Philipp Sarasin: Mark Honigsbaum, Sie sprechen für die Zeit seit der Spanischen Grippe 1918 und bis heute vom „Jahrhundert der Pandemien“. Man könnte dabei in gleichsam moderner Überheblichkeit ein wenig stutzen: Waren denn nicht vor allem die Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhundert von Pocken- und Cholera-Epidemien erschüttert worden, vom „Schwarzen Tod“ im 14. Jahrhundert ganz zu schweigen? Hat denn die moderne Medizin die epidemischen Krankheiten nicht eher zurückgedrängt? Mit anderen Worten, was macht dieses letzte Jahrhundert bis heute so besonders?
Mark Honigsbaum: Vielen Dank für Ihre Frage. Natürlich sind Epidemien und Pandemien in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgetreten, auch im 18. und 19. Jahrhundert im Zeitalter von Pocken, Pest und Cholera. Der Unterschied besteht darin, dass sich Krankheitserreger mit pandemischem Potenzial in der frühen Neuzeit und bis zur industriellen Revolution und dem Aufkommen dampfgetriebener Maschinen in einem recht gemächlichen Tempo zwischen den Kontinenten bewegten. In den 1880er Jahren begann sich dies dank schnellerer und weitreichenderer Eisenbahnnetze und der Einführung von Ozeandampfern zu ändern. In Verbindung mit der Ausweitung des weltweiten Handels und Reiseverkehrs und anderen „globalisierenden“ Kräften im 20. und 21. Jahrhundert hat dies dazu geführt, dass die Welt weitaus stärker vernetzt ist als in der Vergangenheit und auch aus epidemiologischer und immunologischer Sicht sehr viel kleiner geworden ist. Dieser Prozess zeichnete sich bereits in den 1880er Jahren ab, als sich die Pest von China nach Hongkong und Nordamerika ausbreitete (Dritte Pestpandemie) und 1889/90, als beobachtet wurde, dass sich die so genannte „Russische Grippe“ innerhalb weniger Wochen von St. Petersburg und anderen europäischen Hauptstädten nach New York ausbreitete. Doch erst der Erste Weltkrieg und die beispiellose Bewegung von Menschen, Munition und Tieren (vor allem Pferden) zwischen Nordamerika und Europa sowie der weltweite Ausbruch der „Spanischen Grippe“ in mehreren internationalen Städten gleichzeitig machten diese neuen globalen epidemiologischen und immunologischen Realitäten deutlich, auch wenn dies erst im Nachhinein erkannt wurde.
PhS: In Ihrem Buch erwähnen Sie auch die Medien…
MH: Ja, der andere Grund für meine Datierung des „Jahrhunderts der Pandemien“ auf die Zeit ab 1918 ist, dass die Spanische Grippe mit dem rasanten Wachstum der Zeitungen und der internationalen telegrafischen Kommunikation zusammenfiel. Denn das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte Informationen über neue Krankheitsausbrüche an die einheimische Bevölkerung weitergegeben werden konnten, noch bevor die Erreger selbst eintrafen. Genau genommen war die erste Pandemie, bei der diese neuen Medientechnologien eine bedeutende soziale und kulturelle Rolle spielten, die russische Grippepandemie von 1889-92, die auf die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels zwischen den Vereinigten Staaten und England folgte und mit dem Boom billiger, massenhaft verbreiteter Zeitungen und der raschen Expansion von Reuters und anderen Nachrichtenagenturen zusammenfiel, die die neuesten telegrafischen Kommunikationstechnologien nutzten. Das Ergebnis ist eine neue, moderne gesellschaftliche Realität, in der sich Informationen über neue Krankheitserreger schneller verbreiten als die Viren selbst, wodurch biopolitische Diskurse und die Fähigkeit, Pandemien mit rationalen wissenschaftlichen Methoden zu bewältigen, gestört werden.
PhS: Sie schildern nicht einfach „alle“ epi- oder pandemischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts, sondern analysieren in zehn Fallstudien exemplarische Ausbrüche von Infektionskrankheiten, von der Spanischen Grippe bis zur gegenwärtigen SARS-CoV 2-Pandemie. Ihr gemeinsamer Nenner ist vielleicht jeweils deren Neuheit, ihr neuartiges Auftreten als „emerging disease“ – mit der Ausnahme natürlich der Pest, die 1924 in Los Angeles ausbrach.
