In den letzten 30 Jahren wurde viel über das Lesen von Geheimdienstakten im ehemaligen Ostblock geforscht. Die Meldung, Julia Kristeva sei eine Agentin gewesen, hat viele vergessen lassen, was es bedeutet, die Inhalte der Akten als Fakten zu lesen.

  • Henrike Schmidt

    Henrike Schmidt ist Slavistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Übersetzerin aus dem Russischen und Bulgarischen. Ihr besonderes Interesse liegt im Bereich der literarischen Intermedialität (Bild und Klang, Rezitation und Performance, Literatur und digitale Kommunikation).

Seit Ende März treibt der ‚Fall Julia Kris­teva‘ die Feuil­le­tons um und wird in den sozialen Medien disku­tiert. Die bulga­ri­sche Kommis­sion für die Offen­le­gung der Archive der Staats­si­cher­heit hatte auf ihrer Home­page vermeldet, die Lingu­istin, Philo­so­phin und Psycho­ana­ly­ti­kerin sei in den 1970er Jahren als Infor­mantin der Auslands­spio­nage tätig gewesen. „Und auf einmal haben alle Ahnung von Geheim­dienst­dos­siers“, konsta­tiert der Jour­na­list Hristo Hristov ange­sichts der Reak­tionen auf die Publi­ka­tion der Akte „Sabina“. Unter diesem Deck­namen soll die fran­zö­si­sche Wissen­schaft­lerin bulga­ri­scher Herkunft für die Dǎržavna sigur­nost (DS) – die Staats­si­cher­heit – aktiv gewesen sein. Hristov macht auf ein grund­le­gendes Problem aufmerksam: Dass die Geheim­dienst­dos­siers nicht als objek­tive Quelle gelesen werden können.

Die Akte

Zunächst zur Genese des ‚Falls‘, die nicht immer korrekt darge­stellt wird: Die genannte Archiv­kom­mis­sion hat im Einklang mit der aktu­ellen Gesetz­ge­bung eine Über­prü­fung der Zeit­schrift Lite­ra­turen vestnik (Lite­ra­ri­scher Bote) vorge­nommen, in deren akade­mi­schem Beirat Julia Kris­teva seit Mitte der 1990er Jahre figu­riert. Kris­teva spen­dete ihr symbo­li­sches Kapital für die im Aufbau begrif­fene Zeit­schrift, einem zentralen Organ post­mo­dernen Denkens im Land. Im Zuge der routi­ne­mä­ßigen Über­prü­fung wurde ein Dossier der Philo­so­phin in den Archiven entdeckt und ihr Status als Infor­mantin auf der Website der Kommis­sion öffent­lich bekannt gegeben. Ange­sichts des über­wäl­ti­genden natio­nalen und inter­na­tio­nalen Inter­esses folgte Anfang April die Publi­ka­tion des gesamten Dossiers im Internet. Dies ist eine einma­lige Vorge­hens­weise und wirft bei allem Inter­esse an Aufklä­rung Fragen nach den Persön­lich­keits­rechten der Betrof­fenen auf. Denn die Akte enthält private Briefe, die von der bulga­ri­schen Staats­si­cher­heit geöffnet wurden.

In Schön­schrift. Deck­blatt einer Akte aus dem Dossier.

Aus dem Dossier wird deut­lich, dass die Dǎržavna sigur­nost Kris­teva spätes­tens seit dem Jahr 1965 ins Visier nahm, dem Jahr, in dem sie mit einem Stipen­dium der bulga­ri­schen Regie­rung (finan­ziert von Frank­reich) nach Paris ausreiste. 1970 wurde sie dort von einem Offi­zier kontak­tiert, den sie bereits aus ihrer Zeit in Sofia gekannt haben soll, und für die Zusam­men­ar­beit akti­viert. 1973, nach drei Jahren, kam die DS zu dem Schluss, dass Kris­teva für die Belange des bulga­ri­schen Kommu­nismus verloren sei, zuneh­mend maois­ti­sche Posi­tionen vertrete und keine wert­vollen Infor­ma­tionen liefere. Ihre Kontakt­per­sonen beklagten die Unzu­ver­läs­sig­keit der Infor­mantin, ihren fordernden Charakter und ihre Versuche, die Treffen zu entkon­spi­rieren, weshalb sie aus der Kartei der aktiven Informant*innen entfernt wurde.

