Seit den frühen 1970er Jahren, seit die wohlfahrtsstaatlichen westlichen Nachkriegsordnungen nach und nach durch neoliberale Politiken ersetzt wurden, hat sich auch der Status der Architektur und insbesondere die Rolle von Architekt*innen grundlegend verändert. Nicht zuletzt Rem Koolhaas hat wiederholt auf die Folgen der breiten Umorientierung weg vom Staat und hin zum Markt hingewiesen, etwa als er in seinem 2003 in Wired publizierten „Beijing Manifesto“ die Gleichung aufmachte: „In the free market, architecture = real estate“ – im freien Markt wird Architektur zur Immobilienbewirtschaftung. Oder als er in der ein Jahr später erschienenen Publikation Content unter dem Titel „A Brief History of OMA“ schrieb: „Für Architekt*innen bedeutet der Markt einen endgültigen Verlust von Identität und Status. Da sie nicht mehr für eine öffentliche Einrichtung arbeiten, können sie nicht mehr behaupten, für das öffentliche Wohl tätig zu sein. […] Nicht länger ‚planend‘, sind Architekt*innen im Wesentlichen passiv geworden – und warten auf einen privaten Impuls, angerufen zu werden.“
Dennoch sind die Architektinnen und Architekten unter diesen neoliberalen Bedingungen nicht nur zu passiven Dienstleistern degradiert und zum Warten auf geneigte Auftraggeber verdammt. Das zeigt sich am Beispiel des 1961 geborenen deutsch-britischen Stararchitekten Patrik Schumacher, dem derzeit international wohl bekanntesten deutschen Architekten der Gegenwart, und seinem Weggefährten Titus Gebel, die das Anliegen verfolgen, marktradikale Gesellschaftsordnungen aktiv mitzugestalten. Deutlich wird dabei, dass der architektonische Marktradikalismus à la Schumacher einer kleinräumigen Verkammerung der Welt zuarbeitet, die im antiuniversalistischen Geiste rassistische und patriarchale Gesellschaftsentwürfe mindestens schulterzuckend in Kauf nimmt, wenn nicht gar aktiv betreibt.
Mit Deleuze zur neuen Unternehmensorganisation
BMW-Werk Leipzig, 2005; Quelle: wikimedia.org
Patrik Schumacher, der seit 2016 – seit dem Tod von Zaha Hadid – alleiniger Chef von Zaha Hadid Architects ist, hat in den letzten Jahrzehnten mit seinen architekturtheoretischen Äußerungen einen intellektuellen Parcours hingelegt, der ihn von Marx über die Philosophie der Dekonstruktion bzw. die System- und Evolutionstheorie bis zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie führte. Geradezu gleichnishaft für diesen Weg steht sein Entwurf für das zwischen 2001 und 2005 in Leipzig, also auf post-sozialistischem Terrain, errichtete BMW-Werk. Es besteht aus drei Haupt-Produktionshallen (Karosseriebau, Lackiererei und Montage), die sich kreisförmig um ein zentrales Verwaltungs-, Kommunikations- und Dienstleistungsgebäude herum gruppieren. Architektonisch bemerkenswert ist dabei vor allem das Zentralgebäude. Hier werden – von den Verwaltungs-Arbeitsplätzen aus sichtbar – die Karosserien an Transportbändern zwischen den Fertigungsbereichen befördert, um dem Management das Produkt jederzeit vor Augen zu führen. Im Gebäudezentrum kommen damit die White collar– und Blue collar-Welten zusammen, wo sie eine imaginäre Gemeinschaft bilden sollen.
Das Leipziger BMW-Werk kann als gebaute Manifestation eines theoretischen und architekturpädagogischen Projektes betrachtet werden, das an der seit 1996 von Schumacher zusammen mit Brett Steele geleiteten Graduate School der Londoner Architectural Association – School of Architecture (AA_DRL) entwickelt und vor allem in der ebenfalls 2005 von Steele herausgegebenen Publikation Corporate Fields. New Office Environments by the AA_DRL beschrieben wurde. Hier finden sich Zukunftsszenarien für das „office life“, die sich einer extensiven Feldforschung in „some of London’s most creative corporate environments“ verdanken.In einem Textbeitrag Patrik Schumachers mit dem Titel „Research Agenda: Spatializing the Complexities of Contemporary Business” ist die ideologische Reise von links nach rechts, die dieser in den Folgejahren unternehmen sollte, bereits erkennbar.
