Der Medizinhistoriker Mark Honigsbaum spricht von einem „Jahrhundert der Pandemien“, das sich von der Spanischen Grippe 1918 bis in unsere Corona-bedingte Gegenwart zieht. Im Gespräch mit Philipp Sarasin erklärt er, warum wir uns immer nur auf die eben erst vergangene Pandemie vorbreiten.

  • Mark Honigsbaum

    Mark Honigsbaum ist Medizinhistoriker und Journalist und hat sich auf die Geschichte und Wissenschaft von Infektionskrankheiten spezialisiert. Er schreibt regelmäßig für The Lancet und ist Autor von fünf Büchern, darunter "Living With Enza: The Forgotten Story of Britain and the Great Flu Pandemic of 1918" (2008). Sein jüngstes Buch, "The Pandemic Century: One Hundred Years of Panic, Hysteria, and Hubris" (2019) wurde von der Financial Times als "health book of the year" und von der New York Times als "Editor's Pick" ausgezeichnet. Derzeit ist er Senior Lecturer für Journalismus an der City, University of London.
  • Philipp Sarasin

    Philipp Sarasin lehrte Geschichte der Neu­zeit an der Universität Zürich. Er publizierte kürzlich "1977. Eine kurze Geschiche der Gegenwart" (Suhrkamp 2021) und ist Heraus­geber von Geschichte der Gegenwart.

Philipp Sarasin: Mark Honig­sbaum, Sie spre­chen für die Zeit seit der Spani­schen Grippe 1918 und bis heute vom „Jahr­hun­dert der Pande­mien“. Man könnte dabei in gleichsam moderner Über­heb­lich­keit ein wenig stutzen: Waren denn nicht vor allem die Gesell­schaften des 18. und 19. Jahr­hun­dert von Pocken- und Cholera-Epidemien erschüt­tert worden, vom „Schwarzen Tod“ im 14. Jahr­hun­dert ganz zu schweigen? Hat denn die moderne Medizin die epide­mi­schen Krank­heiten nicht eher zurück­ge­drängt? Mit anderen Worten, was macht dieses letzte Jahr­hun­dert bis heute so besonders?

Mark Honig­sbaum: Vielen Dank für Ihre Frage. Natür­lich sind Epide­mien und Pande­mien in der gesamten Mensch­heits­ge­schichte aufge­treten, auch im 18. und 19. Jahr­hun­dert im Zeit­alter von Pocken, Pest und Cholera. Der Unter­schied besteht darin, dass sich Krank­heits­er­reger mit pande­mi­schem Poten­zial in der frühen Neuzeit und bis zur indus­tri­ellen Revo­lu­tion und dem Aufkommen dampf­ge­trie­bener Maschinen in einem recht gemäch­li­chen Tempo zwischen den Konti­nenten bewegten. In den 1880er Jahren begann sich dies dank schnel­lerer und weit­rei­chen­derer Eisen­bahn­netze und der Einfüh­rung von Ozean­damp­fern zu ändern. In Verbin­dung mit der Auswei­tung des welt­weiten Handels und Reise­ver­kehrs und anderen „globa­li­sie­renden“ Kräften im 20. und 21. Jahr­hun­dert hat dies dazu geführt, dass die Welt weitaus stärker vernetzt ist als in der Vergan­gen­heit und auch aus epide­mio­lo­gi­scher und immu­no­lo­gi­scher Sicht sehr viel kleiner geworden ist. Dieser Prozess zeich­nete sich bereits in den 1880er Jahren ab, als sich die Pest von China nach Hong­kong und Nord­ame­rika ausbrei­tete (Dritte Pest­pan­demie) und 1889/90, als beob­achtet wurde, dass sich die so genannte „Russi­sche Grippe“ inner­halb weniger Wochen von St. Peters­burg und anderen euro­päi­schen Haupt­städten nach New York ausbrei­tete. Doch erst der Erste Welt­krieg und die beispiel­lose Bewe­gung von Menschen, Muni­tion und Tieren (vor allem Pferden) zwischen Nord­ame­rika und Europa sowie der welt­weite Ausbruch der „Spani­schen Grippe“ in mehreren inter­na­tio­nalen Städten gleich­zeitig machten diese neuen globalen epide­mio­lo­gi­schen und immu­no­lo­gi­schen Reali­täten deut­lich, auch wenn dies erst im Nach­hinein erkannt wurde.

