
2020 und 2021 aktualisiert sich das Misstrauen auf dramatische Weise. Anlass geben insbesondere zwei Ereignisse: Selbsternannte ‚Querdenker*innen‘ bringen sich im pandemischen Ausnahmezustand in Stellung und stoßen in Berlin protestierend bis auf die Stufen des Reichstags vor; eine Trump-Anhängerschaft wiederum stürmt, nachdem der abgewählte Präsident ostentativ von gestohlener Wahl gesprochen hat, das Kapitol in Washington. Im gewaltsamen Angriff auf diese gleichermaßen symbolischen wie praktischen Orte der Demokratie findet das Misstrauen in ‚die’ traditionelle Politik und in das von ihr favorisierte Wissen seine eskalative Inszenierung und zwei seiner diskursiven Höhepunkte.
Die Reaktionen fallen bisweilen düster aus: Ein immenser Vertrauensverlust sei zu beklagen, die Demokratie, die auf Vertrauen und Transparenz angewiesen sei, in großer Gefahr. Das Misstrauen ist spätestens ab jetzt basso continuo: Es wachse ein Klima des Misstrauens, der Angst und Aggression, das Politische und Soziale organisiere sich neu im Zeichen des Misstrauens, im Zeichen des Misstrauens erodiere eine geteilte Wirklichkeit.
Die Misstrauischen
Das Misstrauen des Trumpismus’ und ‚Querdenkens‘ ist gewendet gegen Konsens und Konvention, einen angeblichen Mainstream, gegen klassische Medien und kritische Fakultäten und sämtliche Institutionen, die Wissen kuratieren. Ebenso gegen Vertreter*innen der repräsentativen Demokratie und deren Ratgeber*innen, die auf der Hinterbühne vermutet und als politisches Establishment begriffen werden. Im Grunde taucht alles auf, was Luc Boltanski schon 2012 in seinem Buch Rätsel und Komplotte als standardisiertes verschwörungstheoretisches Tableau bezeichnet hat: „Misstrauen gegenüber Eliten und Medien, Glaube an Manipulationen, Ablehnung von offiziellen Informationen zugunsten von Geschwätz aus dem Internet usw.“ Das Misstrauen richtet sich an einer Macht aus, die angeblich klandestin eigene Interessen verfolgt: Neben der technokratischen Elite können das in einer zumeist verkürzten, ressentimentgeladenen Kapitalismuskritik finanzstarke Konzerne und Personen sein, die das politische Geschehen unbemerkt von einer schlafenden Öffentlichkeit orchestrieren. Weil sie etwa von einem Ausnahmezustand wie der Corona-Pandemie profitiert, so legt die Logik der konspirationistischen Erzählung nahe, muss diese Macht sie auch herbeigeführt haben.
Gegen solch dunkle Macht positionieren sich die Misstrauischen lautstark mit einer besonderen Form von Wissen: mit ‚alternativen Fakten‘, mit ihrer ganz ‚eigenen Meinung‘, mit ihrer ‚eigenen Wahrheit‘ – und fordern liberal-demokratische Ordnungen aufs Äußerste heraus. Worin der Affront besteht, zeigt sich im Blick auf das Misstrauen, darauf, welches Misstrauen auf dem Feld des Wissens und des Politischen ins Spiel gebracht wird – und auf dem Spiel steht. Der Diskurs des Trumpismus’ und des selbsternannten ‚Querdenkens‘ ist nämlich deshalb so schlagend, weil er bestimmte, kulturell angesehene Misstrauensprozeduren kapert.