MH: Wie ich schon angedeutet habe, sind im Laufe der Geschichte immer wieder neue Krankheiten aufgetreten, aber erst im späten zwanzigsten Jahrhundert haben wir begonnen, den Begriff „emerging infectious diseases“ (EIDS) – neu auftretenden Infektionskrankheiten – zu verwenden, um das Auftauchen neuartiger Krankheitserreger mit epidemischem und/oder pandemischem Potenzial zu beschreiben. Der Begriff steht in engem Zusammenhang mit der Arbeit des Bakteriengenetikers Joshua Lederberg und des Virologen Steven Morse sowie mit einem einflussreichen Bericht des amerikanischen Institute of Medicine aus dem Jahr 1992, in dem EIDS als bisher unbekannte Erkrankungen menschlicher Populationen definiert werden, deren „Auftreten auf die Einführung eines neuen Erregers, auf das Erkennen einer bestehenden Krankheit, die unentdeckt geblieben ist, oder auf eine Veränderung in der Umwelt, die eine epidemiologische ‚Brücke‘ bildet, zurückzuführen sein kann.“
Der Begriff „emerging diseases“ findet sich in der medizinischen Fachliteratur jedoch schon seit den 1960er Jahren, und ich würde behaupten, dass das Konzept auf den Einfluss zurückgeführt werden kann, den Ideen zur Ökologie von Krankheiten an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert auf die bakteriologische Epidemiologie ausgeübt haben. Diese Ideen findet sich dann in den Schriften von Theobald Smith, Karl Friedrich Meyer, Charles Nicolle und dem in Frankreich geborenen Rockefeller-Forscher René Dubos, dessen Buch The Bacterial Cell einen enormen Einfluss auf Lederberg hatte. Unabhängig davon, ob diese Visionen in einer explizit ökologischen Sprache formuliert waren oder nicht, handelte es sich um eine Sichtweise, die dazu neigte, Krankheiten als das Ergebnis vorübergehender biologischer Ungleichgewichte und eine Störung des natürlichen Gleichgewichts zu betrachten, und nicht als etwas, das nach dem bakteriologischen Paradigma „ein Keim, eine Kur“ ausgerottet werden könnte oder sollte. Und es war eine Vision, die sowohl die Rolle sozialer Faktoren als auch darwinistische Perspektiven berücksichtigte und bereit war, lange evolutionäre Zeiträume in Kauf zu nehmen.
PhS: Ich möchte auf die Frage des natürlichen Gleichgewichts später nochmals zurückkommen. Aber zunächst einmal: Wurde der Kampf gegen Infektionskrankheiten im 20. Jahrhundert nicht vom Paradigma der „Ausrottung“ beherrscht, zum Beispiel bei der Ausrottung der Pocken im Jahr 1978?
MH: Ja, der „Traum“ von der Ausrottung, wie ich das gerne nenne, lässt sich bis zu den Anfängen der Bakteriologie in den 1880er Jahren zurückverfolgen und hat sich als sehr wirksam erwiesen, wenn es darum ging, Gelder für die medizinische Forschung freizumachen und politische Agenden zu gestalten, insbesondere im Bereich der globalen Gesundheit. Doch neben solchen Perspektiven gab es immer auch andere Ideen und Ansätze – Ansätze, die die Rolle sozialer und ökologischer Bedingungen bei der Entstehung und dem Wiederauftreten von Krankheitserregern und der durch sie verursachten Morbidität und Mortalität betonten. In der Tat lässt sich eine direkte Linie von den Ideen des deutschen Arztes Rudolph Virchow, der die Medizin in erster Linie als Sozialwissenschaft betrachtete, zu Denkern wie René Dubos ziehen, der in den 1950er Jahren argumentierte, dass die völlige Freiheit von Krankheiten eine „Fata Morgana“ sei und dass „die Natur zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt und auf eine unvorhersehbare Weise zurückschlagen wird“.
In den 1950er Jahren wurden jedoch die ökologischen Ideen von Dubos, das heißt seine Vorstellung von unserer grundlegenden Verbindung zur Natur und von der „Symbiose von Erde und Mensch“, wie er sagte, im angstgetriebenen Klima des Kalten Krieges verdrängt. Das war die Angst vor Biowaffen, aber auch die Angst vor Krankheiten wie Malaria und Pocken, die ständig drohten, „wieder aufzutauchen“ und deren Ausrottung man anstrengte. Führend dabei waren Persönlichkeiten wie Alexander Langmuir, der das Ausrottungsparadigma als Mittel zur Durchsetzung der Autorität der US Centers for Disease Control (CDC) bei der Überwachung und Kontrolle von Krankheiten benutzte. Das Ergebnis war, dass die Biosicherheitsdiskurse in den 1970er Jahren und im Zuge der weltweiten Kampagne zur Ausrottung der Pocken, die von der CDC und der WHO angeführt wurde, die krankheitsökologischen Ideen mehr oder weniger aus dem medizinischen Mainstream verdrängt hatten.