Gemäss Schumacher würden „die linken Organisationsparadigmen (wie z.B. das Rhizom)“, die die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in den späten 1970er Jahren ausgearbeitet hatten, in Zukunft zu den „eigentlichen Paradigmen der Unternehmensrestrukturierung werden“. Das heisst, so Schumacher: „Die deleuzianische Deterritorialisierung löst die starre Abteilungsbildung (=Territorialisierung) von Kompetenzen auf, während die aufsteigende Pyramide der klassischen [hierarchischen] Unternehmensstruktur zum rhizomatischen Plateau mutiert“. Auf diesem „Plateau“ sei „die Führung [leadership] in einer sich permanent verschiebenden Vielheit verteilt, in der jeder Punkt latent ein temporäres Zentrum werden kann“. Kurzum, so Schumacher: „Es gibt heute keinen besseren Ort für ein fortschrittliches und zukunftsweisendes Projekt als das wettbewerbsfähigste Unternehmen der Gegenwart.“
Anarchokapitalistische Architektur
Es blieb allerdings nicht bei diesem Lobpreis flacher Hierarchien. Knapp zehn Jahre später sprach sich Schumacher beim World Architecture Festival 2016 in Berlin für eine Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus, für die Privatisierung von öffentlichen Plätzen und für die Bebauung von 80 Prozent des Hyde Parks aus – und erntete den bis dato wohl größten Shitstorm der Architekturgeschichte, dazu sogar Proteste von linken Aktivist*innen vor dem Büro von Zaha Hadid Architects in London.
Noch deutlicher wurde Schumachers anarchokapitalistische Position in einem Interview vom 6. Dezember 2018 mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit, in dem er u.a. folgende Zitate zum Besten gab: „Es würde viel weniger Leerstand geben, wenn man Mietern innerhalb einer Woche kündigen könnte.“ Oder: „[W]enn Praktikanten bei uns ohne Gehalt mitmachen wollen, sollte das der Staat nicht verbieten.“ Oder: „In den USA haben wir […] sehr schöne Projekte fertiggestellt, aber das High-End-Geschäft dort ist abgeflaut wegen staatlicher Eingriffe. Es gibt jetzt in den USA neue Gesetze gegen Geldwäsche. Vor allem in Miami, wo vor ein paar Jahren noch die Lateinamerikaner mit Koffern voller Geld ankamen, ist das Geschäft vorbei.“ Oder: „Es müssen nicht alle Einkommensgruppen im Stadtzentrum sitzen. Meine Mitarbeiter sollten hier im Zentrum wohnen, weil sie in die Ausstellungen, in den Pub, in Kulturinstitutionen gehen müssen, um sich weiterzubilden. Die Sicherheitsleute und das Reinigungspersonal haben andere Prioritäten, haben andere Karriereentwicklungen, die brauchen doch nicht in der Stadt zu wohnen. Die arbeiten weniger hart; wenn die eine Stunde länger in der Bahn sitzen, ist das nicht tragisch.“
Seither positioniert sich Schumacher immer deutlicher auf Seiten der Rechten, etwa indem er in der Show des ultrakonservativen, rechtslibertären Publizisten Thomas E. Woods auftritt – und diesem öffentlich bescheinigt, dass er vor allem durch dessen Buch Meltdown (2009) zum Anhänger der neoliberalen Österreichischen Schule bekehrt wurde. Woods’ Texte erscheinen auf Deutsch exklusiv im libertär-rechtsradikalen Lichtschlag-Verlag und der dazugehörenden Monatszeitschrift eigentümlich frei, in der auch Schumacher publizierte.
