Die neueste Volte der deutschen Diskussion über die richtige Haltung von Tieren ist das sogenannte Tierwohllabel. Seine Begriffswahl suggeriert nicht zufällig, die Tiere würden sich in ihren Ställen wohlfühlen. Mit vier Farbtönen versuchen die deutschen Supermarktketten Aldi Nord, Aldi Süd, Edeka, Kaufland, Lidl, Netto, Penny und Rewe seit 1. April 2019 das Unbehagen der Konsumentinnen und Konsumenten an ihrem Fleischkonsum zu lindern. Rot: Einhaltung der vorgeschriebenen Mindeststandards; blau: zehn Prozent mehr Platz pro Tier (bei einem bis zu 110 kg schweren Mastschwein beispielsweise 0,825 statt 0,75 Quadratmeter); orange: Kontakt mit Frischluft; grün und „Premium“ (die Farbwahl dürfte nicht verwundern): Die Tiere dürfen selbst an die frische Luft und diese nicht nur erschnuppern.
Mit der Schaffung dieser Farbkennzeichnung kam der Handel der deutschen Politik zuvor, die im agrarpolitischen Balanceakt zwischen wirtschaftlicher Effizienz und anständiger Tierbehandlung das Gleichgewicht sucht. „Wir übernehmen eine Vorreiterrolle beim Tierschutz“ heißt es im Koalitionsvertrag von 2018 wie auch schon zuvor 2013. Spätestens seit der Verlängerung der Erlaubnis zur betäubungslosen Ferkelkastration am 30. November 2018 – eine Praxis, die bei Hunden strafbar und in anderen europäischen Ländern durch Alternativen ersetzt ist – hat die Regierung ihre hehren Tierwohlziele hinter die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Schweinefleischproduzenten zurückgestellt. Erstaunlicher als diese historisch bekannte und wirtschaftlich rationale Prioritätensetzung des Agrarministeriums ist, dass Stallbeschaffenheit und Kastrationsmethoden gerade heute Teil der öffentlichen Diskussion geworden sind.
Bei niedrigen 0,7 Prozent ist der landwirtschaftliche Anteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt 2018 nach über 200 Jahren Rückgang angekommen. Flankiert wird die sinkende Wertschöpfung von einer ebenfalls massiv zurückgegangenen Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe (1949: 2.905.300, 2018: 266.700) und der in der Landwirtschaft Beschäftigten (1950: 25%, 2018: 1,26%). Die allermeisten Menschen in Deutschland, das sich hier in einen den gesamten globalen Norden umfassenden Trend einreiht, haben keinen Kontakt zu Rindern, Hühnern und Schweinen mehr. Davon unbeeindruckt aber sind Landwirtschaft und insbesondere Tierhaltung prominenter Gegenstand von Feuilleton und politischer Diskussion.
Ein moralisches Geschäft
Ein sich seit Ende der 1960er Jahre mit zunehmendem gesellschaftlichem Wohlstand und der Etablierung konzentrierter Intensivtierhaltung zuspitzender Moralkonflikt ist der Grund für die aus wirtschaftlicher Sicht überraschende diskursive Präsenz der Rinder, Schweine und Hühner. Seine Kulisse bildeten neben den veränderten Haltungsbedingungen das aufkommende Ökologiebewusstsein, eine größer werdende Skepsis gegenüber Wachstum und Fortschritt und die Dynamik massenmedialer Skandalisierung.
Die Bewirtschaftung von Tieren war auch davor eine moralische Wirtschaftspraktik. Vermeidbare Vernachlässigung der Tiere vertrug sich weder mit dem Geldbeutel der Bauern und Bäuerinnen, noch mit der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichenden göttlichen Schöpfungsverantwortung für die in menschliche Obhut gegebenen Wesen, die zum bäuerlichen Selbstverständnis gehörte.
Spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem rasanten Bedeutungsverlust der Landwirtschaft war diese in ihrer modernen Ausprägung auch öffentlich als moralisches Geschäft definiert. Nahrungsmittelherstellung und Kulturpflege waren die Argumente, um öffentliche Gelder zugunsten der Bauern zu mobilisieren und den Schrumpfungsprozess der Landwirtschaft hinsichtlich der Anzahl der Höfe zu bremsen. Was in den Ställen geschah, labelten landwirtschaftliche Interessenvertreter deshalb als rundum „gute Sache“. Gute Menschen taten Gutes, indem sie die nationalökonomische Lebensgrundlage erwirtschafteten und dabei Tradition, Brauchtum sowie die Landschaft pflegten. In den Jahren nach 1945, in einer von Ernährungsmangel traumatisierten Gesellschaft, stieß diese Lesart von Landwirtschaft ein letztes Mal auf große Resonanz und ließ das Ökonomische des Landwirtschaftens rhetorisch, und damit im öffentlichen Bewusstsein, weiter in den Hintergrund treten.
