Am 14. Dezember wird die Verhandlung über ein Verbot von „Memorial International“ in Russland vor dem obersten Gericht in Moskau fortgesetzt. Doch weder Memorial noch die von Memorial geleistete historische Rekonstruktion der vergangenen und gegenwärtigen Verbrechen gegen Menschen- und Bürgerrechte wird man zum Verschwinden bringen können.

  • Franziska Thun-Hohenstein

    Franziska Thun-Hohenstein, Slavistin, Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, seit 2007 Herausgeberin der deutschsprachigen Warlam-Schalamow-Werkausgabe bei Matthes & Seitz Berlin. In Kürze erscheint im gleichen Verlag ihr Buch: „Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik“.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Das Gedächtnis der Menschen lässt sich nicht vernichten
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Die Doku­mente unserer Vergan­gen­heit sind vernichtet, die Wach­türme abge­sägt, die Bara­cken dem Erdboden gleich­ge­macht, der rostige Stachel­draht aufge­wi­ckelt und an einen anderen Ort gebracht. Auf den Ruinen der Serpan­tinka blüht das Wald­wei­den­rös­chen – die Feuer­blume, Blume des Verges­sens, der Feind der Archive und des mensch­li­chen Gedächt­nisses. Hat es uns gegeben? Ich antworte: „ja“ – mit der ganzen Bered­sam­keit des Proto­kolls, mit der Haftung und Strenge des Dokuments.

Warlam Scha­lamow, russi­scher Dichter und Schrift­steller, Über­le­bender der Zwangs­ar­beits­lager des GULag in der eisigen Kälte der fern­öst­li­chen Kolyma-Region, schrieb diese Sätze aus der Erzäh­lung „Der Hand­schuh“ im Früh­jahr 1971, zu einer Zeit, als in der Sowjet­union die Re-Stalinisierung voran­ge­trieben wurde. Scha­lamow schrieb im quälenden Bewusst­sein, dass die von Chruscht­schow in der „Tauwetter“-Zeit begon­nene Aufklä­rung über den Massen­terror unter­bunden wurde und die Verbre­chen an der eigenen Bevöl­ke­rung wieder tabui­siert wurden. Fünfzig Jahre später versucht die poli­ti­sche Macht in Russ­land erneut, das Gedächtnis der russi­schen Gesell­schaft auszu­lö­schen: Am 11. November 2021 bean­tragte die Gene­ral­staats­an­walt­schaft der Russi­schen Föde­ra­tion die Auflö­sung der Inter­na­tio­nalen Gesell­schaft für histo­ri­sche Aufklä­rung, Menschen­rechte und soziale Fürsorge „Memo­rial“. Am 14. Dezember wird die Verhand­lung fortgesetzt.

„Memo­rial“ auf der Buch­messe mit der „korrekten“ Selbst­wer­bung: „russi­sche juris­ti­sche Person, die die Funk­tion eines auslän­di­schen Agenten erfüllt.“ Quelle: facebook

„Memo­rial“ wird vorge­worfen, syste­ma­tisch Auflagen verletzt zu haben, die mit der vor einigen Jahren erfolgten Einstu­fung als „auslän­di­scher Agent“ verbunden sind. Gemeint ist die Verpflich­tung, jede Publi­ka­tion mit der Markie­rung als „auslän­di­scher Agent“ zu versehen, ein Vorgehen, das an die stali­nis­ti­sche Brand­mar­kung als „Volks­feind“ erin­nert.

Die Anwälte von „Memo­rial“ stellten bei der ersten Verhand­lung klar, dass in den wenigen Fällen, in denen die Markie­rung vergessen wurde, die admi­nis­tra­tive Strafe längst entrichtet worden war. Das poli­ti­sche Ziel der beab­sich­tigten Liqui­die­rung von „Memo­rial“ ist offen­sicht­lich. Ein Verbot des inter­na­tio­nalen Dach­ver­bands von Memo­rial in Moskau würde bedeuten, dass auch die lokalen Memo­ri­al­ver­bände unter Druck geraten, dass kaum noch, wie auf der Website von „Memo­rial Deutsch­land“ formu­liert, „über aktu­elle und vergan­gene Menschen­rechts­ver­let­zungen geforscht, geschrieben und kritisch gespro­chen werden könnte sowie Archiv­be­stände von unschätz­barem histo­ri­schen Wert für die Öffent­lich­keit nicht mehr zugäng­lich sein würden.“