Titus Gebel und das Projekt „Freier Privatstädte“
Zum intellektuellen Referenzenkosmos Patrik Schumachers gehört neben Woods der deutsche Unternehmer Titus Gebel (geb. 1967), Gründer und Präsident des Unternehmens Free Private Cities Inc; Schumacher wird auch als Berater dieser offiziell in Panama ansässigen Firma gelistet. Sie wirbt mit einem „völlig neue[n] Produkt auf dem ‚Markt des Zusammenlebens’ […], das im Erfolgsfalle weltweite Ausstrahlungswirkung hat“: eben „Freie Privatstädte“. Der Hintergrund, so Gebel: „Der Markt des Zusammenlebens ist nicht nur der wichtigste, sondern auch der größte aller Märkte“, denn „[s]taatliche Aktivitäten machen etwa 30 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes aus“.
Doch die „Performance“ dieser staatlichen Akteure, so Gebel, sei gleichwohl dürftig: „Das bilanziell größte ‚Unternehmen’ auf diesem Markt, die Vereinigten Staaten von Amerika, macht pro Jahr Verluste in Höhe von etwa 800 Milliarden US-Dollar. Manche Marktteilnehmer, etwa Schweden und Deutschland, ziehen bewusst unqualifizierte, alimentierungsbedürftige Neukunden an und vertreiben dadurch ihre zahlungsstarke Stammkundschaft.“ Gebel, der auch als Mitglied im Board des von Patri Friedman gegründeten und von Peter Thiel finanzierten Seasteading-Instituts wirkt, ist sich sicher: „Jeder einigermaßen befähigte Unternehmer sollte das besser hinbekommen.“
Ein Hauptproblem bei der Implementierung von „Freien Privatstädten“ sei allerdings, dass deren Durchsetzung, so Gebel, nur autoritär vorstellbar sei: „Nach über 30 Jahren politischer Aktivität bin ich zum Schluss gekommen, dass echte Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung auf demokratischem Wege nicht zu erreichen ist.“ Es bestehe daher im Marktsegment der „Freien Privatstädte“ nur die Möglichkeit, „durch Übernahme der Regierung, Revolution oder Sezession ein neues ‚Produkt‘ einzuführen.“ Gebels Demokratieaversion gipfelt in dem Satz: „Demokratie ermächtigt die Mehrheit, ihre Ansichten anderen aufzuzwingen, die jene nicht teilen. ‚Mehr Demokratie wagen‘ bedeutet in letzter Konsequenz, alle Lebensbereiche und sämtliche privaten Entscheidungen zu politisieren.“
„Freie Liebe“ oder „Weltkalifat“
Dass „Freie Privatstädte“ auf eine Ansammlung von Mehrheitsdiktaturen hinauslaufen, in die man sich freiwillig begibt, wird an drei vielsagenden Phantasie-Staaten deutlich, die Gebel in seinem Buch Freie Privatstädte.Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt (2018) mit seinen Leser*innen teilt. Dort wird ein Staat namens „Waldgeschwister“ geschildert, in dem Bewohner*innen leben, die in „freier Liebe“ und ab dem Alter von 15 Jahren angeblich sexuell selbstbestimmt zusammenleben. Auch wird ein Staat namens „Fürstentum Christo“ vorgestellt, der nur „weiße, christliche Siedler“ aufnimmt und den „Mann als Familienoberhaupt und Hauptverdiener“ vorsieht. Ein weiterer Phantasiestaat nennt sich „Jetsonia“; dort soll es „keine Umverteilung, keinen Mindestlohn und keinen Kündigungsschutz“ geben.