Eine der Konsequenzen daraus war, dass zunehmend Misstrauen gegenüber den Ausrottungsstrategien führender biomedizinischer Forschungsorganisationen wie der Gates Foundation gesät wurde. Und das Ergebnis können wir heute in den polarisierten Debatten über den Ursprung von SARS-CoV-2 und der Behauptung sehen, das Virus sei das Produkt eines Laborexperiments, oder in Verschwörungstheorien, die behaupten, dass Impfstoffe Teil eines 5G-Komplotts sind, um die Bevölkerung der westlichen Demokratien zu versklaven. Die Tragödie besteht darin, dass wir genau zu dem Zeitpunkt, an dem wir tiefe, ökologische Einblicke in die Ursprünge und die Übertragung von EIDS auf menschliche Populationen gewinnen und die chinesischen Bemühungen zur Identifizierung der tierischen Zwischenwirte von SARS-CoV-2 unterstützen sollten, durch solche Meinungsverschiedenheiten gelähmt sind.
PhS: Vor diesem Hintergrund: Wie erkennen Wissenschaftler eigentlich etwas Neues, nämlich eine neu auftretende Krankheit, die wahrscheinlich noch völlig außerhalb ihres Wissens, außerhalb ihrer Art der Analyse solcher Bedrohungen liegt?
MH: Meines Erachtens wird das wissenschaftliche Wissen über neu auftretende Krankheitserreger weitgehend durch unsere bisherigen Erfahrungen bestimmt. Im Grunde genommen bereiten wir uns immer auf die Bekämpfung der gerade vergangenen Pandemie vor. Diese Erfahrung prägt nicht nur unser Denken über die Faktoren und Bedingungen, die für das Auftreten von Krankheitserregern verantwortlich sind, sondern auch die Labortechnologien, die uns zur Verfügung stehen, um unsere Hypothesen zu testen. Deshalb ist es so schwierig, die nächste Epidemie oder Pandemie im Voraus zu erkennen oder diese neuen Erreger rechtzeitig zu identifizieren, wenn sie einmal aufgetreten sind. Am deutlichsten wurde dies 1976, als es wiederholt nicht gelang, den bakteriellen Erreger der Legionärskrankheit zu identifizieren, oder 2002, als man fälschlicherweise annahm, dass die als SARS bekannt gewordene Krankheit auf ein Vogelgrippevirus zurückzuführen sei. Letztendlich mussten Mikrobiologen über den Tellerrand schauen, um diese Rätsel durch Versuch und Irrtum zu lösen.
In der medizinischen Forschung gibt es ein altes Sprichwort, das gewöhnlich Pasteur zugeschrieben wird: „Das Glück begünstigt den vorbereiteten Geist“. Doch bei jedem Beispiel in meinem Buch, mit Ausnahme von HIV/AIDS und in geringerem Maße der Pest in Los Angeles im Jahr 1924, zeige ich, dass Wissenschaftler:innen gerade dann, wenn sie nicht in den üblichen Denkprozessen geschult oder Neulinge auf einem bestimmten, spezialisierten Gebiet der Mikrobiologie sind, eher dazu neigen, zufällige Beobachtungen zur Kenntnis zu nehmen und sie für bedeutsam zu halten. Mit anderen Worten, im Falle von Pandemien „ist das Glück dem unvorbereiteten Geist hold“. Deshalb ist es für Wissenschaftler:innen und andere Expert:innen so wichtig, sich vor Hybris zu hüten und das zu kultivieren, was Dubos als „Wachsamkeit gegenüber dem Unerwarteten“ bezeichnete.