PhS: In Ihrem Buch erwähnen Sie auch die Medien…

MH: Ja, der andere Grund für meine Datie­rung des „Jahr­hun­derts der Pande­mien“ auf die Zeit ab 1918 ist, dass die Spani­sche Grippe mit dem rasanten Wachstum der Zeitungen und der inter­na­tio­nalen tele­gra­fi­schen Kommu­ni­ka­tion zusam­men­fiel. Denn das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte Infor­ma­tionen über neue Krank­heits­aus­brüche an die einhei­mi­sche Bevöl­ke­rung weiter­ge­geben werden konnten, noch bevor die Erreger selbst eintrafen. Genau genommen war die erste Pandemie, bei der diese neuen Medi­en­tech­no­lo­gien eine bedeu­tende soziale und kultu­relle Rolle spielten, die russi­sche Grip­pe­pan­demie von 1889-92, die auf die Verle­gung des trans­at­lan­ti­schen Tele­gra­fen­ka­bels zwischen den Verei­nigten Staaten und England folgte und mit dem Boom billiger, massen­haft verbrei­teter Zeitungen und der raschen Expan­sion von Reuters und anderen Nach­rich­ten­agen­turen zusam­men­fiel, die die neuesten tele­gra­fi­schen Kommu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien nutzten. Das Ergebnis ist eine neue, moderne gesell­schaft­liche Realität, in der sich Infor­ma­tionen über neue Krank­heits­er­reger schneller verbreiten als die Viren selbst, wodurch biopo­li­ti­sche Diskurse und die Fähig­keit, Pande­mien mit ratio­nalen wissen­schaft­li­chen Methoden zu bewäl­tigen, gestört werden.

PhS: Sie schil­dern nicht einfach „alle“ epi- oder pande­mi­schen Ereig­nisse des vergan­genen Jahr­hun­derts, sondern analy­sieren in zehn Fall­stu­dien exem­pla­ri­sche Ausbrüche von Infek­ti­ons­krank­heiten, von der Spani­schen Grippe bis zur gegen­wär­tigen SARS-CoV 2-Pandemie. Ihr gemein­samer Nenner ist viel­leicht jeweils deren Neuheit, ihr neuar­tiges Auftreten als „emer­ging disease“ – mit der Ausnahme natür­lich der Pest, die 1924 in Los Angeles ausbrach. 

MH: Wie ich schon ange­deutet habe, sind im Laufe der Geschichte immer wieder neue Krank­heiten aufge­treten, aber erst im späten zwan­zigsten Jahr­hun­dert haben wir begonnen, den Begriff „emer­ging infec­tious dise­ases“ (EIDS) – neu auftre­tenden Infek­ti­ons­krank­heiten – zu verwenden, um das Auftau­chen neuar­tiger Krank­heits­er­reger mit epide­mi­schem und/oder pande­mi­schem Poten­zial zu beschreiben. Der Begriff steht in engem Zusam­men­hang mit der Arbeit des Bakte­ri­en­ge­ne­ti­kers Joshua Leder­berg und des Viro­logen Steven Morse sowie mit einem einfluss­rei­chen Bericht des ameri­ka­ni­schen Insti­tute of Medi­cine aus dem Jahr 1992, in dem EIDS als bisher unbe­kannte Erkran­kungen mensch­li­cher Popu­la­tionen defi­niert werden, deren „Auftreten auf die Einfüh­rung eines neuen Erre­gers, auf das Erkennen einer bestehenden Krank­heit, die unent­deckt geblieben ist, oder auf eine Verän­de­rung in der Umwelt, die eine epide­mio­lo­gi­sche ‚Brücke‘ bildet, zurück­zu­führen sein kann.“