Akten­lek­türen

Mitt­ler­weile liegen erste sprach­lich und histo­risch kompe­tente Analysen des Konvo­luts vor, etwa im Blog-Eintrag von Maria Dimit­rova oder in einem Artikel des Geheim­dienst­spe­zia­listen Hristo Hristov. Unter anderem heben sie hervor, dass in dem Dossier keine von Julia Kris­teva unter­schrie­benen Doku­mente zu finden sind. „Sabina“ lieferte ihre Infor­ma­tionen münd­lich. Das bedeutet auch, dass alle Aussagen von den opera­tiven Mitar­bei­tern der Dǎržavna sigur­nost doku­men­tiert, das heißt: nach­er­zählt wurden (oder erfunden, wie Kris­teva selber meint). Zudem weist die Akte zahl­reiche Unre­gel­mä­ßig­keiten auf. Zentrale Doku­mente fehlen.

Unter­stüt­zung für die Repres­sierten des Prager Früh­lings. Markie­rungen in einem von der Staats­si­cher­heit archi­vierten Doku­ment.

Die Archive der bulga­ri­schen Staats­si­cher­heit blieben – anders als in den meisten osteu­ro­päi­schen Ländern – bis in die 2000er Jahre unter Verschluss. Dies ermög­lichte Mani­pu­la­tionen. Erst 2006 wurde ein Gesetz zur Öffnung der Akten verab­schiedet und die entspre­chende Kommis­sion einge­setzt. Hristov macht jedoch auch deut­lich, dass die fehlenden Doku­mente nicht zu einer Entlas­tung führen müssen oder den Schluss zulassen, die Akte sei in Gänze gefälscht. Immer wieder werden in Bulga­rien Informant*innen in promi­nenten Posi­tionen in Politik, Medien, Wissen­schaft und Lite­ratur ‚enttarnt‘. Nicht immer ist es möglich, Faktum oder Art ihrer Tätig­keit zwei­fels­frei zu klären. Zusam­men­fas­send kommt Hristov zu dem Schluss, dass ein Kontakt Kris­t­evas mit der DS wahr­schein­lich sei. Über dessen genauen Charakter könne ange­sichts der fehlenden Doku­mente aber (noch) keine defi­ni­tive Aussage getä­tigt werden. Maria Dimit­rova wiederum macht vor allem auf dieje­nigen Doku­mente aufmerksam, die eine Bespit­ze­lung der Philo­so­phin belegen. In den Akten finden sich hand­schrift­liche Berichte von Bekannten der Wissen­schaft­lerin aus dem univer­si­tären Bereich, die auf sie ange­setzt wurden. Reise­ge­neh­mi­gungen für ihre Eltern wurden gezielt einge­setzt, um Druck auszuüben.

Dementi: Fake-News und Opfer-Narrativ

Die Autorin selbst demen­tiert und droht mit juris­ti­schen Konse­quenzen. Kris­teva sieht ihre mora­li­sche Inte­grität und ihr Werk ange­griffen. Die Publi­ka­tion des Dossiers sei eine Fort­set­zung der „immer noch zu wenig bekannten“ mani­pu­la­tiven Methoden der tota­li­tären Regime. Inzwi­schen hat sie die Authen­ti­zität des Dossiers als mate­ri­elles Faktum aner­kannt, stellt jedoch nach wie vor dessen Wahr­heit in Frage.