PhS: Im Grunde kann man an diesen Beispielen ja auch sehr gut sehen, wie Wissenschaft überhaupt funktioniert, nicht? Das ist meines Erachtens eine der wichtigsten Einsichten, die man aus Ihrem Buch gewinnen kann: Es gibt nicht einfach „die“ Wissenschaft, die „gesicherte“ Erkenntnisse hat, sondern ganz im Gegenteil, sie ist nur die beste Form unseres Nicht-Wissens, unserer Suche nach Wissen…
MH: Ganz genau. Genau aus diesem Grund war es unsinnig, wenn Politiker:innen davon sprachen, „der Wissenschaft zu folgen“, als ob die Wissenschaft feststünde oder es eine einzige wissenschaftliche Autorität gäbe, der wir folgen sollten. SARS-Cov-2, das Coronavirus, das Covid-19 verursacht, ist ein klassisches Beispiel. Obwohl Coronaviren für ein Drittel aller Erkältungskrankheiten verantwortlich sind und seit langem bekannt ist, dass sie Krankheiten bei Rindern und anderen Tieren verursachen, ging man bis zum Auftreten von SARS 1 im Jahr 2002 nicht davon aus, dass Coronaviren eine epidemische Bedrohung – geschweige denn eine Pandemie – für den Menschen darstellen. Um die vom amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center eingeführte Terminologie zu übernehmen, war SARS 1 ein „unbekannter Unbekannter“. Im Gegensatz dazu könnte man sagen, dass SARS 2 eine „bekannte Unbekannte“ war – und genau deshalb waren die Virologen so darauf bedacht, das gesamte Wirtsspektrum des Virus in der Natur zu untersuchen, um andere SARS-ähnliche Viren zu finden, bevor sie auf den Menschen übergreifen und ihn infizieren könnten. Leider gibt es selbst jetzt, drei Jahre nach der Coronavirus-Pandemie, kaum einen Konsens darüber, inwieweit die Genesung von der Infektion vor weiteren Angriffen und Erkrankungen schützt oder ob es weiterhin neue Varianten geben wird, die sich der derzeit durch Impfstoffe gebotenen Immunität entziehen können. Auch können wir im Januar 2022 noch nicht sagen, ob das Coronavirus wahrscheinlich an Virulenz verliert und sich zu einer endemischen Infektion entwickelt, ähnlich wie bei der saisonalen Grippe.
PhS: Es ist ganz besonders interessant, dass Sie die Arbeit der Wissenschaftler:innen, die unter dem Handlungsdruck eines dramatischen Infektionsausbruchs neue Pathogene erforschen, eng mit populärem Wissen und Wahrnehmungen und mit dem medialen Umfeld verbinden. Wissenschaft findet mit anderen Worten nicht in einem luftleeren Raum statt – aber auch Infektionsausbrüche werden natürlich intensiv von medialen Prozessen begleitet oder gar geformt. Kurz gefragt: Welche Rolle spielen die Medien bei einem Ausbruch einer Infektionskrankheit?
MH: Meiner Meinung nach spielen die Medien eine zentrale Rolle bei der Übersetzung wissenschaftlicher Fachbegriffe in den Laiendiskurs und bei der Förderung oder Unterminierung des öffentlichen Verständnisses von Wissenschaft. Dies ist insbesondere in Zeiten einer Pandemiekrise der Fall, wenn es für die Öffentlichkeit entscheidend ist, wissenschaftliche Erkenntnisse über die von neuen Krankheitserregern ausgehenden Risiken aufzunehmen und ihr Verhalten anzupassen, um die Zahl der Todesfälle zu verringern und zu verhindern, dass die Gesundheitssysteme überfordert werden. Im Mittelpunkt dieses Übersetzungsprozesses steht die Metapher. Metaphern sind nicht nur rhetorische Ausschmückungen, sondern sie „erschaffen“ oder konstituieren für uns soziale, kulturelle und psychologische Realitäten, indem sie uns auffordern, auf bestimmte Weise auf die Welt zu reagieren. Bei dieser Pandemie wurden wir beispielsweise immer wieder aufgefordert, „die Kurve abzuflachen“ oder Impfstoffe als „Silberkugeln“ zu betrachten, die den „Krieg“ gegen das Virus zu einem raschen Ende bringen und die Wiederherstellung eines normalen sozialen Lebens ermöglichen werden. Metaphern können zwar dazu beitragen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und unser Verhalten zu lenken, aber in dem Maße, in dem sie komplexe wissenschaftliche und soziale Realitäten vereinfachen oder verzerren, sind sie ein zweischneidiges Schwert.