Keine der drei Staatsideen, klagt Gebel, hätten im Europa von heute eine Existenzchance, denn „[…] sie sind mit der herrschenden Rechtsordnung oder Moral nicht in Einklang zu bringen“. Doch, so Gebel weiter, „[w]as wäre so schlimm daran, wenn sich Menschen, die das möchten, auf andere Weise organisieren als die Mehrheit das für richtig erachtet? Ist es wirklich erstrebenswert, wenn die Welt überall gleich aussieht?“ Wovor Gebel vor allem Angst hat, macht er unmissverständlich deutlich: dem Schreckgespenst einer „Zukunft der Menschheit, die nur noch aus „einer einheitlichen Mischrasse“ besteht und einem alles vereinheitlichenden Universalismus, den er einmal durch ein „Nannytopia“ westlich-liberaler Wohlfahrtsstaaten, ein andermal durch ein mittels „Geburtendschihad“ entstandenes „Weltkalifat“ mit der „Welthauptstadt Mohammedania“ repräsentiert sieht. Gebels Utopie setzt der Dystopie eines „Weltkalifats“ die Utopie einer Ansammlung „2.000 verschiedene[r] Systeme [entgegen], die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden“. „Dezentralia“, so Gebel, habe „derzeit nur wenige Unterstützer. Aber das kann sich ändern.“
Das Faustrecht der Freiheit
Und es ändert sich bereits, etwa in Honduras. In dem zentralamerikanischen Land, das manche Beobachter*innen für einen gescheiterten Staat mit viel Korruption und einer der höchsten Mordraten der Welt halten, haben die nationalkonservativen Präsidenten des Landes Porfirio Lobo Sosa (Amtszeit 2010-14) und Juan Orlando Hernández (seit 2014) so genannte „ZEDEs“ durchgesetzt – also „Zonas de empleo y desarrollo económico“, zu Deutsch: „Zonen für Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung“, die man sich als weitgehend autonome Sonderverwaltungszone in Form einer Public-Private-Partnerschaft vorstellen muss. Ein entsprechendes Gesetz wurde nach Verfassungsänderung im September 2013 erlassen. Laut dem Journalisten Martin Reischke vom Deutschlandfunk kann die juristische Ermöglichung von „ZEDEs“ in ihrer politischen Bedeutung kaum unterschätzt werden, denn damit können „neue, fast autonome Ministaaten [entstehen], in denen nicht die Gesetze und die Rechtsprechung von Honduras, sondern die des jeweiligen Investors gelten: In dieser Form ein Novum – weltweit.“
Nun steht die erste Realisierung eines Projektes auf der Basis der ZEDE-Gesetzgebung an, und zwar auf der honduranischen Karibikinsel Roatán. Dort errichtet die Firma Honduras Prospéra in Kooperation mit Ernst & Young sowie dem Staat Honduras auf 82 Quadratkilometern „Roatàn Próspera“ – mit Geldern u.a. von NeWay Capital, bei dem Titus Gebel Investor ist. Gebel hat auch den rechtlichen Rahmen der Próspera-Zone mitgestaltet. Es gibt auch bereits ein erstes, image-gebende Bauprojekt von Roatàn Próspera: die so genannten Roatán Próspera Residences, gestaltet von Zaha Hadid Architects in einer Art futuristischen Adaption lokaler Holzbautraditionen.
Der Reservierungsprozess für die ersten Wohneinheiten, für die Zaha Hadid Architects auch eine digitale Planungsplattform für Bauherr*innen entwickelt hat, ist in vollem Gange. Diese werden vor Ort, wenn alles fertig ist, so gut wie keine Steuern zu zahlen haben und überhaupt einen sehr hohen Grad an wirtschaftlicher Freiheit vorfinden, verbunden mit einer geringen Regulierungsdichte.
Protest gegen die ZEDE in Prospera, Honduras, 2020; Quelle: amerika21.de
Wer dies einfach nur attraktiv findet, sollte allerdings mitbedenken, dass die ZEDE-Propagandisten den von Kritiker*innen befürchteten „Ausverkauf des mittelamerikanischen Landes“ rücksichtslos durchsetzen. So war etwa Rosalinda Cruz, eine ehemalige Verfassungsrichterin in Honduras, von Präsident Lobo Sosa und seinen Unterstützer*innen förmlich erpresst worden, um der Gesetzesgrundlage für ZEDEs zuzustimmen. Als sie weiterhin juristischen Widerstand leistete, wurde sie gemeinsam mit drei weiteren Kollegen von ihren Aufgaben entbunden – und seither zudem Opfer zahlreicher Übergriffe.
Gebel-Fan Patrik Schumacher ficht derlei nicht weiter an. Denn das „Faustrecht der Freiheit“, wie man mit Rainer Werner Fassbinder sagen könnte, lauert noch hinter jeder libertären Gesellschaftsordnung und hinter jedem Stadttor, das in „Freie Privatstädte“ führt. Oder genauer gesagt: Für deren Promotoren ist das Faustrecht die Bedingung für die Freiheit, die sie meinen.