Skepsis vs. Gegenwissen
Zum einen reklamiert er epistemologische Misstrauensprozeduren für sich, die eine lange und ehrwürdige Tradition haben. Über den Begriff der Impfskepsis wird beispielsweise die Skepsis adressiert, die sich aus dem Altgriechischen als Betrachtung, Untersuchung und Prüfung übersetzen lässt und in der Antike als Skeptizismus ein planvolles Hinterfragen beschreibt. Ab dem 16. Jahrhundert verschafft sie sich erneut Geltung und lässt sich mit illustren Namen verbinden: Montaigne erinnert sich an die Haltung, die alles fragwürdig macht, Descartes’ formuliert den methodischen Zweifel als Vorgang der Wissensproduktion, Voltaire macht den Zweifel zur Maxime, Hume systematisiert die Skepsis erneut. Mithin wird als Skepsis organisiertes Misstrauen zur wissenschaftlichen Tugend: Es wird Handlungsmotiv moderner Wissenschaft, die seit der Aufklärung nichts mehr bedenkenlos glauben darf, für die das, was gegolten hat, nicht unumstößlich ist – weil nun alles Wissen relativ und vergänglich ist. Die Wissensprozeduren sind von Wissenshunger und imaginativer Rastlosigkeit getrieben, sie gehören ganz elementar zur Forschung. Entsprechend hat Luhmann schon 1968 – zu einer Zeit, als die Vertrauensforschung noch nicht explodiert, schon gar nicht aber das Misstrauen der Rede wert war – in seiner einschlägigen Studie zum Vertrauen neben den Richter*innen nur den Forscher*innen als Haltung das Misstrauen verordnet.
Deswegen bringt das Wissen des Trumpismus’ und insbesondere des selbsternannten ‚Querdenkens‘ große Anstrengungen auf, um sich den Anschein der Wissenschaftlichkeit zu geben. Es führt Fußnoten an, nennt akademische Titel und renommierte Institutionen. Dass es sich dann aber den Regeln der wissenschaftlichen Legitimierung und Debatte entzieht, ist eine der Besonderheiten eines Wissens, das von einer Forschungsgruppe zur Misstrauensgemeinschaft der ‚Querdenker‘ um Sven Reichardt als Gegenwissen oder von Eva Horn als Besserwissen beschrieben wird. Solches Wissen verdankt sich der eigenen Produktion und Distribution. Es kann die Form eines Gefühlswissens annehmen, erscheint als Intuition oder ‚Hausverstand‘. Es gibt sich mal akademisch, mal als vermeintlich authentisches und ideologisch nicht zugerichtetes Wissen – um sich in hochspezialisierte Forschungsdiskurse einzumischen und Zweifel in wissenschaftliche Expertise einzustreuen. Dabei bleibt es selbst meist vage, hantiert mit Halbwahrheiten und brüchigen Wahrheiten, welche die gesamte Faktenstruktur irritieren, indem sie die Unterscheidungslinie zwischen wahr und falsch, Wissen und Glauben, Tatsachen und Meinungen suspendieren. Ebenso verwischt der Unterschied zwischen Laien und Spezialist*innen. Der Diskurs suggeriert, jede*r könne Expert*in werden. Mit der Pointe, dass das Gegenwissen souveränisiert: Es generiert ein außergewöhnliches, waches Selbst, das Initiative, Mut und Avantgardebewusstsein für sich in Anspruch nimmt – und sich den Anschein eines parrhesischen, eines rückhaltlos wahrsprechenden Subjekts gibt.
Gegenmacht vs. Antipolitik
Zum anderen beansprucht der Diskurs des Trumpismus’ und des selbsternannten ‚Querdenkens‘ politische Misstrauensprozeduren für sich. Sie sind erst neuerdings als Form einer produktiven Gegenmacht von Pierre Rosanvallon rehabilitiert, für die Forschung entdeckt, theoretisiert und historisiert worden. In Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens ist beschrieben, wie sich diese Gegenmacht seit 1800 parallel zu liberal-demokratischen Ordnungen entwickelt hat. Ihr Initial ist das Paradox der Demokratie, deren Geschichte eine der verhinderten Erfahrung und verratenen Utopie ist: Von Anfang an war mit ihr das Versprechen verbunden, ein egalitäres, parlamentarisch-repräsentatives System einzurichten, das aber nie realisiert werden konnte. Dadurch ist das Politische in einem durch interne Spannungen charakterisierten Feld begründet. Demokratische Systeme produzieren also immer Widerstände: Misstrauen, das Druck auf die Machthabenden ausübt und die Form von Überwachung, Verhinderung und Urteilsprüfung annimmt – letztere ist mit dem Gedanken verbunden, dass die Regierten das Recht haben, über die Regierenden zu richten. Die misstrauischen Prozeduren erzeugen indirekte Kräfte, die sich auf die Gesellschaft verteilen und den Einfluss der Regierten auf andere Weise wirksam werden lassen als durch Wahlen. Die Gegenmacht schwächt dabei die Demokratie nicht, sondern stärkt sie. Sie will infrage stellen, untersuchen, kritisieren und korrigieren, nicht aber – und das ist wichtig – die Macht übernehmen.