Hühner im Käfig
Das vertrug sich schlecht mit dem Geschehen in den Ställen, das seit 1945 stärker als bisher entlang ökonomischer und weniger entlang natürlich-zyklischer Gesetzmäßigkeiten organisiert wurde. Das Paradeprodukt dieser Entwicklung war die Geflügelkäfighaltung. Es war deshalb kein Zufall, dass sich hier die neue gesellschaftliche Diskussion über die legitime Tiernutzung entzündete. Konnte es kulturell wertvoll sein, ungekannt viele Tiere, präventiv medikamentös therapiert, auf engstem Raum zu halten? Landwirtschaft verstanden als „gutes“ Geschäft verlor an Glaubwürdigkeit. Das effiziente Wirtschaften im Geflügelstall geriet in Widerspruch mit dem Bild, das die Landwirtschaft von sich selbst entworfen hatte. Die Geflügelkäfighaltung war Speerspitze und Katalysator dieser Entwicklung, die sich in der Folge auf sämtliche Spielarten landwirtschaftlicher Tierhaltung ausdehnte.
Die Entwicklung der Geflügelhaltung war besonders radikal. Aus dem traditionellen Zubrot der Bauersfrau wurde derjenige Betriebszweig der Tierhaltung, der die höchste Rendite versprach. Die Triebkräfte hinter der Dynamik im Hühnerstall waren neben einer ungebrochenen Nachfrage nach ganzjährig günstigen Eiern und dem neuen Trendfleisch Brathähnchen die politischen Ziele der Selbstversorgung und der Produktivitätssteigerung der deutschen Landwirtschaft im europäischen Wettbewerb.

Käfighaltung von Legehennen; Quelle: YouTube.com
Statt der vormaligen zehn, zwanzig oder dreißig, wurden Ende der 1950er Jahre Tausende, keine zehn Jahre später bereits Zehntausende Hühner unter einem Dach gehalten. Das in staatlichen Forschungseinrichtungen wie der Bundesforschungsanstalt für Kleintierzucht in Celle gewonnene Wissen ermöglichte es, die Biologie der Tiere in die linearen Rhythmen industrieller Produktion einzupassen. Ein Licht- und Temperaturprogramm gaukelte den Hennen ganzjährig glaubhaft vor, es sei Frühling, sodass ihre herbstwinterliche Legepause, die Mauser, bald der Vergangenheit angehörte. Zusätzlich sorgte ein vitaminisiertes Hühnerfutter dafür, dass ihre Körper auch ohne selbstgepickte Würmer aus dem Boden funktionstüchtig blieben. Zuvor war der Auslauf der Hühner unabdingbar für die Vermeidung von Mangelerscheinungen gewesen. Dabei hatte die Verhaltenseigenart der Hühner, sich nicht weiter als 40 Meter in eine Richtung zu bewegen, die maximale Größe einer Hühnerherde begrenzt, da jedes Huhn um die 10 Quadratmeter Boden für seine Nährstoffversorgung brauchte.
Diese Rechnungen gehörten seit etwa 1960 der Vergangenheit an. Jetzt wurde von Geflügelverhaltensforschern wie beispielsweise Alfred Mehner in Celle berechnet, um welchen Faktor sich die möglichen Hackordnungen bei einer Erhöhung der Käfigbelegung von drei auf vier Hennen vermehrten. Hühnerhalterinnen und -halter hingegen berechneten, dass mehr Tiere im gleichen Raum „den Herstellungspreis“ der Tiere massiv sinken ließen. Die größere Zahl der Tiere, in den dreistöckigen sogenannten Käfigbatterien – die über- und nebeneinander gestapelten Käfige erinnerten an die Stromzellen einer Batterie – gar bis zu über 20 Hühner pro Quadratmeter, ging durch neue Haltungstechniken mit keiner entsprechend steigenden Betreuungsarbeit der Tiere einher. Ganz im Gegenteil, erst die neuen großen Herden lohnten die Investition für neue Haltungstechniken. Förderbänder brachten jeder Käfigetage per Knopfdruck ihr Futter und transportierten die aus den Käfigen gerollten Eier zur Eiersammelstelle. Tränken für eine kontinuierliche Wasserversorgung fanden sich zur Selbstbedienung der Tiere an jedem Käfig. Mit Blick auf die Hühnerwirtschaft verwundert es nicht, dass „ein Landwirt in Deutschland“ mit seiner Arbeitskraft im Jahr 1949 zehn Menschen und im Jahr 2016 135 Menschen ernähren konnte.
„Ein Platz für Tiere“
Diese betriebswirtschaftlich so erfreulichen Zusammenhänge waren der westdeutschen Öffentlichkeit spätestens seit dem 13. November 1973 nicht mehr geheuer. An diesem Dienstagabend zeigte die beliebte Tiersendung Ein Platz für Tiere des Frankfurter Zoodirektors Bernhard Grzimek nicht wie üblich afrikanische Tiere in freier Natur, sondern deutsche Hühner im Käfig. Die Ausstrahlung der Sendung überführte eine zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre andauernde Debatte über die Legitimität der neuen Methoden landwirtschaftlicher Tierhaltung aus Expertenkreisen in die breite Öffentlichkeit.