Der Begriff „emer­ging dise­ases“ findet sich in der medi­zi­ni­schen Fach­li­te­ratur jedoch schon seit den 1960er Jahren, und ich würde behaupten, dass das Konzept auf den Einfluss zurück­ge­führt werden kann, den Ideen zur Ökologie von Krank­heiten an der Wende zum zwan­zigsten Jahr­hun­dert auf die bakte­rio­lo­gi­sche Epide­mio­logie ausgeübt haben. Diese Ideen findet sich dann in den Schriften von Theo­bald Smith, Karl Fried­rich Meyer, Charles Nicolle und dem in Frank­reich gebo­renen Rockefeller-Forscher René Dubos, dessen Buch The Bacte­rial Cell einen enormen Einfluss auf Leder­berg hatte. Unab­hängig davon, ob diese Visionen in einer explizit ökolo­gi­schen Sprache formu­liert waren oder nicht, handelte es sich um eine Sicht­weise, die dazu neigte, Krank­heiten als das Ergebnis vorüber­ge­hender biolo­gi­scher Ungleich­ge­wichte und eine Störung des natür­li­chen Gleich­ge­wichts zu betrachten, und nicht als etwas, das nach dem bakte­rio­lo­gi­schen Para­digma „ein Keim, eine Kur“ ausge­rottet werden könnte oder sollte. Und es war eine Vision, die sowohl die Rolle sozialer Faktoren als auch darwi­nis­ti­sche Perspek­tiven berück­sich­tigte und bereit war, lange evolu­tio­näre Zeit­räume in Kauf zu nehmen.

PhS: Ich möchte auf die Frage des natür­li­chen Gleich­ge­wichts später noch­mals zurück­kommen. Aber zunächst einmal: Wurde der Kampf gegen Infek­ti­ons­krank­heiten im 20. Jahr­hun­dert nicht vom Para­digma der „Ausrot­tung“ beherrscht, zum Beispiel bei der Ausrot­tung der Pocken im Jahr 1978?

MH: Ja, der „Traum“ von der Ausrot­tung, wie ich das gerne nenne, lässt sich bis zu den Anfängen der Bakte­rio­logie in den 1880er Jahren zurück­ver­folgen und hat sich als sehr wirksam erwiesen, wenn es darum ging, Gelder für die medi­zi­ni­sche Forschung frei­zu­ma­chen und poli­ti­sche Agenden zu gestalten, insbe­son­dere im Bereich der globalen Gesund­heit. Doch neben solchen Perspek­tiven gab es immer auch andere Ideen und Ansätze – Ansätze, die die Rolle sozialer und ökolo­gi­scher Bedin­gungen bei der Entste­hung und dem Wieder­auf­treten von Krank­heits­er­re­gern und der durch sie verur­sachten Morbi­dität und Morta­lität betonten. In der Tat lässt sich eine direkte Linie von den Ideen des deut­schen Arztes Rudolph Virchow, der die Medizin in erster Linie als Sozi­al­wis­sen­schaft betrach­tete, zu Denkern wie René Dubos ziehen, der in den 1950er Jahren argu­men­tierte, dass die völlige Frei­heit von Krank­heiten eine „Fata Morgana“ sei und dass „die Natur zu einem unvor­her­seh­baren Zeit­punkt und auf eine unvor­her­seh­bare Weise zurück­schlagen wird“.

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In den 1950er Jahren wurden jedoch die ökolo­gi­schen Ideen von Dubos, das heißt seine Vorstel­lung von unserer grund­le­genden Verbin­dung zur Natur und von der „Symbiose von Erde und Mensch“, wie er sagte, im angst­ge­trie­benen Klima des Kalten Krieges verdrängt. Das war die Angst vor Biowaffen, aber auch die Angst vor Krank­heiten wie Malaria und Pocken, die ständig drohten, „wieder aufzu­tau­chen“ und deren Ausrot­tung man anstrengte. Führend dabei waren Persön­lich­keiten wie Alex­ander Lang­muir, der das Ausrot­tungs­pa­ra­digma als Mittel zur Durch­set­zung der Auto­rität der US Centers for Disease Control (CDC) bei der Über­wa­chung und Kontrolle von Krank­heiten benutzte. Das Ergebnis war, dass die Biosi­cher­heits­dis­kurse in den 1970er Jahren und im Zuge der welt­weiten Kampagne zur Ausrot­tung der Pocken, die von der CDC und der WHO ange­führt wurde, die krank­heits­öko­lo­gi­schen Ideen mehr oder weniger aus dem medi­zi­ni­schen Main­stream verdrängt hatten.