Mit Trumpismus und ‚Querdenken“ verschafft sich indes eher ein Politikstil Geltung, den Jacques de Saint Victor 2015 in einem viel rezipierten Essay ebenfalls mit Misstrauen in Verbindung gebracht, aber als Antipolitik beschrieben hat: als Form des pauschalen Einspruchs, der sich nicht an die demokratischen Standards und Regeln halte, als Form der Opposition um der Opposition willen, die vor allem eines sei: dagegen. Antipolitik äußert sich als Politikverdrossenheit und Misstrauen gegenüber den Regierenden, den traditionellen Eliten und Institutionen. Ist sie netzaffin, sollen diese durch eine digitale Polis oder direkte „Klick-Demokratie“ ersetzt werden, von der man sich einen unmittelbaren Ausdruck des Volkswillens verspricht, der sich wiederum der souveränen Expertise im digitalen Raum verdankt. Teilhabe am politischen Geschehen jedenfalls steht aktuell unter feindlichen Vorzeichen. Die Misstrauischen verstehen sich nicht als Mitproduzenten einer gemeinsamen Welt.
Die Rede von zwei Formen des Misstrauens – einem mit Gegenmacht verbundenen produktiven Misstrauen und von seinem Gegenspieler, dem mit Antipolitik verbundenen destruktiven Misstrauen – kommt leichtfüßig daher. Sie mischt sich in eine gängige Rede ein, die das Misstrauen über eine Dichotomie konstruiert. Die Aufteilung in ein legitimes gesundes und funktionales auf der einen Seite und ein pathologisch pervertiertes und dysfunktionales Misstrauen auf der anderen Seite setzt so gut wie immer Vorstellungen seiner richtigen Dosierung voraus. Oder sie korrespondiert mit der Aufteilung in ein Misstrauen, das sich als gemäßigtes an den Verstand, und eines, das sich als exaltiertes an die Affekte wendet. Letztlich aber bleibt die Frage, wo genau das eine in das andere umschlägt, wann die kritische Loyalität der misstrauischen Gegenmacht in misstrauische Antipolitik umschlägt, neuralgischer Punkt.
Frontalstellung
Selten hat die Frage soziale Gefüge so erodieren lassen wie zu Zeiten von Trumpismus und pandemischem Ausnahmezustand. Letztlich zielt sie aber nur auf einen Teil des Problems. Das Besondere am Trumpismus und selbsternannten ‚Querdenken‘ ist, dass sie beide auf strategisch unerhört kluge Weise die als kultiviert geltenden Misstrauensprozeduren für sich reklamieren. Dergestalt machen sie sich die Unbeantwortbarkeit der Frage zunutze.
Es ist hier nicht unerheblich, wie sehr sich das Gegenwissen durch seine Lage auszeichnet: Es geht in Frontalstellung und will polarisieren. Gerade im Hinblick auf die Pandemie ist es besonders klar zu unterscheiden von einem Misstrauen, das sich mit Verunsicherung paart. Auch ist das Gegenwissen der Querdenker*innen kein Untersuchungswissen über in der Tat neue Formen der staatlichen Steuerung von Denk- und Verhaltensweisen. Und schon gar nichts hat es zu tun mit dem, was es sich mit der Selbstbezeichnung kurzerhand aus dem Coaching-Bereich begrifflich angeeignet hat: das Querdenken im Sinne eines spielerischen, unorthodoxen und kreativen Denkens. Wirkung zeigt sein bisweilen großspurig kritischer Auftritt und die notorische Ausrichtung in Opposition zu dominanten Einschätzungen und offiziellen Erklärungen. Gerade seine Inszenierung als Heterodoxie gibt den Ausschlag. Sie macht das gehaltlose Gegenwissen zum politisierten Aktionswissen. Der Stil ist – zumindest, solange die Macht erobert werden soll – mehr von Belang als Inhalte und Argumente.