Von der Verdrän­gung zur Aufarbeitung

Vier­zehn Jahre lang war Scha­lamow Häft­ling, die Folgen der durch­lebten physi­schen und psychi­schen Gewalt ließen ihn zeit­le­bens nicht mehr los. Mit seinen Erzäh­lungen aus Kolyma wollte er nicht nur den Toten der Kolyma-Lager ein Denkmal setzen. (Die im Zitat erwähnte Serpan­tinka war ein Ort von Massen­er­schie­ßungen.) An die Stelle der vernichtet geglaubten Doku­mente über die Verbre­chen setzte Scha­lamow eine Prosa, die „durch­litten ist wie ein Doku­ment“. Für ihn stand außer Frage, dass das wirk­liche Ausmaß der staat­lich orga­ni­sierten Vernich­tung der eigenen Bevöl­ke­rung aufge­deckt werden müsse. Die Menschen müssten wissen, was mit dem Indi­vi­duum in einem Raum geschieht, in dem selbst das „Mini­mal­pro­gramm der Huma­nität“ (Walter Benjamin) außer Kraft gesetzt ist. Doch der Sowjet­staat tabui­sierte die Wahr­heit. Reha­bi­li­ta­tionen fanden prak­tisch nicht mehr statt. Scha­la­mows Texte – wie die vieler anderer Über­le­bender des GULag – wurden bis zu seinem Tod am 17. Januar 1982 nicht gedruckt. Alex­ander Solsche­ni­zyns 1962 publi­zierte Erzäh­lung „Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch“ blieb die Ausnahme. In den infor­mellen Kommu­ni­ka­ti­ons­kreisen des Sami­zdat kursierten nur wenige Texte (u.a. einige Erzäh­lungen Scha­la­mows und Jewge­nija Gins­burgs Grat­wan­de­rung). Die Über­le­benden sollten schweigen. Viele verdrängten das Durch­lebte, um nicht alte Wunden aufzu­reißen. Ihre Geschichten, ebenso wie die der unzäh­ligen Toten und Verschwun­denen blieben der Öffent­lich­keit, oftmals sogar der eigenen Familie verborgen.  

Das änderte sich erst mit Michail Gorbat­schow. Zu seiner Politik der Pere­stroika, des Umbaus der sowje­ti­schen Gesell­schaft, gehörte die Glas­nost (Offen­heit), die Aufde­ckung der Wahr­heit über gegen­wär­tige und vergan­gene Verwer­fungen im russi­schen (bzw. sowje­ti­schen) 20. Jahr­hun­dert. Aller­dings geschah das nicht ohne Wider­stand und war von harten Kontro­versen begleitet. Die Akti­visten aus Kreisen der kriti­schen Intel­li­gen­zija und der Dissi­denz, die bereits in den Jahren zuvor insge­heim begonnen hatten, Tonband­in­ter­views mit Über­le­benden zu führen, erkannten, wie wichtig es war, diese Arbeit fort­zu­setzen und syste­ma­tisch abzusichern.

In zahl­rei­chen Regionen der Sowjet­union entstanden Initia­tiv­gruppen mit dem Ziel, die Erin­ne­rung an die Opfer von Repres­sionen wach­zu­halten. Diese Bewe­gung von unten, aus der Zivil­ge­sell­schaft heraus, führte im Sommer 1989 zur Wahl eines Gesell­schaft­li­chen Rates von „Memo­rial“, zu dessen ersten Vorsit­zenden der Menschen­rechtler Andrej Sacharow gewählt wurde. Seine Person wurde zum Symbol, dass die histo­ri­sche Aufklä­rung und die Sensi­bi­lität für Menschen­rechts­ver­let­zungen in der Gegen­wart nicht vonein­ander zu trennen waren. 

Virtu­elle Aussa­tel­lung über Andrej Sacharow auf den Seiten von „Memo­rial“. Quelle: www.memo.ru/ru-ru/

Die Grün­dung von Memorial

Die eigent­liche Grün­dungs­kon­fe­renz der Gesell­schaft für histo­ri­sche Aufklä­rung „Memo­rial“ fand Ende Januar 1989 in Moskau statt. Einige Wochen zuvor druckte die mit einer Auflage von mehr als drei Millionen Exem­plaren popu­läre illus­trierte Wochen­zeit­schrift Ogonjok (Feuer­chen) den Entwurf des Statuts von „Memo­rial“ ab (inklu­sive einer Tele­fon­nummer des Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mi­tees) mit dem Ziel, die Diskus­sion auf eine möglichst breite gesell­schaft­liche Basis zu stellen.

