Eine Infektion ist in China entstanden, wurde in einem Pekinger Spital entdeckt und breitet sich als Pandemie auf der ganzen Welt aus. Anstecken kann man sich unter anderem durch Händeschütteln, wobei die tödliche Krankheit nur Menschen ab 45-50 Jahren trifft. Weder Reichtum noch Macht können vor einer Infektion schützen, und Millionen Erkrankte sind bereits an ihr gestorben. Diese Geschichte klingt zwar vertraut, stammt aber nicht aus dem Corona-Jahr 2020, sondern wurde vom tschechischen Schriftsteller Karel Čapek vor mehr als achtzig Jahren erfunden.

Hugo Haas als Dr. Galén in „Die weiße Krankheit“, Regie: Hugo Haas 1937, Quelle: kultura.sme.sk
Die Pandemie steht im Mittelpunkt seines Theaterstücks „Die weiße Krankheit“, das im Januar 1937 in Prag uraufgeführt wurde. Den titelgebenden Namen verdanken das Stück und die fiktionale Infektion ‚Morbus Tshengi‘ ihrem ersten Symptom: „Das ist ein kleiner, weißer Fleck irgendwo auf der Haut. Er ist kalt wie Marmor und man spürt ihn nicht“. Die wachsende Pigmentstörung auf der Haut wird von Abszessen an den inneren Organen begleitet, die zum Tod durch Sepsis führen.
Čapeks Stück spielt in einem großen namenlosen Land, das von einem Marschall diktatorisch regiert und auf einen Eroberungskrieg vorbereitet wird. Im Jahr 1937 erkannte man darin eindeutig den Faschismus, obwohl das Theaterstück über diesen konkreten historischen Bezug deutlich hinausgeht. Vielmehr leuchtet Čapek das komplizierte Verhältnis zwischen Medizin und Politik, zwischen dem Einzelnen und der Masse sowie zwischen viraler und geistiger Ansteckung auf eine Weise aus, die auch für die heutige Situation aufschlussreich ist.
Medizin im Krisenmodus
„Die weiße Krankheit“ stellt auf eine satirische Weise dar, wie die Pandemie soziale Missstände nicht erst erzeugt, sondern als bereits vorhandene vor Augen führt. Die Medizin wird durch eine große Forschungsklinik vertreten, deren Leiter Hofrat Sigelius sich vor allem um die „zahlenden Kunden“ sowie um das wissenschaftliche Renommee kümmert.
Entgegengesetzt ist ihm ein Einzelgänger griechischer Abstammung, dessen Name auf einen der bedeutendsten Ärzte des Altertums und frühen „Epidemologen“ hinweist: Doktor Galén. Früher ein vielversprechender Nachwuchsforscher, hat Čapeks Galén die Wissenschaft verlassen, um seine Familie ernähren zu können. Er betreibt eine Arztpraxis im armen Stadtteil, und ihm gelingt es im eigenen kleinen Labor, ein wirksames Medikament gegen Morbus Tshengi herzustellen. Mit dieser Entdeckung tritt allerdings kein Ende der Pandemie ein, sondern beginnt der eigentliche Konflikt.
„Utopische Erpressung“
Die fiktionale Welt, in der sich Čapeks Pandemie abspielt, erinnert an die historische Atmosphäre von 1937. Angesichts der Rüstungspolitik NS-Deutschlands musste sich die benachbarte Tschechoslowakei auf einen Angriff vorbereiten und errichtete ab 1935 ein Befestigungssystem entlang den Grenzen. „Die weiße Krankheit“ nimmt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorweg, indem die namenlose Diktatur ein kleines Nachbarland angreift, das an der Grenze massiven Widerstand leisten kann.
Eine antifaschistische Satire war bereits in Čapeks fantastischem Roman „Der Krieg mit den Molchen“ von 1936 spürbar: In einer neuen Zivilisation von humanoiden Molchen sind zwei ,Nationenʻ entstanden, die in einem vernichtenden Krieg gegeneinander untergehen. Allerdings sind Čapeks Dystopien – angefangen mit „R.U.R.“ und „Krakatit“ in den 1920er Jahren – stets auf grundlegende ethische Fragen der Gesellschaft und des wissenschaftlichen Fortschritts ausgerichtet. Deswegen haben sie im Laufe der Zeit nicht an Aktualität eingebüßt – das gilt auch für „Die weiße Krankheit“.