Die deutschen Landwirte und ihre Vertreter strebten schon seit Mitte der 1960er Jahre eine neue juristische Basis für die landwirtschaftliche Tierhaltung an. Sie wollten sich der neuen Produktionsmethoden bedienen, ohne zu befürchten, ihren Laden nach getätigter Investition aus Tierschutzgründen schließen zu müssen.

Ruth Harrison, Animal Machines, 1964; Quelle: kimstallwood.com
Die „neue Empfindlichkeit“ gegenüber den zur Lebensmittelherstellung gehaltenen Tieren war 1965 noch kein westdeutsches Massenphänomen, aber sie nahm in einer transnationalen Diskussion bereits Form an. „[T]he animal is not allowed to live before it dies“, schrieb die Engländerin Ruth Harrison 1964 in ihrem Buch Animal Machines. Das 1965 unter dem Titel Tiermaschinen ins Deutsche übersetze Buch, das die neuen Methoden der Geflügel- und Kälberhaltung anprangerte, verursachte in der Bundesrepublik trotz seiner Besprechung in allen größeren Zeitungen keine der englischen Öffentlichkeit vergleichbare Unruhe. Doch das war für die deutsche Bauernschaft nur eine Frage der Zeit, weshalb die Novellierung des Tierschutzgesetzes rasch Rechtssicherheit bieten sollte. Das neue Gesetz passierte am 21. Juni 1972 unter Zustimmung aller Parteien den Deutschen Bundestag.
Doch die in der Verantwortung des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten liegende Formulierung der Ausführungsbestimmungen, was die Worte des Gesetzes im Stall bedeuten sollten, erwies sich als Herkulesaufgabe und Sisyphusarbeit zugleich. In einem Jahr für Jahr an Schärfe zunehmenden Ton hatten Geflügelexperten und -expertinnen seit 1967 vergeblich versucht, sich auf Haltungsrichtlinien zu einigen. Die Ausstrahlung von Grizmeks Geflügelsendung im November 1973 machte die moralische Unsicherheit zu einem populären Phänomen. Bei Jürgen Nicolai, einem Geflügelexperten am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen riefen im Anschluss an die Sendung tagelang Verbraucher an, die nun um die moralische Integrität ihres Frühstückseis besorgt waren. So radikalisierte sich die öffentliche Diskussion im Vakuum der ausstehenden juristischen Befriedung der offenen Frage nach der Rechtmäßigkeit der Geflügelkäfighaltung seit Mitte der 1970er Jahre unaufhaltsam. „KZ-Hühner“ müssten in „KZ-Haltung“ „KZ-Eier“ legen, schrieben die Gegner der Käfighaltung in den 1970er Jahren; ihre Befürworter klagten (erfolglos) und verwiesen auf das Selbsterhaltungsinteresse des Menschen.
Doch der wachsende Wohlstand – die Ausgaben für Lebensmittel sanken ununterbrochen – desavouierte das Selbsterhaltungsinteresse als Argument. Nahrungsmittel zu produzieren genügte nicht länger als Legitimation für sämtliche Praktiken der Tierhaltung. Umso weniger, als sich die Deutschen in den 1970er Jahren bereits mehr um Bauchfett und Cholesterinwerte sorgten als um ihre „Selbsterhaltung“.
Ernährung und Moral im Wohlstand
Durch das Aufkommen von Vegetarismus und Veganismus seit den 1990er Jahren erreichte die Moralisierung landwirtschaftlicher Tierhaltung trotz politischer Reaktionen wie dem Verbot der Käfighaltung 2012 immer neue Höhen. In den 1970er Jahren waren Eier aus Bodenhaltung noch die maximal vorstellbare Alternative für Gegner und Gegnerinnen der Geflügelkäfighaltung. Heute sind genau diese Eier das enfant terrible im Eierregal des Supermarkts, der inzwischen mehrere Sorten Bioeier anbietet.
In der tierethisch argumentierenden Ablehnung industrieller Tierhaltung kommt zusammen, was den gegenwärtig „guten Menschen“ ausmacht. Deshalb ist der Erfolg dieser Gegenbewegung ungebrochen. Die Reduktion von oder der Verzicht auf tierische Lebensmittel, aber auch bereits artikulierte Kritik an gegenwärtigen Praktiken landwirtschaftlicher Tierhaltung (Sauen in Kastenständen, standardisiertes Töten männlicher Küken, vernachlässigte Rinder in LKWs) fungieren als Distinktionsmerkmal in der Überflussgesellschaft. Die Ablehnung landwirtschaftlicher Tierhaltung und ihrer Produkte erlaubt zugleich, auf sich und seinen Körper zu achten, das Klima zu schützen und unaufwändig Verantwortung gegenüber anderen Lebewesen zu übernehmen – und das ist für postmoderne Individuen auf moralischer Sinnsuche hochattraktiv.