Die Medien sind auch eine „Sensationsmaschine“, die Lücken in wissenschaftlichen Erkenntnissen vergrößert und Informationen – und Fehlinformationen – aus kommerziellen Gründen übertreibt. Am deutlichsten war dies in den 1980er Jahren zu beobachten, als HIV/AIDS fälschlicherweise als „Schwulenpest“ bezeichnet wurde, weil frühe epidemiologische Studien darauf hindeuteten, dass Homosexuelle ein höheres Risiko hatten, sich anzustecken und die Krankheit weiterzugeben. Auch während der Papageienfieber-Pandemie von 1930 und dem Ausbruch der Legionärskrankheit in Philadelphia im Jahr 1976 war dies der Fall. Rückblickend betrachtet war keiner der beiden Ausbrüche besonders schwerwiegend, aber beide trugen dazu bei, dass die Medien „Angstgeschichten“ verbreiteten – Geschichten, die durch die Ungewissheit über den mikrobiellen Erreger und die Verunsicherung über die Toten unter älteren und besonders geachteten Bevölkerungsgruppen motiviert waren. Dieser Prozess heute durch das Internet und die sozialen Medien weitaus unberechenbarer geworden.
PhS: Sie brauchen in diesem Zusammenhang häufig auch das Wort „Hysterie“, das mich ein wenig erstaunt hat: Hysterie als übertriebene (und im Übrigen weiblich konnotierte) Reaktion auf ein Ereignis oder eine Gefahr. Man könnte doch sagen: Wie soll man angesichts der Pest oder von Ebola nicht „hysterisch“ werden? Und kann man gegenwärtig nicht beobachten, dass Viele eher nachlässig mit der Bedrohung durch COVID-19 umgehen, ja schlicht Corona-müde sind?
MH: Nun, es gibt aber eine gewisse Gefahr, bei der Verwendung von Begriffen wie „Hysterie“ oder „Angst“ und „Panik“ übermäßig analytisch vorzugehen. Hysterie und andere Emotionsbegriffe, ob nun implizit oder explizit weiblich gegendert, kommen schon im Quellenmaterial vor – wie etwa bei Paul De Kruifs Charakterisierung der US-Zeitungsberichte über das Papageienfieber als „eine unserer amerikanischen Hysterien“. De Kruif sollte es übrigens wissen: Durch seine Beiträge für Zeitschriften wie das Ladies Home Journal und seine populärwissenschaftlichen Schriften trug er in den 1920er und 1930er Jahren zur Verbreitung mehrerer „Keimpaniken“ (germ panics) in Amerika bei.
Natürlich können Panik und Hysterie angesichts einer tödlichen Krankheit, die sich rasch von Mensch zu Mensch ausbreitet und für die es keine Aussicht auf Prävention oder Heilung gibt, durchaus rationale Reaktionen sein. Aber wie wir bei der Stigmatisierung von Homosexuellen und anderen vermeintlichen „Trägern“ von HIV, wie Bluter:innen und Haitianer:innen, in den 1980er Jahren gesehen haben, sind diese Emotionen eher kontraproduktiv. Deshalb konzentriere ich mich in Das Jahrhundert der Pandemien auf die Rolle des medizinischen Wissens und der wissenschaftlichen Technologien sowie auf die Rolle der Medien und des öffentlichen Gesundheitswesens bei der Regulierung „angemessener“ emotionaler Reaktionen.
Ein gutes Beispiel für diese „Technologien des Schreckens“ sind epidemiologische Krankheitsmodelle, die versuchen, die Vermehrungsrate des Coronavirus zu verfolgen und die wahrscheinlichen Auswirkungen auf Krankenhausaufenthalte und Todesfälle vorherzusagen. Hätte beispielsweise das Imperial College Anfang März 2020 kein Infektionsmodell veröffentlicht, das vorhersagte, dass Großbritannien ohne social distancing und andere strenge Bekämpfungsmaßnahmen 250.000 Todesfälle durch Covid-19 zu befürchten hat, hätte die britische Regierung zweifellos nicht so früh einen Lockdown verhängt, und sie hätte auch nicht mit demselben Maß an öffentlicher Zustimmung rechnen können. Aber jetzt, wo wir viel mildere Erkrankungen durch Omicron feststellen und die Menschen besser über die Risiken informiert sind, können wir sehen, dass sich diese Angst auflöst.
PhS: Über den wichtigsten Aspekt der „Neuheit“ von „emerging diseases“ haben wir jetzt noch gar nicht gesprochen, über die Frage nämlich, warum sie überhaupt auftreten. Ist der Eindruck richtig, dass es immer mehr neue Infektionskrankheiten gibt – und warum ist das so? Was sind die Faktoren, die immer neue Krankheiten mit Pandemie-Potenzial entstehen lassen?