Eine der Konse­quenzen daraus war, dass zuneh­mend Miss­trauen gegen­über den Ausrot­tungs­stra­te­gien führender biome­di­zi­ni­scher Forschungs­or­ga­ni­sa­tionen wie der Gates Foun­da­tion gesät wurde. Und das Ergebnis können wir heute in den pola­ri­sierten Debatten über den Ursprung von SARS-CoV-2 und der Behaup­tung sehen, das Virus sei das Produkt eines Labor­ex­pe­ri­ments, oder in Verschwö­rungs­theo­rien, die behaupten, dass Impf­stoffe Teil eines 5G-Komplotts sind, um die Bevöl­ke­rung der west­li­chen Demo­kra­tien zu versklaven. Die Tragödie besteht darin, dass wir genau zu dem Zeit­punkt, an dem wir tiefe, ökolo­gi­sche Einblicke in die Ursprünge und die Über­tra­gung von EIDS auf mensch­liche Popu­la­tionen gewinnen und die chine­si­schen Bemü­hungen zur Iden­ti­fi­zie­rung der tieri­schen Zwischen­wirte von SARS-CoV-2 unter­stützen sollten, durch solche Meinungs­ver­schie­den­heiten gelähmt sind.

PhS: Vor diesem Hinter­grund: Wie erkennen Wissen­schaftler eigent­lich etwas Neues, nämlich eine neu auftre­tende Krank­heit, die wahr­schein­lich noch völlig außer­halb ihres Wissens, außer­halb ihrer Art der Analyse solcher Bedro­hungen liegt?

MH: Meines Erach­tens wird das wissen­schaft­liche Wissen über neu auftre­tende Krank­heits­er­reger weit­ge­hend durch unsere bishe­rigen Erfah­rungen bestimmt. Im Grunde genommen bereiten wir uns immer auf die Bekämp­fung der gerade vergan­genen Pandemie vor. Diese Erfah­rung prägt nicht nur unser Denken über die Faktoren und Bedin­gungen, die für das Auftreten von Krank­heits­er­re­gern verant­wort­lich sind, sondern auch die Labor­tech­no­lo­gien, die uns zur Verfü­gung stehen, um unsere Hypo­thesen zu testen. Deshalb ist es so schwierig, die nächste Epidemie oder Pandemie im Voraus zu erkennen oder diese neuen Erreger recht­zeitig zu iden­ti­fi­zieren, wenn sie einmal aufge­treten sind. Am deut­lichsten wurde dies 1976, als es wieder­holt nicht gelang, den bakte­ri­ellen Erreger der Legio­närs­krank­heit zu iden­ti­fi­zieren, oder 2002, als man fälsch­li­cher­weise annahm, dass die als SARS bekannt gewor­dene Krank­heit auf ein Vogel­grip­pe­virus zurück­zu­führen sei. Letzt­end­lich mussten Mikro­bio­logen über den Teller­rand schauen, um diese Rätsel durch Versuch und Irrtum zu lösen.

In der medi­zi­ni­schen Forschung gibt es ein altes Sprich­wort, das gewöhn­lich Pasteur zuge­schrieben wird: „Das Glück begüns­tigt den vorbe­rei­teten Geist“. Doch bei jedem Beispiel in meinem Buch, mit Ausnahme von HIV/AIDS und in gerin­gerem Maße der Pest in Los Angeles im Jahr 1924, zeige ich, dass Wissenschaftler:innen gerade dann, wenn sie nicht in den übli­chen Denk­pro­zessen geschult oder Neulinge auf einem bestimmten, spezia­li­sierten Gebiet der Mikro­bio­logie sind, eher dazu neigen, zufäl­lige Beob­ach­tungen zur Kenntnis zu nehmen und sie für bedeutsam zu halten. Mit anderen Worten, im Falle von Pande­mien „ist das Glück dem unvor­be­rei­teten Geist hold“. Deshalb ist es für Wissenschaftler:innen und andere Expert:innen so wichtig, sich vor Hybris zu hüten und das zu kulti­vieren, was Dubos als „Wach­sam­keit gegen­über dem Uner­war­teten“ bezeichnete.