Dr. Galen mit der Spritze in der Hand, aus der Verfilmung von „Die weiße Krankheit“, 1937, Regie: Hugo Haas, Quelle: kultura.sme.sk
Dort tritt Čapeks Protagonist Galén als Pazifist auf, den eine Vision des Weltfriedens im Zeitalter von Kriegsideologie und Aufrüstung umtreibt. Das entdeckte Medikament will er der Gesellschaft nur unter politischen Auflagen zur Verfügung stellen, die er in einem Pressegespräch formuliert: „Schreiben Sie, dass dieses Medikament kein Volk bekommt, solange es sich nicht dazu verpflichtet, dass… dass… dass es nie wieder einen Krieg führen wird“. Und er seufzt: „Ach, wenn man doch nur so viel Geld für Krankenhäuser ausgeben würde wie für Kriegsgeschäfte.“
Čapek verknüpft nicht nur das pandemische Geschehen mit der internationalen Politik, sondern zeigt im politischen Umgang der Protagonisten mit der Infektion auch, wie politische Ideologien von der Krankheit oder ihrer Heilung profitieren wollen. Galéns Gegner, der Marschall und seine Anhänger, erklären das „pazifistische [] Gerede“ des Arztes zur noch schlimmeren Pest und spielen im Gegenzug die Pandemie mit allen Mitteln herunter.
Mit Galéns Erpressungsstrategie wird eine politische Utopie der globalen Friedensgemeinschaft in einer militarisierten Welt entworfen. Die Seuche als Katastrophe verbirgt in sich eine Chance, der Gesellschaft ein neues Bewusstsein zu geben und einen Ausweg aus der politischen Misere zu zeigen. Der Übergang zwischen einem dystopischen und einem utopischen Weltbild erweist sich somit als fließend.
Syllogismen der Gerechtigkeit

Krankenhausszene in der Verfilmung von Hugo Haas, 1937, Quelle: kultura.sme.sk
„Die weiße Krankheit“ macht Paradoxien der Pandemie sichtbar: Während jede Erkrankung individuell ist, deutet die massenhafte Infektion auf eine Kollektivität hin und betrifft schließlich die gesamte Gesellschaft. Čapeks Theaterstück zeigt das Spannungspotential hinter diesem komplexen Verhältnis von Einzelnem und der Gemeinschaft. Denn Galéns „utopische Erpressung“ bedeutet auch, dass er die Menschen bis zur Erfüllung seiner politischen Vision weiterhin sterben lässt. In einem Pressegespräch stellt er einen Syllogismus auf: Dass ein Arzt um jedes menschliche Leben kämpfen muss, bedeute, er sei verpflichtet, den Krieg zu verhindern. Die buchstäbliche Pflicht, jedes reale Leben zu retten, vertauscht Galén mit dem Ziel, die Weltgemeinschaft vor Krieg zu schützen. Das Lebensrecht eines Individuums wird von der Sorge um das Allgemeinwohl verdrängt.
Die Gerechtigkeit wird von Galén in Kategorien des Kollektiven ausgelegt: Solange keine Regierung auf seine Forderung eingeht, will er mit seinem Medikament nur die Armen heilen und denjenigen die Behandlung verweigern, die einen Einfluss in der Gesellschaft haben. Sein Handeln begründet er mit einem erneuten Syllogismus: „Sehen Sie, es sind schon immer mehr die Armen gestorben, nicht wahr? Und dass muss nicht sein. […] Jeder hat ein Recht auf Leben oder etwa nicht?“
Dieses Lebensrecht überträgt Galén auf ein Kollektiv, indem an die Stelle des erkrankten Einzelmenschen eine soziale Klasse oder die ganze Weltgemeinschaft tritt. Während Dr. Galén für das Allgemeinwohl kämpft, vergisst er das Individualwohl und fühlt sich berechtigt, im Namen der Gemeinschaft Einzelleben zu opfern.
Leiblichkeit und politische Ordnung
In Čapeks Stück kann die Pandemie von der Regierung in dem Moment nicht mehr heruntergespielt werden, als sich die Machtvertreter infizieren. Nach der Erkrankung eines Waffenmagnaten treffen der Arzt Galén und der Diktator in einem Streit aufeinander: Der eine spricht im Namen der Weltgemeinschaft, der andere inszeniert sich als Sprecher seiner Nation. Während die unversöhnlichen Parteien Medizin und Politik verwechseln, nimmt sich der infizierte Fabrikant das Leben.
Wo die Politik den Menschen zur Kategorie einer gesellschaftlichen Ordnung macht, erinnert die Krankheit das Zoon politikon an seine Leiblichkeit. Bei Čapek erreicht die Spannung ihren Höhepunkt, als sich der Diktator selbst ansteckt – derjenige, der sich davor furchtlos gezeigt und eine Gefahr für sich selbst ausgeschlossen hatte.