MH: 1972 schrieb der australische Immunologe und Nobelpreisträger Frank Macfarlane Burnet, dass „die wahrscheinlichste Prognose für die Zukunft der Infektionskrankheiten lautet, dass sie sehr langweilig sein wird“. Burnet hat sich geirrt. Zwischen 1940 und 2004 haben Forscher 335 neu auftretende Infektionskrankheiten identifiziert, mit einem Höhepunkt im Jahr 1980, also etwa zum Zeitpunkt der Entdeckung von AIDS. Und wenn man sich die jüngsten Pandemien und Epidemien ansieht, scheint sich der Prozess tatsächlich zu beschleunigen. So waren die frühen Nullerjahre von einer Reihe an Ausbrüchen der Vogelgrippe H5N1 geprägt. Im Jahr 2009 folgte das Auftauchen eines neuartigen H1N1-Schweinegrippevirus in Mexiko. Obwohl das H1N1-Schweinegrippevirus bei weitem nicht so schwerwiegend war wie die Spanische Grippe von 1918 oder die Grippepandemien von 1957 und 1968, verbreitete es sich rasch weltweit und wurde zur ersten Pandemie des 21. Jahrhunderts. Außerdem haben Wissenschaftler:innen in den letzten 15 Jahren 500 neue SARS-ähnliche Coronaviren bei Fledermäusen nachgewiesen. Ausgehend von der derzeitigen Entdeckungsrate wird geschätzt, dass bis zu 13.000 weitere Coronaviren auf ihre Entdeckung warten. Natürlich ist dieser Entdeckungsprozess nur möglich dank einer besseren epidemiologischen und virologischen Überwachung und neuer Genomtechnologien, die es uns ermöglichen, Mutationen und virale Rekombinationen in einer Weise zu identifizieren, die in früheren Jahrhunderten unmöglich gewesen wäre. Wir müssen also vorsichtig sein, ob es sich um ein reales Phänomen handelt und nicht um ein Artefakt der wissenschaftlichen Technologien.
PhS: Aber ist es nicht auch so, dass der Mensch zunehmend mit Wildtieren und damit auch mit Krankheitserregern in Kontakt kommt, die früher nur in tierischen Reservoirs vorkamen? Warum ist das von Bedeutung und was sollten wir dagegen tun?
MH: Das ist richtig. Wir wissen, dass zwei Drittel der neu auftretenden Krankheitserreger beim Menschen zoonotisch sind und dass davon 70 Prozent von Wildtieren wie Fledermäusen, Nagetieren und wilden Wasservögeln stammen. Es wäre daher für die Pandemievorsorge und -bekämpfung sehr hilfreich, wenn wir einen besseren Überblick darüber hätten, welche Erreger sich in den Reservoirs von Wildtieren befinden und welche das Potenzial haben, „überzuschwappen“ und Epidemien und Pandemien auszulösen. Um dies zu erreichen, müssen wir dringend die Überwachung des öffentlichen Gesundheitswesens verstärken, um ein weltweites robustes Frühwarnsystem für Pneumonien unbekannter Ätiologie zu schaffen.
Doch obwohl die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation darüber diskutiert haben, wie das Global Preparedness Monitoring Board wiederbelebt werden kann, und die WHO vor kurzem in Berlin ein mit 100 Millionen Dollar ausgestattetes „Zentrum“ für Pandemieaufklärung eingerichtet hat, gab es nur langsame bis gar keine Fortschritte. Der Punkt ist, dass wir bereits wissen, dass die Globalisierung in Verbindung mit der steigenden Nachfrage nach tierischem Eiweiß und der fraktalen Landwirtschaft am Rande der Regenwälder diese Ausbrüche wahrscheinlicher macht, und dass wir dringend die Laborkapazitäten ausbauen und mehr in die Gesundheitsversorgung an vorderster Front investieren müssen, wenn wir eine Chance haben wollen, in Zukunft schneller zu reagieren und die Belastung durch EIDS zu verringern. Solche Erkenntnisse sind wichtig, weil sie unterstreichen, dass Infektionskrankheiten Teil eines ökologischen Netzes sind, das seinerseits von einer Konstellation wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Faktoren beeinflusst wird, und dass Pandemien wahrscheinlicher werden, wenn unsere Welt aus dem Gleichgewicht mit der Natur gerät. Stattdessen fummeln wir, wie beim Klimawandel, herum, während unsere Welt brennt.