Ihr Dementi umkleidet Kris­teva mit einem Opfer­n­ar­rativ. Die Begrün­derin der lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Inter­tex­tua­lität kontex­tua­li­siert ihren eigenen Fall im Licht aktu­eller Geschichte. Die Nach­richt von ihrer Infor­man­ten­tä­tig­keit nennt sie „Fake News“. Mehr noch: „Die Kommu­nisten betrieben schon damals post­fak­ti­sche Politik“. Kurio­ser­weise verweist die Femi­nistin auf die Me-too-Debatte um Harvey Wein­stein und meint, bei den Entlar­vungs­kam­pa­gnen handele es sich um eine „symbo­li­sche Kastra­tion der Alten“. Verstärkt wird das Opfer­n­ar­rativ durch eine weitere histo­ri­sche Refe­renz: Kris­teva empört sich, man habe ihr eine „Nummer gegeben“, vergleichbar den Lager­häft­lingen des Dritten Reichs.

Lust an der Lustra­tion. Der ‚Fall Kris­teva‘ in der Presse

Die Bericht­erstat­tung im Feuil­leton verläuft in einer Rhetorik intel­lek­tu­eller Götter­däm­me­rung. Kris­t­evas Zusam­men­ar­beit mit der Dǎržavna sigur­nost scheint den meisten Kommen­ta­to­rInnen gegeben, versehen mit einem absi­chernden Frage­zei­chen. Nach der Veröf­fent­li­chung des voll­stän­digen Dossiers wird das „Skan­dalon“ ihrer Agen­ten­tä­tig­keit durch die angeb­liche Irrele­vanz in sein Gegen­teil verkehrt. Die „lustrierte Ikone“ wird zur „faulsten Geheim­agentin“ des Kalten Kriegs, wobei die Enttar­nung „Glamour“ in die Biografie der „Star-Intellektuellen“ bringe. So zeichnet sich eine Erre­gungs­kurve vom Skandal zur Anek­dote ab. Jürgen Ritte zieht schon einen Schluss­strich, während Ilija Trojanow als Kenner der Materie sich noch einmal ausdrück­lich gegen eine Verharm­lo­sung wendet.

Der ‚Fall Kris­teva‘ wird aus ihrem eigenen Schaffen heraus psycho­ana­ly­tisch oder im Modus des Spio­na­ge­ro­mans gelesen, die proble­ma­ti­sche Gattung Geheim­dienst­akte hingegen erst spät reflek­tiert. Der Akzent liegt auf der mutmaß­li­chen Infor­man­ten­tä­tig­keit, weniger auf der erwie­senen Bespit­ze­lung. Formu­lie­rungen der opera­tiven Mitar­beiter der DS werden als O-Töne zitiert. Man erfreut sich an Kuriosa der Akte, die intime Einblicke in das Leben Kris­t­evas und die intel­lek­tu­ellen Zirkel der Zeit gewähren. Die Lust an der Lustra­tion einer Ikone über­wiegt gegen­über den Persön­lich­keits­rechten der Beschuldigten.

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Der Fall Kris­teva in Bulgarien

In Bulga­rien liegt die Wunde der tota­li­tären Vergan­gen­heit bloß. Es geht nicht nur um retro­spek­tive Aufar­bei­tung, sondern um die Frage, inwie­fern Staat und Gesell­schaft bis heute durch ehema­lige Agen­tInnen und Infor­man­tInnen geprägt werden. Auch die intel­lek­tu­elle Szene ist davon betroffen. So wurde 2008 die Lite­ratin Vera Mutafčieva als Zuträ­gerin der DS enttarnt. Auch für Bogdan Bodganov, Grün­dungs­rektor der Neuen Bulga­ri­schen Univer­sität in Sofia, exis­tiert ein Dossier. Bogd­anov war bis zu seinem Tod gleich­falls Mitglied im Beirat der Zeit­schrift Lite­ra­turen vestnik. Die Zeit­schrift kommen­tiert lako­nisch, man nehme die Bekannt­ma­chung der Kommis­sion zu Kris­teva als „legitim“ zur Kenntnis, grenze sich aber von hass­erfüllten Reak­tionen ab.

Letz­tere sind erheb­lich. Inten­sität und Aggres­si­vität speisen sich aus der ambi­va­lenten Rolle, die der Philo­so­phin in ihrem Geburts­land zukommt. Während – oder weil –  die bulga­ri­sche Geis­tes­wis­sen­schaft im globalen akade­mi­schen Betrieb quasi inexis­tent ist, gelten Kris­teva – und der Formalismus-Theoretiker Tzvetan Todorov – als ihre Exportschlager.