Der Streit zwischen Dr. Galén und Marschall, Quelle: kultura.sme.sk
„Die weiße Krankheit“ ist eine scharfsinnige Parabel über eine mehrfach gestörte Balance zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit sowie zwischen dem Körper und der sozialen und politischen Ordnung. Im Laufe des Stücks werden Einzelmenschen mit einer Pandemie im Lichte von sozialen, ökonomischen, politischen und emotionalen Zugehörigkeiten konfrontiert. Anstelle einer solidarischen Gemeinschaft tritt entweder zwischenmenschliche Entfremdung oder kollektive Ideologisierung. Am Ende der Handlung steht eine fanatisierte Masse, die von der Pandemie nichts wissen will, Dr. Galén ermordet und somit auch den Diktator zum Tode an der weißen Krankheit verurteilt.
An die beiden Protagonisten, die eine Nation oder eine Weltgemeinschaft zu vertreten glauben, wandte sich der Autor Čapek im Vorwort zum Theaterstück: „Hier sind Deine ,alle Menschenʻ, Galén; hier ist Ihr Volk, Marschall“. Das fiktionale Schicksal des Medikaments gegen die Infektion ist düster: Die Ampullen werden unter den Füßen einer aggressiven Menge zertrampelt. Es ist also die massenhafte ,geistige‘ Ansteckung mit einer Ideologie, durch die das Medikament vernichtet wird.
Impfstoff und Zugehörigkeit
Im Jahr 2020 hat sich Karel Čapeks politisch-medizinische Dystopie als überraschend aktuell erwiesen. Auch die gegenwärtigen Impfstoffe scheinen der Gesellschaft noch Konflikte zu bereiten. Der Impfstoff ist nicht nur als Gegenstand des Wettbewerbs und der Erwerbskonkurrenz in die internationale Politik verwickelt. Noch mehr provoziert er eine Reihe von grundlegenden ethischen Fragen. Wie werden Impfstoffe zwischen einzelnen Ländern verteilt? Wie wird die Weltgemeinschaft mit der Verantwortung für ärmere Länder umgehen? Welchen politischen Status erhält die Impfung im Hinblick auf Rechte und Pflichten? Welche Bevölkerungsgruppen werden zuerst geimpft? Und wie kommt diese Entscheidung zustande?

Dr. Galén, von der fanatisierten Masse ermordet, Quelle: kultura.sme.sk
Wie in Čapeks Theaterstück werden bei all diesen Fragen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gemeinschaftlichkeit verhandelt. Denn im Hinblick auf den Zugang zu einer Impfung wird ein Mensch auch durch Zugehörigkeiten zu einem Land, zu einem Beruf und zu einer Altersgruppe determiniert. In dieser Konstellation müssen Individual- und Allgemeinwohl, nationale und globale Interessen sowie konkurrierende Kollektivitäten abgewogen werden.
Čapeks „Weiße Krankheit“ macht eine Pandemie zum Modell für ein komplexes Verhältnis zwischen dem Einzelmenschen und den sozial-politischen Gemeinschaften. Hinter diesem Verhältnis steht eine ethische Verantwortung, welche von jedem und jeder Einzelnen mitgetragen wird. Mithilfe der Figur eines Arztes, der den Weltfrieden erzwingen wollte, schärft das Theaterstück allerdings auch das Bewusstsein dafür, wie sich diese Ethik geradlinigen Wertungen entzieht.
Vor allem aber führt „Die weiße Krankheit“ vor Augen, dass eine ,geistige Ansteckungʻ in pandemischen Zeiten ebenso gefährlich ist wie das Virus selbst. Das Ende des Theaterstücks zeigt: Die Ausbreitung einer Ideologie, die das Virus missachtet, ist sogar tödlicher als die Pandemie. Denn eine massenhafte Aggression kann die Errungenschaft der Medizin zunichtemachen.