PhS: Im Grunde kann man an diesen Beispielen ja auch sehr gut sehen, wie Wissen­schaft über­haupt funk­tio­niert, nicht? Das ist meines Erach­tens eine der wich­tigsten Einsichten, die man aus Ihrem Buch gewinnen kann: Es gibt nicht einfach „die“ Wissen­schaft, die „gesi­cherte“ Erkennt­nisse hat, sondern ganz im Gegen­teil, sie ist nur die beste Form unseres Nicht-Wissens, unserer Suche nach Wissen…

MH: Ganz genau. Genau aus diesem Grund war es unsinnig, wenn Politiker:innen davon spra­chen, „der Wissen­schaft zu folgen“, als ob die Wissen­schaft fest­stünde oder es eine einzige wissen­schaft­liche Auto­rität gäbe, der wir folgen sollten. SARS-Cov-2, das Coro­na­virus, das Covid-19 verur­sacht, ist ein klas­si­sches Beispiel. Obwohl Coro­na­viren für ein Drittel aller Erkäl­tungs­krank­heiten verant­wort­lich sind und seit langem bekannt ist, dass sie Krank­heiten bei Rindern und anderen Tieren verur­sa­chen, ging man bis zum Auftreten von SARS 1 im Jahr 2002 nicht davon aus, dass Coro­na­viren eine epide­mi­sche Bedro­hung – geschweige denn eine Pandemie – für den Menschen darstellen. Um die vom ameri­ka­ni­schen Vertei­di­gungs­mi­nister Donald Rums­feld nach den Terror­an­schlägen auf das World Trade Center einge­führte Termi­no­logie zu über­nehmen, war SARS 1 ein „unbe­kannter Unbe­kannter“. Im Gegen­satz dazu könnte man sagen, dass SARS 2 eine „bekannte Unbe­kannte“ war – und genau deshalb waren die Viro­logen so darauf bedacht, das gesamte Wirts­spek­trum des Virus in der Natur zu unter­su­chen, um andere SARS-ähnliche Viren zu finden, bevor sie auf den Menschen über­greifen und ihn infi­zieren könnten. Leider gibt es selbst jetzt, drei Jahre nach der Coronavirus-Pandemie, kaum einen Konsens darüber, inwie­weit die Gene­sung von der Infek­tion vor weiteren Angriffen und Erkran­kungen schützt oder ob es weiterhin neue Vari­anten geben wird, die sich der derzeit durch Impf­stoffe gebo­tenen Immu­nität entziehen können. Auch können wir im Januar 2022 noch nicht sagen, ob das Coro­na­virus wahr­schein­lich an Viru­lenz verliert und sich zu einer ende­mi­schen Infek­tion entwi­ckelt, ähnlich wie bei der saiso­nalen Grippe.

PhS: Es ist ganz beson­ders inter­es­sant, dass Sie die Arbeit der Wissenschaftler:innen, die unter dem Hand­lungs­druck eines drama­ti­schen Infek­ti­ons­aus­bruchs neue Patho­gene erfor­schen, eng mit popu­lärem Wissen und Wahr­neh­mungen und mit dem medialen Umfeld verbinden. Wissen­schaft findet mit anderen Worten nicht in einem luft­leeren Raum statt – aber auch Infek­ti­ons­aus­brüche werden natür­lich intensiv von medialen Prozessen begleitet oder gar geformt. Kurz gefragt: Welche Rolle spielen die Medien bei einem Ausbruch einer Infektionskrankheit? 