Der Kasus Kris­teva. State­ment der bulga­ri­schen Lite­ra­tur­zeit­schrift „Lite­ra­turen vestnik“.

Die Debatte wird kontro­vers geführt: Die Unschulds­be­für­wor­te­rInnen lehnen den Kommis­si­ons­be­fund ab. Argu­ment ist der erwähnte Umstand, dass die Akte keine von der Autorin unter­schrie­benen Doku­mente enthält. Im Zentrum dieser Frak­tion steht die femi­nis­ti­sche Lite­ratin Miglena Nikolčina, in den 1990er Jahren Chef­re­dak­teurin von Lite­ra­turen vestnik. In einem Fern­seh­in­ter­view leitet sie aus der Unschulds­ver­mu­tung eine Cui-bono-Spekulation ab: Es handele sich bei der Kampagne um eine gezielte Diskre­di­tie­rung des „offen denkenden“, euro­pä­isch orien­tierten intel­lek­tu­ellen Felds. Andere Pro-Kristeva-Positionen nehmen ihren Kontakt zur Staats­si­cher­heit als gegeben. Sie sei aber nicht Täterin, sondern Opfer. Über­ra­schend ist das Heroi­sie­rungs­nar­rativ. Bewun­dernd wird attes­tiert, wie Kris­teva ein souve­ränes Katz- und Maus­spiel mit der DS gespielt habe. Schließ­lich gibt es die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­these: Die Bereit­schaft zu einer – im Effekt harm­losen – Infor­man­ten­tä­tig­keit sei konform mit den ideo­lo­gi­schen Posi­tionen der jungen Akademikerin.

Die Kristeva-Kritiker verweisen auf die Diskre­panz zwischen den ethi­schen Posi­tionen ihrer Schriften und ihrem Verhalten in den Zwangs­lagen des Kommu­nismus. Nach dem Ende des Kalten Kriegs habe sie die Divi­dende ihres Kompro­misses mit der Macht weiter einge­stri­chen, ohne den Preis auszu­weisen, der dafür zu zahlen war. Mancher sieht hingegen die Schuld im Auge der Enttäuschten. Jeder habe wissen können, dass in den 1960er Jahren niemand aus dem lini­en­treuen kommu­nis­ti­schen Bulga­rien einfach so zum Studium nach Paris gegangen sei, ohne einen Deal mit der Staats­si­cher­heit zu schließen.

Ethik der Kontextualisierung

Die Auswer­tung des Dossiers wird Zeit brau­chen. Ange­sichts der verstüm­melten Akte ist es durchaus möglich, dass es zu keinen wider­spruchs­freien Schlüssen kommt. Erfor­der­lich ist dabei ein grund­le­gendes Bewusst­sein für die Text­sorte Dossier. Werden die Akten der Staats­si­cher­heit einfach als Fakten gelesen, wird die Deutungs­ho­heit über die Ereig­nisse ein weiteres Mal dem tota­li­tären Regime über­ant­wortet. Im Umgang mit den Archiven ist eine Ethik der Kontex­tua­li­sie­rung nötig, die neben klas­si­scher Quel­len­kritik Respekt gegen­über den Persön­lich­keits­rechten auch der Beschul­digten beinhaltet und voyeu­ris­ti­sches Nach­er­zählen von ille­gitim ausspio­nierten intimen Details vermeidet. Mangelnde Sensi­bi­lität für Kontex­tua­li­sie­rung demons­triert aber auch Julia Kris­teva. Statt Dementis, Speku­la­tionen über das Post­fak­ti­sche und unhis­to­ri­schen Verglei­chen mit der Nazi-Zeit könnte sie zwecks wissen­schaft­li­cher Erschlie­ßung ihres Dossiers Auskunft geben und einen konstruk­tiven Beitrag zur Aufar­bei­tung der fakti­schen Geschichte des bulga­ri­schen und osteu­ro­päi­schen Kommu­nismus leisten.