
So viel Aufmerksamkeit wie in den letzten Wochen, in denen Politik und Öffentlichkeit in Deutschland um die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine ringen, hatte die Friedensbewegung schon lange nicht mehr. Während der stellvertretende Chef der FDP-Bundestagsfraktion, Alexander Graf Lambsdorff, in der rhetorischen Manier des Kalten Krieges die Ostermarschierer als die „fünfte Kolonne Putins“ bezeichnete, konzedierte Sascha Lobo im Spiegel zwar gerade noch, dass es in der deutschen Friedensbewegung auch die „Vernunftorientierten“ gebe; vor allem aber ging er mit äußerster Schärfe gegen jenen „substanziellen Teil“ der Friedensbewegung ins Gericht, der ungeachtet zahlreicher Kriegsverbrechen, die Putin zu verantworten hat, dabei stehen bleibe, ausschließlich für den Frieden zu demonstrieren. Der Grund dafür sei allein ein ausgesprochenes Maß an Selbstgerechtigkeit, die Putin in die Hände spiele.
In der Sache mag man ihm zustimmen. Doch die Zuschreibung eines „Lumpen-Pazifismus“, so Lobo, verstellt ebenso wie die Rede von der „fünften Kolonne Putins“ den Blick darauf, warum sich viele Deutsche gegenwärtig damit schwertun, den Einsatz von militärischen Mitteln und damit Gewalt zu bejahen. Eine Antwort auf die Frage wird man nur finden, wenn man sich nicht davor scheut, das Credo der Gewaltlosigkeit, das sich in Deutschland auf spezifische Weise etabliert hat, als eine viel umfassendere Geschichte zu begreifen und über ihre ambivalenten Effekte nachzudenken.
Kritik der „strukturellen Gewalt“
Zu dieser Geschichte, deren Facetten wir gegenwärtig erst einmal erkennen müssen, gehört die Problematisierung von „Gewalt“ in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft. Völlig zu Recht hat der Historiker Holger Nehring deshalb Debatten in den Blick genommen, die sich zwischen den späten 1960er und den frühen 1980er Jahren in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten über Definitionen „politischer Gewalt“ und das Ziel einer „gewaltfreien Gesellschaft“ entspannen. Während die Regierungen in ihrer Auseinandersetzung mit militanten Aktivist:innen zunächst primär das Gewaltmonopol des Staates verteidigten, ging es der außerparlamentarischen Oppositions- und Protestbewegung zunehmend um die Beseitigung dessen, was sie als „strukturelle Gewalt“ bezeichneten, die sie in kapitalistischen Systemen als solchen verorteten. Konkret ging es der frühen außerparlamentarischen Opposition in Westeuropa damit um eine Kritik an ungleichen Machtverhältnissen, die systematisch soziale Ungleichheit und Diskriminierung erzeugten.

Quelle: eurobuch.com
Aus ihrer Sicht waren „Macht“ und „Gewalt“ Synonyme – ein Gewaltverständnis, das sich bewusst davon löste, illegitime Gewalt auf physische Akte zu reduzieren. Der Politikwissenschaftler Johan Galtung, der infolge seiner in den 1970er Jahren ins Deutsche übersetzten Veröffentlichungen über „strukturelle Gewalt“ zum Stichwortgeber für eine Kritik an Macht- und Gewaltverhältnissen wurde, formulierte es explizit, als er schrieb: „Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“ Solange sich also eine fehlende Bildung, eine schlechte Ernährung oder eine niedrigere Lebenserwartung objektiv hätten vermeiden lassen, handelte es sich demnach um Gewalt. Innerhalb der außerparlamentarischen Oppositions- und Protestbewegung gingen die Ansichten darüber, wie diese „strukturelle Gewalt“ beseitigt werden könne, allerdings weit auseinander.