MH: Meiner Meinung nach spielen die Medien eine zentrale Rolle bei der Über­set­zung wissen­schaft­li­cher Fach­be­griffe in den Laien­dis­kurs und bei der Förde­rung oder Unter­mi­nie­rung des öffent­li­chen Verständ­nisses von Wissen­schaft. Dies ist insbe­son­dere in Zeiten einer Pande­mie­krise der Fall, wenn es für die Öffent­lich­keit entschei­dend ist, wissen­schaft­liche Erkennt­nisse über die von neuen Krank­heits­er­re­gern ausge­henden Risiken aufzu­nehmen und ihr Verhalten anzu­passen, um die Zahl der Todes­fälle zu verrin­gern und zu verhin­dern, dass die Gesund­heits­sys­teme über­for­dert werden. Im Mittel­punkt dieses Über­set­zungs­pro­zesses steht die Meta­pher. Meta­phern sind nicht nur rheto­ri­sche Ausschmü­ckungen, sondern sie „erschaffen“ oder konsti­tu­ieren für uns soziale, kultu­relle und psycho­lo­gi­sche Reali­täten, indem sie uns auffor­dern, auf bestimmte Weise auf die Welt zu reagieren. Bei dieser Pandemie wurden wir beispiels­weise immer wieder aufge­for­dert, „die Kurve abzu­fla­chen“ oder Impf­stoffe als „Silber­ku­geln“ zu betrachten, die den „Krieg“ gegen das Virus zu einem raschen Ende bringen und die Wieder­her­stel­lung eines normalen sozialen Lebens ermög­li­chen werden. Meta­phern können zwar dazu beitragen, den sozialen Zusam­men­halt zu stärken und unser Verhalten zu lenken, aber in dem Maße, in dem sie komplexe wissen­schaft­liche und soziale Reali­täten verein­fa­chen oder verzerren, sind sie ein zwei­schnei­diges Schwert.

Die Medien sind auch eine „Sensa­ti­ons­ma­schine“, die Lücken in wissen­schaft­li­chen Erkennt­nissen vergrö­ßert und Infor­ma­tionen – und Fehl­in­for­ma­tionen – aus kommer­zi­ellen Gründen über­treibt. Am deut­lichsten war dies in den 1980er Jahren zu beob­achten, als HIV/AIDS fälsch­li­cher­weise als „Schwu­len­pest“ bezeichnet wurde, weil frühe epide­mio­lo­gi­sche Studien darauf hindeu­teten, dass Homo­se­xu­elle ein höheres Risiko hatten, sich anzu­ste­cken und die Krank­heit weiter­zu­geben. Auch während der Papageienfieber-Pandemie von 1930 und dem Ausbruch der Legio­närs­krank­heit in Phil­adel­phia im Jahr 1976 war dies der Fall. Rück­bli­ckend betrachtet war keiner der beiden Ausbrüche beson­ders schwer­wie­gend, aber beide trugen dazu bei, dass die Medien „Angst­ge­schichten“ verbrei­teten – Geschichten, die durch die Unge­wiss­heit über den mikro­biellen Erreger und die Verun­si­che­rung über die Toten unter älteren und beson­ders geach­teten Bevöl­ke­rungs­gruppen moti­viert waren. Dieser Prozess heute durch das Internet und die sozialen Medien weitaus unbe­re­chen­barer geworden.

PhS: Sie brau­chen in diesem Zusam­men­hang häufig auch das Wort „Hysterie“, das mich ein wenig erstaunt hat: Hysterie als über­trie­bene (und im Übrigen weib­lich konno­tierte) Reak­tion auf ein Ereignis oder eine Gefahr. Man könnte doch sagen: Wie soll man ange­sichts der Pest oder von Ebola nicht „hyste­risch“ werden? Und kann man gegen­wärtig nicht beob­achten, dass Viele eher nach­lässig mit der Bedro­hung durch COVID-19 umgehen, ja schlicht Corona-müde sind?

MH: Nun, es gibt aber eine gewisse Gefahr, bei der Verwen­dung von Begriffen wie „Hysterie“ oder „Angst“ und „Panik“ über­mäßig analy­tisch vorzu­gehen. Hysterie und andere Emoti­ons­be­griffe, ob nun implizit oder explizit weib­lich gegen­dert, kommen schon im Quel­len­ma­te­rial vor – wie etwa bei Paul De Kruifs Charak­te­ri­sie­rung der US-Zeitungsberichte über das Papa­gei­en­fieber als „eine unserer ameri­ka­ni­schen Hyste­rien“. De Kruif sollte es übri­gens wissen: Durch seine Beiträge für Zeit­schriften wie das Ladies Home Journal und seine popu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Schriften trug er in den 1920er und 1930er Jahren zur Verbrei­tung mehrerer „Keim­pa­niken“ (germ panics) in Amerika bei.