Vor mir liegt Heft 6 des Ogonjok von 1989, deren erste Doppel­seite der erfolgten Grün­dung gewidmet ist. Im kurzen Bericht wird hervor­ge­hoben, die Aufgabe bestehe nicht allein in der Errich­tung von Denk­malen für die Opfer des Stali­nismus. Die Dele­gierten bekräf­tigten, sie müssten so arbeiten, dass „selbst die Luft um die Denk­mäler herum eine andere wird“, damit die Vergan­gen­heit sich nicht wieder­hole. „Die Geschichte des Landes“, heißt es weiter, „ist in Schick­sale zerbrö­selt. Die Aufgabe von ‚Memo­rial‘ ist es, diese Körn­chen zu sammeln. Es sind Millionen, aber ohne die wieder­her­ge­stellte Wahr­heit über jedes einzelne ist es schwer, dem Volk die Vergan­gen­heit zurück­geben.“          

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Die Grün­dung von „Memo­rial“ markierte einen wich­tigen Einschnitt. Von nun an gab es einen konkreten Akteur, dessen Wirken auf die Bewah­rung des Gedächt­nisses gerichtet war, und einen Ort (mit einem Archiv, einer Biblio­thek und einem Museum), an dem die schrift­li­chen und mate­ri­ellen Zeug­nisse aufbe­wahrt wurden. Aktionen und Publi­ka­tionen von „Memo­rial“ lenkten die Aufmerk­sam­keit der Menschen auf die weißen Flecken in der jüngsten Geschichte des Landes, ihrer Region, ihrer eigenen Fami­lien. Die Reso­nanz in der Gesell­schaft war enorm. Über­le­bende, Ange­hö­rige und Bekannte von Opfern wandten sich an „Memo­rial“, über­gaben schrift­liche oder auch mate­ri­elle Zeug­nisse, die das Schicksal vieler Opfer erhellten und einen diffe­ren­zierten Einblick in das Leben im Lager und das Funk­tio­nieren des GULag ermög­lichten. Andere baten um Mithilfe bei der Suche nach Ange­hö­rigen, deren Spuren sich im weit­ver­zweigten Netz von Lagern und Lager­punkten verloren.

Seit 1990 wird im Stadt­zen­trum Moskaus am soge­nannten „Solo­wezker Stein“ den Opfern der Verfol­gungen gedacht. Quelle: bpb.de

Am 30. Oktober 1990 wurde gegen­über dem Sitz des sowje­ti­schen Geheim­dienstes auf dem Moskauer Lubjanka-Platz (damals noch Dserschinski-Platz nach dem Gründer des Geheim­dienstes Felix Dsersch­inski) ein großer Find­ling von den Solowezki-Inseln, dem Ort des ersten Konzen­tra­ti­ons­la­gers in der Sowjet­union, als Denkmal für die Opfer von Terror und Gewalt plat­ziert. Jedes Jahr versam­meln sich an diesem Tag dort viele Menschen und verlesen stun­den­lang Namen von Opfern.

Geschichts­suche

Zur Aufde­ckung der wahren Dimen­sion des Terrors unter Stalin trug wesent­lich die von „Memorial“-Aktivisten voran­ge­trie­bene Suche nach Über­resten von Lagern, Durch­gangs­la­gern bzw. Lage­r­au­ßen­stellen in den verschie­densten Regionen des Landes bei. Die erar­bei­tete Karte des GULag-Systems zeigt den geogra­phi­schen Raum der Sowjet­union, übersät mit grünen Punkten.

Karte des Gulag­sys­tems, erar­beitet von „Memo­rial“, Quelle: www.memo.ru/ru-ru/

Mit der Auflö­sung der Sowjet­union 1991 trat die inten­dierte Netz­werk­struktur von „Memo­rial“ deut­li­cher hervor. Die „Memorial“-Organisationen in den eins­tigen Sowjet­re­pu­bliken arbei­teten (und arbeiten heute) eigen­ständig. Das gilt gleich­falls für die regio­nalen Orga­ni­sa­tionen auf dem Terri­to­rium Russ­lands, für die „Memo­rial Inter­na­tional“ mit Sitz in Moskau eine Art Koor­di­nie­rungs­funk­tion zukommt. Die Zunahme poli­ti­scher Repres­sionen im post­so­wje­ti­schen Raum führte 1991 zur Grün­dung des Moskauer Menschen­rechts­zen­trum „Memo­rial“. Mitar­beiter und frei­wil­lige Helfer sammelten Infor­ma­tionen über die Opfer (auf allen Seiten) der neu entflammten mili­tä­ri­schen Konflikte (insbe­son­dere im Nord­kau­kasus), deckten Menschen­rechts­ver­let­zungen auf und orga­ni­sierten konkrete juris­ti­sche Hilfen für Flücht­linge.         

