
Die Dokumente unserer Vergangenheit sind vernichtet, die Wachtürme abgesägt, die Baracken dem Erdboden gleichgemacht, der rostige Stacheldraht aufgewickelt und an einen anderen Ort gebracht. Auf den Ruinen der Serpantinka blüht das Waldweidenröschen – die Feuerblume, Blume des Vergessens, der Feind der Archive und des menschlichen Gedächtnisses. Hat es uns gegeben? Ich antworte: „ja“ – mit der ganzen Beredsamkeit des Protokolls, mit der Haftung und Strenge des Dokuments.
Warlam Schalamow, russischer Dichter und Schriftsteller, Überlebender der Zwangsarbeitslager des GULag in der eisigen Kälte der fernöstlichen Kolyma-Region, schrieb diese Sätze aus der Erzählung „Der Handschuh“ im Frühjahr 1971, zu einer Zeit, als in der Sowjetunion die Re-Stalinisierung vorangetrieben wurde. Schalamow schrieb im quälenden Bewusstsein, dass die von Chruschtschow in der „Tauwetter“-Zeit begonnene Aufklärung über den Massenterror unterbunden wurde und die Verbrechen an der eigenen Bevölkerung wieder tabuisiert wurden. Fünfzig Jahre später versucht die politische Macht in Russland erneut, das Gedächtnis der russischen Gesellschaft auszulöschen: Am 11. November 2021 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation die Auflösung der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge „Memorial“. Am 14. Dezember wird die Verhandlung fortgesetzt.

„Memorial“ auf der Buchmesse mit der „korrekten“ Selbstwerbung: „russische juristische Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt.“ Quelle: facebook
„Memorial“ wird vorgeworfen, systematisch Auflagen verletzt zu haben, die mit der vor einigen Jahren erfolgten Einstufung als „ausländischer Agent“ verbunden sind. Gemeint ist die Verpflichtung, jede Publikation mit der Markierung als „ausländischer Agent“ zu versehen, ein Vorgehen, das an die stalinistische Brandmarkung als „Volksfeind“ erinnert.
Die Anwälte von „Memorial“ stellten bei der ersten Verhandlung klar, dass in den wenigen Fällen, in denen die Markierung vergessen wurde, die administrative Strafe längst entrichtet worden war. Das politische Ziel der beabsichtigten Liquidierung von „Memorial“ ist offensichtlich. Ein Verbot des internationalen Dachverbands von Memorial in Moskau würde bedeuten, dass auch die lokalen Memorialverbände unter Druck geraten, dass kaum noch, wie auf der Website von „Memorial Deutschland“ formuliert, „über aktuelle und vergangene Menschenrechtsverletzungen geforscht, geschrieben und kritisch gesprochen werden könnte sowie Archivbestände von unschätzbarem historischen Wert für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich sein würden.“
Von der Verdrängung zur Aufarbeitung
Vierzehn Jahre lang war Schalamow Häftling, die Folgen der durchlebten physischen und psychischen Gewalt ließen ihn zeitlebens nicht mehr los. Mit seinen Erzählungen aus Kolyma wollte er nicht nur den Toten der Kolyma-Lager ein Denkmal setzen. (Die im Zitat erwähnte Serpantinka war ein Ort von Massenerschießungen.) An die Stelle der vernichtet geglaubten Dokumente über die Verbrechen setzte Schalamow eine Prosa, die „durchlitten ist wie ein Dokument“. Für ihn stand außer Frage, dass das wirkliche Ausmaß der staatlich organisierten Vernichtung der eigenen Bevölkerung aufgedeckt werden müsse. Die Menschen müssten wissen, was mit dem Individuum in einem Raum geschieht, in dem selbst das „Minimalprogramm der Humanität“ (Walter Benjamin) außer Kraft gesetzt ist. Doch der Sowjetstaat tabuisierte die Wahrheit. Rehabilitationen fanden praktisch nicht mehr statt. Schalamows Texte – wie die vieler anderer Überlebender des GULag – wurden bis zu seinem Tod am 17. Januar 1982 nicht gedruckt. Alexander Solschenizyns 1962 publizierte Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ blieb die Ausnahme. In den informellen Kommunikationskreisen des Samizdat kursierten nur wenige Texte (u.a. einige Erzählungen Schalamows und Jewgenija Ginsburgs Gratwanderung). Die Überlebenden sollten schweigen. Viele verdrängten das Durchlebte, um nicht alte Wunden aufzureißen. Ihre Geschichten, ebenso wie die der unzähligen Toten und Verschwundenen blieben der Öffentlichkeit, oftmals sogar der eigenen Familie verborgen.
Das änderte sich erst mit Michail Gorbatschow. Zu seiner Politik der Perestroika, des Umbaus der sowjetischen Gesellschaft, gehörte die Glasnost (Offenheit), die Aufdeckung der Wahrheit über gegenwärtige und vergangene Verwerfungen im russischen (bzw. sowjetischen) 20. Jahrhundert. Allerdings geschah das nicht ohne Widerstand und war von harten Kontroversen begleitet. Die Aktivisten aus Kreisen der kritischen Intelligenzija und der Dissidenz, die bereits in den Jahren zuvor insgeheim begonnen hatten, Tonbandinterviews mit Überlebenden zu führen, erkannten, wie wichtig es war, diese Arbeit fortzusetzen und systematisch abzusichern.
In zahlreichen Regionen der Sowjetunion entstanden Initiativgruppen mit dem Ziel, die Erinnerung an die Opfer von Repressionen wachzuhalten. Diese Bewegung von unten, aus der Zivilgesellschaft heraus, führte im Sommer 1989 zur Wahl eines Gesellschaftlichen Rates von „Memorial“, zu dessen ersten Vorsitzenden der Menschenrechtler Andrej Sacharow gewählt wurde. Seine Person wurde zum Symbol, dass die historische Aufklärung und die Sensibilität für Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart nicht voneinander zu trennen waren.