In Frage steht angesichts dessen, wie sehr im antipolitischen Diskurs Misstrauen überhaupt eine Rolle spielt – jenseits von einem, das man verkürztes Misstrauen nennen könnte: im Sinne eines Nichtvertrauens, das keine epistemischen Anstrengungen unternimmt und in dem sich vor allem anderen Ablehnung stark macht. In Frage steht sogar, ob es überhaupt eine Rolle spielt – jenseits dessen, ob man es für wachsam oder blind hält. Dahingehend bräuchte es möglicherweise auch gar nicht den Diagnosen vom wachsenden Misstrauen zuzustimmen oder zu widersprechen.
Fragezeichen!
Unverkennbar aber will der Diskurs von Trumpismus und selbsternanntem ‚Querdenken‘ Wissen und Macht destabilisieren. Offensichtlich ist, dass er dafür Misstrauen sät – also eine uralte Machttechnik ins Spiel bringt. Vor allem entscheidend ist jedoch die rigorose Inanspruchnahme des Misstrauens von antipolitischer Seite her. Aktueller Trumpismus und selbsternanntes ‚Querdenken‘ kapern das Misstrauen, um Schlagkraft für ihre politische Agenda zu gewinnen, setzen es rhetorisch und narrativ in Szene, machen es zum Instrument. Etwa, wenn sie vorgeben, ihr ungezügeltes Misstrauen gegenüber Tatsachen führe dazu, wie Bruno Latour und Steven Woolgar Ende der 1970er Jahre sozialkonstruktivistische Kritik zu üben und als Fakten verkleidete ideologische Argumente aufzudecken. Oder etwa, wenn sie so tun, als wären sie wirklich verwundert, als ginge es ihnen um das Stellen von Fragen, als würden sie nicht wissen und mehr wissen wollen – und doch alles längst besser wissen. Das Fragezeichen als Interpunktionszeichen des Misstrauens wandelt sich schnell in ein Ausrufezeichen. So artikulieren sie eher Geltungsansprüche, weil solche nichts mit imaginativer Energie, weil solche nichts mit der Ausdehnung von Möglichkeitsräumen zu tun haben, weil solche mit der Offenheit und Ungewissheit, worauf eine Untersuchung hinausläuft, unvereinbar sind.
Sie kapern das Misstrauen, wenn sie die Kultur einer lebendigen politischen Debatte schlicht und ergreifend abstreiten, wenn sie behaupten, es gäbe keinen vielstimmigen wissenschaftlichen Diskurs. Oder wenn sie den durch Wahlen legitimierten Kontrollinstanzen wie der parlamentarischen Opposition ihre Funktionstüchtigkeit glattweg absprechen, wie es gegen die Corona-Maßnahmen Protestierende oftmals tun. Sie kapern das Misstrauen, wenn sie in höchste Erregung versetzt an die Gegenmacht appellieren und sich an ihren Ort imaginieren. Wenn sie den Anschein erwecken wollen, die politische Kraft der misstrauischen Prozeduren zu reanimieren, dann aber deren Regeln und Standards torpedieren.
Diese Instrumentalisierung des Misstrauens ist die bigotte Wendung, mit der sich Trumpismus und selbsternanntes ‚Querdenken‘ so schwer anfechtbar machen. Die Inanspruchnahme des Misstrauens immunisiert sie, macht sie resistent gegen Einwände. Ihr Diskurs bezieht Energie aus dem liberal-demokratischen System, das er mit einer widerstandskämpferischen Geste abstreitet, parasitär erhält er sich bei Kräften. Er nährt sich auf Kosten dieses Systems mit seinen interventionistischen Spielräumen, die er negiert und unterhöhlt, indem er von Tyrannei oder Diktatur spricht. Und er bedient sich am Misstrauen, entwendet ihm die Frage und macht sie zu einer suggestiven, rein rhetorischen: ob unter der Oberfläche nicht eine ganz andere Wirklichkeit versteckt ist, ob die Dinge nicht doch ganz anders sind, als sie scheinen…