Wer die Räume von „Memo­rial“ in Moskau betrat, erlebte, wie eng beide Bereiche – die histo­ri­sche Aufklä­rung über den stali­nis­ti­schen Massen­terror und das Eintreten für die Menschen­rechte in der Gegen­wart – im Arbeits­alltag der Mitar­beiter und Helfer mitein­ander verbunden waren.

Anfang der 2000er Jahre arbei­tete ich im Lese­saal von „Memo­rial“, im Keller des Gebäudes im Malyj Karetny Pereulok 12, in dem sich heute die regio­nale Orga­ni­sa­tion der Opfer Poli­ti­scher Repres­sionen „Moskauer Memo­rial“ befindet. Damals sammelte ich Mate­rial für mein Buch ‚Gebro­chene Linien‘. Auto­bio­gra­phi­sches Schreiben und Lager­zi­vi­li­sa­tion. Ich las unver­öf­fent­lichte Berichte Über­le­bender des GULag aus dem Archiv von „Memo­rial“, darunter die Erin­ne­rungen von Chawa Wolo­witsch, die 1937 mit 21 Jahren verhaftet und wegen angeb­li­cher anti­so­wje­ti­scher Propa­ganda zu 15 Jahren Lager­haft verur­teilt wurde. Offen erzählt sie, wie unbändig groß im Lager ihre Sehn­sucht nach etwas Wärme gewesen war, wie sie es wagte, ein Kind zur Welt zu bringen, und wie sie hilflos erleben musste, dass ihr kleines Mädchen, nachdem es von der Mutter getrennt worden war, elendig zugrunde ging.

Eingang ins Gebäude von „Memo­rial“, an der Häuser­wand steht „auslän­di­scher Agent“. Quelle: meduza.ru

Die Lektüre der Erin­ne­rungen erschüt­terte, obgleich ihr Sprach­gestus offen­barte, dass Chawa Wolo­witsch bei aller Verzweif­lung einen erstaun­li­chen inneren Wider­stands­geist entwi­ckelte. Unweit von mir im selben, nicht sehr großen Keller­raum saßen junge Leute an Compu­tern. Was sie genau lasen, kann ich nicht sagen. Von Zeit zu Zeit aber schnappte ich einige Brocken aus ihren spär­li­chen Kommen­taren auf und erahnte die Zusam­men­hänge. Es war die Zeit des Zweiten Tsche­tsche­ni­en­krieges. Damals vermu­tete ich, sie recher­chierten die Schick­sale von Opfern des Krieges – Toten, Vermissten und Kriegs­ge­fan­genen. Vergan­gen­heit und Gegen­wart trafen aufein­ander.  

Geschichte verbieten?

In den mehr als drei Jahr­zehnten seines Bestehens sammelte „Memo­rial“ ein umfang­rei­ches, in Teilen digi­ta­li­siertes Archiv mit Doku­menten zur Geschichte des sowje­ti­schen Straf­la­ger­sys­tems, seinen Opfern, aber auch den Tätern, ebenso wie zu den bisher kaum erforschten Schick­salen von Ostar­bei­tern, zur Geschichte der Dissi­denz wie zu aktu­ellen Verlet­zungen von Menschen­rechten. Ange­sichts der von Putin forcierten Geschichts­po­litik, die einseitig die militär-patriotischen Erfolge betont, kommt dem von „Memo­rial“ seit 1999 durch­ge­führten Schü­ler­wett­be­werb „Der Mensch in der Geschichte. Russ­land – 20. Jahr­hun­dert“, dessen Beiträge in Form von Sammel­bänden publi­ziert werden, ein ganz beson­derer Wert für die Zukunft der russi­schen Zivil­ge­sell­schaft zu.

Die Mitar­beiter von „Memo­rial“ lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Arbeit selbst in dem Fall fort­setzen werden, wenn der staat­liche Angriff zu einer Auflö­sung ihrer Orga­ni­sa­tion führen sollte. Nicht nur inter­na­tional, auch in Russ­land regt sich Protest gegen eine Anklage, deren rein poli­ti­sche Moti­va­tion auf der Hand liegt. Allein in Russ­land haben über 100.000 Menschen eine Peti­tion gegen das Verbot der Orga­ni­sa­tion unter­zeichnet. „Memo­rial“ ist der Macht unbe­quem geworden. Aber aus dem Gedächtnis der Menschen wie aus der Geschichte lässt sich nichts für immer tilgen.