Virtuelle Aussatellung über Andrej Sacharow auf den Seiten von „Memorial“. Quelle: www.memo.ru/ru-ru/
Die Gründung von Memorial
Die eigentliche Gründungskonferenz der Gesellschaft für historische Aufklärung „Memorial“ fand Ende Januar 1989 in Moskau statt. Einige Wochen zuvor druckte die mit einer Auflage von mehr als drei Millionen Exemplaren populäre illustrierte Wochenzeitschrift Ogonjok (Feuerchen) den Entwurf des Statuts von „Memorial“ ab (inklusive einer Telefonnummer des Organisationskomitees) mit dem Ziel, die Diskussion auf eine möglichst breite gesellschaftliche Basis zu stellen.
Vor mir liegt Heft 6 des Ogonjok von 1989, deren erste Doppelseite der erfolgten Gründung gewidmet ist. Im kurzen Bericht wird hervorgehoben, die Aufgabe bestehe nicht allein in der Errichtung von Denkmalen für die Opfer des Stalinismus. Die Delegierten bekräftigten, sie müssten so arbeiten, dass „selbst die Luft um die Denkmäler herum eine andere wird“, damit die Vergangenheit sich nicht wiederhole. „Die Geschichte des Landes“, heißt es weiter, „ist in Schicksale zerbröselt. Die Aufgabe von ‚Memorial‘ ist es, diese Körnchen zu sammeln. Es sind Millionen, aber ohne die wiederhergestellte Wahrheit über jedes einzelne ist es schwer, dem Volk die Vergangenheit zurückgeben.“
Die Gründung von „Memorial“ markierte einen wichtigen Einschnitt. Von nun an gab es einen konkreten Akteur, dessen Wirken auf die Bewahrung des Gedächtnisses gerichtet war, und einen Ort (mit einem Archiv, einer Bibliothek und einem Museum), an dem die schriftlichen und materiellen Zeugnisse aufbewahrt wurden. Aktionen und Publikationen von „Memorial“ lenkten die Aufmerksamkeit der Menschen auf die weißen Flecken in der jüngsten Geschichte des Landes, ihrer Region, ihrer eigenen Familien. Die Resonanz in der Gesellschaft war enorm. Überlebende, Angehörige und Bekannte von Opfern wandten sich an „Memorial“, übergaben schriftliche oder auch materielle Zeugnisse, die das Schicksal vieler Opfer erhellten und einen differenzierten Einblick in das Leben im Lager und das Funktionieren des GULag ermöglichten. Andere baten um Mithilfe bei der Suche nach Angehörigen, deren Spuren sich im weitverzweigten Netz von Lagern und Lagerpunkten verloren.

Seit 1990 wird im Stadtzentrum Moskaus am sogenannten „Solowezker Stein“ den Opfern der Verfolgungen gedacht. Quelle: bpb.de
Am 30. Oktober 1990 wurde gegenüber dem Sitz des sowjetischen Geheimdienstes auf dem Moskauer Lubjanka-Platz (damals noch Dserschinski-Platz nach dem Gründer des Geheimdienstes Felix Dserschinski) ein großer Findling von den Solowezki-Inseln, dem Ort des ersten Konzentrationslagers in der Sowjetunion, als Denkmal für die Opfer von Terror und Gewalt platziert. Jedes Jahr versammeln sich an diesem Tag dort viele Menschen und verlesen stundenlang Namen von Opfern.
Geschichtssuche
Zur Aufdeckung der wahren Dimension des Terrors unter Stalin trug wesentlich die von „Memorial“-Aktivisten vorangetriebene Suche nach Überresten von Lagern, Durchgangslagern bzw. Lageraußenstellen in den verschiedensten Regionen des Landes bei. Die erarbeitete Karte des GULag-Systems zeigt den geographischen Raum der Sowjetunion, übersät mit grünen Punkten.