Natür­lich können Panik und Hysterie ange­sichts einer tödli­chen Krank­heit, die sich rasch von Mensch zu Mensch ausbreitet und für die es keine Aussicht auf Präven­tion oder Heilung gibt, durchaus ratio­nale Reak­tionen sein. Aber wie wir bei der Stig­ma­ti­sie­rung von Homo­se­xu­ellen und anderen vermeint­li­chen „Trägern“ von HIV, wie Bluter:innen und Haitianer:innen, in den 1980er Jahren gesehen haben, sind diese Emotionen eher kontra­pro­duktiv. Deshalb konzen­triere ich mich in Das Jahr­hun­dert der Pande­mien auf die Rolle des medi­zi­ni­schen Wissens und der wissen­schaft­li­chen Tech­no­lo­gien sowie auf die Rolle der Medien und des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens bei der Regu­lie­rung „ange­mes­sener“ emotio­naler Reak­tionen.

Ein gutes Beispiel für diese „Tech­no­lo­gien des Schre­ckens“ sind epide­mio­lo­gi­sche Krank­heits­mo­delle, die versu­chen, die Vermeh­rungs­rate des Coro­na­virus zu verfolgen und die wahr­schein­li­chen Auswir­kungen auf Kran­ken­haus­auf­ent­halte und Todes­fälle vorher­zu­sagen. Hätte beispiels­weise das Impe­rial College Anfang März 2020 kein Infek­ti­ons­mo­dell veröf­fent­licht, das vorher­sagte, dass Groß­bri­tan­nien ohne social distancing und andere strenge Bekämp­fungs­maß­nahmen 250.000 Todes­fälle durch Covid-19 zu befürchten hat, hätte die briti­sche Regie­rung zwei­fellos nicht so früh einen Lock­down verhängt, und sie hätte auch nicht mit demselben Maß an öffent­li­cher Zustim­mung rechnen können. Aber jetzt, wo wir viel mildere Erkran­kungen durch Omicron fest­stellen und die Menschen besser über die Risiken infor­miert sind, können wir sehen, dass sich diese Angst auflöst.

PhS: Über den wich­tigsten Aspekt der „Neuheit“ von „emer­ging dise­ases“ haben wir jetzt noch gar nicht gespro­chen, über die Frage nämlich, warum sie über­haupt auftreten. Ist der Eindruck richtig, dass es immer mehr neue Infek­ti­ons­krank­heiten gibt – und warum ist das so? Was sind die Faktoren, die immer neue Krank­heiten mit Pandemie-Potenzial entstehen lassen?

MH: 1972 schrieb der austra­li­sche Immu­no­loge und Nobel­preis­träger Frank Macfar­lane Burnet, dass „die wahr­schein­lichste Prognose für die Zukunft der Infek­ti­ons­krank­heiten lautet, dass sie sehr lang­weilig sein wird“. Burnet hat sich geirrt. Zwischen 1940 und 2004 haben Forscher 335 neu auftre­tende Infek­ti­ons­krank­heiten iden­ti­fi­ziert, mit einem Höhe­punkt im Jahr 1980, also etwa zum Zeit­punkt der Entde­ckung von AIDS. Und wenn man sich die jüngsten Pande­mien und Epide­mien ansieht, scheint sich der Prozess tatsäch­lich zu beschleu­nigen. So waren die frühen Nuller­jahre von einer Reihe an Ausbrü­chen der Vogel­grippe H5N1 geprägt. Im Jahr 2009 folgte das Auftau­chen eines neuar­tigen H1N1-Schweinegrippevirus in Mexiko. Obwohl das H1N1-Schweinegrippevirus bei weitem nicht so schwer­wie­gend war wie die Spani­sche Grippe von 1918 oder die Grip­pe­pan­de­mien von 1957 und 1968, verbrei­tete es sich rasch welt­weit und wurde zur ersten Pandemie des 21. Jahr­hun­derts. Außerdem haben Wissenschaftler:innen in den letzten 15 Jahren 500 neue SARS-ähnliche Coro­na­viren bei Fleder­mäusen nach­ge­wiesen. Ausge­hend von der derzei­tigen Entde­ckungs­rate wird geschätzt, dass bis zu 13.000 weitere Coro­na­viren auf ihre Entde­ckung warten. Natür­lich ist dieser Entde­ckungs­pro­zess nur möglich dank einer besseren epide­mio­lo­gi­schen und viro­lo­gi­schen Über­wa­chung und neuer Genom­tech­no­lo­gien, die es uns ermög­li­chen, Muta­tionen und virale Rekom­bi­na­tionen in einer Weise zu iden­ti­fi­zieren, die in früheren Jahr­hun­derten unmög­lich gewesen wäre. Wir müssen also vorsichtig sein, ob es sich um ein reales Phänomen handelt und nicht um ein Arte­fakt der wissen­schaft­li­chen Technologien.

