabische Wort für Gott ist? Die Fussballstadien Europas hallen wider von ‚Allah!‘-Rufen. –Illja Trojanow/Ranjit Hoskoté
Wie schön, wenn solches Wissen Allgemeingut wäre, es würde zur augenzwinkernden gegenseitigen Freundlichkeit beitragen! Stattdessen halten sich die Huntington-These und die Rede vom ‚Kulturkreis‘ zäh und scheinen in jüngster Zeit gar noch stärkeren Auftrieb zu erhalten.
Was also ist falsch an der Vorstellung von ‚Kulturkreisen‘? Zuallererst stiftet jede Rede von ‚Kulturkreisen‘ imaginäre, künstliche Einheiten in einer Welt voller komplexer Verhältnisse, Widersprüche und Differenzen. Huntington nannte zum Beispiel „Afrika“ südlich der Sahara einen Kulturkreis – als ob Afrika vom Kap bis Burkina Faso und von Dakar bis Nairobi eine ‚Einheit‘ bilden würde! Nach #Koelnhbf war die Rede vom „nordafrikanischen Kulturkreis“ – bzw. vom „arabischen“, oder, ganz nach Belieben, auch vom „muslimischen“ – letzterer würde, über den Daumen gepeilt, von Marokko bis nach Indonesien reichen, ein wahrhaft eindrücklicher ‚Kulturkreis‘! Offenkundig bilden sich imaginäre ‚Kulturkreise‘ immer gerade dort, wo man sie haben möchte, und diejenigen, die andere einem ‚Kulturkreis‘ zuordnen können, spielen ihre diskursive Macht aus: Wir wissen, woher ihr kommt!
Doch nicht nur das: ‚Kulturkreise‘ haben auch keine Geschichte, sondern sind durch kulturelle Invarianten definiert, allen voran die Religion oder die ‚Kultur‘ als solche, was auch immer das sein mag. Wer von ‚Kulturkreisen’ spricht, schliesst tendenziell Wandel aus und fixiert ihre ‚Angehörigen’ auf feststehende Eigenheiten: Arabische Männer sind so, und wir wissen, dass sie schon immer so gewesen sind… Damit aber werden nicht nur geographische Räume vereinheitlicht und enthistorisiert, sondern auch Politik, Religionen und Kulturen. Der ‚Kulturkreis‘ scheint der Ort einheitlicher oder zumindest sehr ähnlicher, jeweils ‚typischer‘ Formen des Regierens, des Glaubens, des Denken und Handelns zu sein. Eine solche Annahme war noch nie richtig – was Menschen glauben, denken und tun, wurde buchstäblich seit den frühesten Wanderungsbewegungen out of Africa durch Migration, Handel, Hybridisierungen und die Weitergabe von Wissen geprägt –, aber sie ist unter heutigen globalisierten Medien- und Transportbedingungen noch nie so falsch gewesen.
Um nur kurz bei der Kölner Silvesternacht zu bleiben: Durch welche ‚Kultur‘ war das Verhalten der jungen nordafrikanische Männer, die sich dem Vernehmen nach dort sexuelle Übergriffe zu Schulden kommen liessen, mutmasslich mehr beeinflusst – durch das ‚islamische Patriarchat‘ oder durch die Produkte der westlichen Pornoindustrie, die auf jedem Smartphone zugänglich sind? Schwer zu sagen – sicher ist nur, dass das Verhalten dieser jungen Männer keine in sich geschlossene ‚Kultur‘, gar in ihrer uns vollkommen ‚fremden‘ Reinform reflektiert, sondern immer schon eine Form des Zusammenfliessens der Kulturen. Die Beispiele liessen sich mehren.
Fraglos gibt es auf der Welt nicht zu zählende Unterschiede, Vielfalt und Differenzen, angefangen bei den Verschiedenheiten von Sprachen und kulturellen Ausdrucksformen über unterschiedliche Glaubenssysteme, Werte und moralischen Normen bis hin zur Vielfalt politischer Systeme, ökonomischer Lagen oder von Graden der Technologisierung. Und nicht immer passt überall alles zusammen – es wäre naiv, Konflikte zu leugnen, die aus solchen Verschiedenheiten entstehen können (es gibt natürlich junge Männer, vielleicht aus Tunesien, deren Verhalten strafbar ist und sanktioniert werden muss). Aber das liegt nicht ‚am Kulturkreis‘. Wer von ‚Kulturkreisen‘ spricht, falzt alle diese Differenzen über einen einzigen Leisten und klebt sie unauflöslich zu einer fiktiven, konstruierten Einheit zusammen, die mit der Realität dieser Menschen nichts zu tun hat. Er gaukelt sich eine wirklichkeitsferne Welt ohne Wandel und ohne Austausch vor, eine Welt ohne Vermischung von Kulturen.
Eine so vorgestellte Welt aber ist anfällig für Rassismus. Zwar ist dessen ältere biologisierende Form, d.h. das Identifizieren des ‚Wesens‘ der ‚Anderen‘ über Schädelformen und Hautfarben, unterdessen ad acta gelegt geworden (um allerdings zuweilen als „Referenzgruppe“ für DNA-Analysen wieder aufzutauchen, aber das ist eine andere Geschichte). Vor allem jedoch sind bei den häufigsten Formen des heutigen Rassismus an die Stelle biologischer Eigenschaften die gegen Veränderung abgeschotteten Formen der ‚Kultur‘ der ‚Anderen‘ getreten, an welchen sich, wiederum, ihr angebliches ‚Wesen‘ erkennen lasse. Das passt gut mit jener Scheintoleranz zusammen, wie sie sich schon bei Huntington findet: Jeder ‚Kulturkreis‘ hat demnach seine Berechtigung; man soll nur nicht versuchen, ‚Kulturkreise‘ zu vermischen. Diese Form des ‚Kulturalismus‘ und der scheinbaren ‚Toleranz‘ aber folgt der Logik der Segregation: Die Kluft zwischen ‚uns‘ und den ‚Anderen‘ erscheint ihr als unüberwindlich. Mehr noch: Sie ist eine Waffe, um die Zäsur durchzusetzen.