Karte des Gulagsystems, erarbeitet von „Memorial“, Quelle: www.memo.ru/ru-ru/
Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 trat die intendierte Netzwerkstruktur von „Memorial“ deutlicher hervor. Die „Memorial“-Organisationen in den einstigen Sowjetrepubliken arbeiteten (und arbeiten heute) eigenständig. Das gilt gleichfalls für die regionalen Organisationen auf dem Territorium Russlands, für die „Memorial International“ mit Sitz in Moskau eine Art Koordinierungsfunktion zukommt. Die Zunahme politischer Repressionen im postsowjetischen Raum führte 1991 zur Gründung des Moskauer Menschenrechtszentrum „Memorial“. Mitarbeiter und freiwillige Helfer sammelten Informationen über die Opfer (auf allen Seiten) der neu entflammten militärischen Konflikte (insbesondere im Nordkaukasus), deckten Menschenrechtsverletzungen auf und organisierten konkrete juristische Hilfen für Flüchtlinge.
Wer die Räume von „Memorial“ in Moskau betrat, erlebte, wie eng beide Bereiche – die historische Aufklärung über den stalinistischen Massenterror und das Eintreten für die Menschenrechte in der Gegenwart – im Arbeitsalltag der Mitarbeiter und Helfer miteinander verbunden waren.
Anfang der 2000er Jahre arbeitete ich im Lesesaal von „Memorial“, im Keller des Gebäudes im Malyj Karetny Pereulok 12, in dem sich heute die regionale Organisation der Opfer Politischer Repressionen „Moskauer Memorial“ befindet. Damals sammelte ich Material für mein Buch ‚Gebrochene Linien‘. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Ich las unveröffentlichte Berichte Überlebender des GULag aus dem Archiv von „Memorial“, darunter die Erinnerungen von Chawa Wolowitsch, die 1937 mit 21 Jahren verhaftet und wegen angeblicher antisowjetischer Propaganda zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Offen erzählt sie, wie unbändig groß im Lager ihre Sehnsucht nach etwas Wärme gewesen war, wie sie es wagte, ein Kind zur Welt zu bringen, und wie sie hilflos erleben musste, dass ihr kleines Mädchen, nachdem es von der Mutter getrennt worden war, elendig zugrunde ging.

Eingang ins Gebäude von „Memorial“, an der Häuserwand steht „ausländischer Agent“. Quelle: meduza.ru
Die Lektüre der Erinnerungen erschütterte, obgleich ihr Sprachgestus offenbarte, dass Chawa Wolowitsch bei aller Verzweiflung einen erstaunlichen inneren Widerstandsgeist entwickelte. Unweit von mir im selben, nicht sehr großen Kellerraum saßen junge Leute an Computern. Was sie genau lasen, kann ich nicht sagen. Von Zeit zu Zeit aber schnappte ich einige Brocken aus ihren spärlichen Kommentaren auf und erahnte die Zusammenhänge. Es war die Zeit des Zweiten Tschetschenienkrieges. Damals vermutete ich, sie recherchierten die Schicksale von Opfern des Krieges – Toten, Vermissten und Kriegsgefangenen. Vergangenheit und Gegenwart trafen aufeinander.
Geschichte verbieten?
In den mehr als drei Jahrzehnten seines Bestehens sammelte „Memorial“ ein umfangreiches, in Teilen digitalisiertes Archiv mit Dokumenten zur Geschichte des sowjetischen Straflagersystems, seinen Opfern, aber auch den Tätern, ebenso wie zu den bisher kaum erforschten Schicksalen von Ostarbeitern, zur Geschichte der Dissidenz wie zu aktuellen Verletzungen von Menschenrechten. Angesichts der von Putin forcierten Geschichtspolitik, die einseitig die militär-patriotischen Erfolge betont, kommt dem von „Memorial“ seit 1999 durchgeführten Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland – 20. Jahrhundert“, dessen Beiträge in Form von Sammelbänden publiziert werden, ein ganz besonderer Wert für die Zukunft der russischen Zivilgesellschaft zu.
Die Mitarbeiter von „Memorial“ lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Arbeit selbst in dem Fall fortsetzen werden, wenn der staatliche Angriff zu einer Auflösung ihrer Organisation führen sollte. Nicht nur international, auch in Russland regt sich Protest gegen eine Anklage, deren rein politische Motivation auf der Hand liegt. Allein in Russland haben über 100.000 Menschen eine Petition gegen das Verbot der Organisation unterzeichnet. „Memorial“ ist der Macht unbequem geworden. Aber aus dem Gedächtnis der Menschen wie aus der Geschichte lässt sich nichts für immer tilgen.