PhS: Aber ist es nicht auch so, dass der Mensch zuneh­mend mit Wild­tieren und damit auch mit Krank­heits­er­re­gern in Kontakt kommt, die früher nur in tieri­schen Reser­voirs vorkamen? Warum ist das von Bedeu­tung und was sollten wir dagegen tun?

MH: Das ist richtig. Wir wissen, dass zwei Drittel der neu auftre­tenden Krank­heits­er­reger beim Menschen zoono­tisch sind und dass davon 70 Prozent von Wild­tieren wie Fleder­mäusen, Nage­tieren und wilden Wasser­vö­geln stammen. Es wäre daher für die Pande­mie­vor­sorge und -bekämp­fung sehr hilf­reich, wenn wir einen besseren Über­blick darüber hätten, welche Erreger sich in den Reser­voirs von Wild­tieren befinden und welche das Poten­zial haben, „über­zu­schwappen“ und Epide­mien und Pande­mien auszu­lösen. Um dies zu errei­chen, müssen wir drin­gend die Über­wa­chung des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens verstärken, um ein welt­weites robustes Früh­warn­system für Pneu­mo­nien unbe­kannter Ätio­logie zu schaffen.

Doch obwohl die Welt­bank und die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion darüber disku­tiert haben, wie das Global Prepared­ness Moni­to­ring Board wieder­be­lebt werden kann, und die WHO vor kurzem in Berlin ein mit 100 Millionen Dollar ausge­stat­tetes „Zentrum“ für Pande­mie­auf­klä­rung einge­richtet hat, gab es nur lang­same bis gar keine Fort­schritte. Der Punkt ist, dass wir bereits wissen, dass die Globa­li­sie­rung in Verbin­dung mit der stei­genden Nach­frage nach tieri­schem Eiweiß und der frak­talen Land­wirt­schaft am Rande der Regen­wälder diese Ausbrüche wahr­schein­li­cher macht, und dass wir drin­gend die Labor­ka­pa­zi­täten ausbauen und mehr in die Gesund­heits­ver­sor­gung an vorderster Front inves­tieren müssen, wenn wir eine Chance haben wollen, in Zukunft schneller zu reagieren und die Belas­tung durch EIDS zu verrin­gern. Solche Erkennt­nisse sind wichtig, weil sie unter­strei­chen, dass Infek­ti­ons­krank­heiten Teil eines ökolo­gi­schen Netzes sind, das seiner­seits von einer Konstel­la­tion wirt­schaft­li­cher, sozialer und ökolo­gi­scher Faktoren beein­flusst wird, und dass Pande­mien wahr­schein­li­cher werden, wenn unsere Welt aus dem Gleich­ge­wicht mit der Natur gerät. Statt­dessen fummeln wir, wie beim Klima­wandel, herum, während unsere Welt brennt.

Das Gespräch wurde schrift­lich geführt.
Mark Honig­sbaum: Das Jahr­hun­dert der Pande­mien. Eine Geschichte der Anste­ckung von der Spani­schen Grippe bis Covid-19, München: Piper 2021