«Internationaler Vietnam-Kongress», 17.02.1968, West-Berlin; Quelle: n-tv.de
Das betraf auch die Frage, ob der Einsatz physischer Gewalt dafür ein legitimes Mittel sei. Es war nicht zuletzt die Kritik am „autoritären Staat“ und an seiner damaligen Politik der „Inneren Sicherheit“, die zumindest in der Studentenbewegung seinerzeit noch viele davon überzeugte, dass diesem Staat nur mit Gewalt entgegengetreten werden könne. Hans-Jürgen Krahl, Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Wir handeln nicht nach Gandhi, sondern nach Marx, Engels, Lenin, Mao Tse-tung, und wir befürworten eindeutig die revolutionäre Gewalt.“ Tatsächlich waren es erst die Morde an Siegfried Buback, Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer im Jahr 1977, die den militanten Aktivismus innerhalb der außerparlamentarischen Opposition massiv diskreditierten. Aufrufe, von physischer Gewalt gegen Menschen Abstand zu nehmen, mehrten sich deutlich. In der Protestkultur der späten 1970er Jahre gewann das Prinzip „Gewaltlosigkeit“ zunehmend an Überzeugungskraft.
„Frieden schaffen ohne Waffen“
Was „Gewaltlosigkeit“ beinhaltete, war damit aber noch keineswegs ausgemacht. Brokdorf, Grohnde, Gorleben, und Wackersdorf stehen nur stellvertretend für eine Reihe von Anti-AKW und Anti-Atom-Demonstrationen, auf denen sich zeigte, dass ein Teil der Aktivist:innen, der sich dem gewaltfreien Widerstand verschrieben hatten, Gewalt gegen Sachen dennoch weiterhin für vertretbar hielt. Auch die Frage, ob Nötigungen durch Aktionsformen des zivilen Widerstands als Form der Gewalt einzustufen seien, war hochgradig umstritten.
Ein wesentlicher Hintergrund für diese Auseinandersetzungen war, dass die Rechtsprechung den strafrechtlichen Begriff der Gewalt seit den späten 1960er Jahren zunehmend „vergeistigte“. Gemeint ist damit, dass der im Strafrecht geltende Begriff der Gewalt nicht mehr länger ausschließlich an die Ausübung körperlicher Kraft gebunden war, sondern auch psychische Zwangswirkungen als Gewalt eingeordnet werden konnten. Das eröffnete die Möglichkeit, auch Protestformen des zivilen Widerstands als eine Form der Gewalt einzustufen und damit zu kriminalisieren. In den 1970er und 80er Jahren bekam das eine ganze Reihe von Demonstrant:innen zu spüren. Aus ihrer Sicht hatten sie mit Sitzblockaden „gewaltfreien Widerstand“ geleistet; die Justiz jedoch sah darin wiederholt eine Form des „psychischen Zwangs“, weil er etwa den Fahrer eines Fahrzeugs nötigte anzuhalten. Diese „Vergeistigung“ des Gewaltverständnisses ging schließlich sogar so weit, dass der Bundesgerichtshof im Jahr 1983 eine verbale Aufforderung zur gewaltfreien Blockade der geplanten Startbahn West als „Tatbeitrag“ und Gewalt bezeichnete – eine Entscheidung, die allerdings auch unter Jurist:innen hoch umstritten war.
Auch wenn sich viele Angehörige der Anti-AKW- und Friedensbewegung über diese Urteile empörten, die aufgrund einer Ausweitung des strafrechtlichen Gewaltverständnisses möglich wurden, zeigte sich, dass unter diesen Bedingungen eine breite Mobilisierung für Protest ihren Preis hatte. Neue Verständigungen über Formen der gewaltfreien Aktion waren nötig, um Bürgerinitiativen einzuschließen und der lokalen Bevölkerung, die zum Teil massive Vorbehalte gegenüber den Demonstrant:innen hatte, nicht vor den Kopf zu stoßen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Menschenkette, die im Oktober 1983 über eine Strecke von 108 Kilometern von Stuttgart nach Neu-Ulm errichtet wurde, um gegen die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen zu demonstrieren.

Die Menschenkette der Friedensbewegung am 22. Oktober 1983 in Neu-Ulm; Quelle: stuttgarter-zeitung.de
Tatsächlich war diese Menschenkette ein Kompromiss in der reichlich zerstrittenen Friedensbewegung, in der die einen für die friedliche Demonstration, die anderen für die Blockade einer amerikanischen Kaserne optierten. Diese Menschenkette, zu der etwa 400.000 Menschen zusammenkamen, war trotz Liedern und Tänzen ein hochgradig durchorganisiertes Großereignis, dessen Erfolg sich nicht zuletzt einer großen Disziplin und genauen Absprache mit der Polizei verdankte. Letztlich aber waren es die Bilder der Gewaltfreiheit, von freundlichen, ausgelassen singenden, tanzenden und sich an den Händen haltenden Menschen, die über zahlreiche Medien verbreitet wurden, die aus dieser Veranstaltung eine „Erfolgsgeschichte“ machten. Sie hatten wesentlich Anteil daran, dass „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „We shall overcome“ künftig von allen angestimmt werden konnten – von ehemals radikalen Linken ebenso wie von Menschen, denen es „nur“ um Frieden ging.
Gewaltlosigkeit als nationales Markenzeichen
Tatsächlich kann man seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert beobachten, wie Gewaltlosigkeit in Deutschland zu einer nicht nur die unterschiedlichen Protestbewegungen einigenden Haltung wurde, sondern auch die Bundesrepublik regelrecht daran arbeitete, Gewaltfreiheit zu ihrem Markenzeichen als demokratischer Staat zu machen. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Hochglanzbroschüre Der Weg zur deutschen Einheit aus dem Jahr 2014, mit der sich die Bundesregierung das symbolische Kapital der – gewaltfreien – Bürgerrechtsbewegung der DDR zu eigen machte. Die PR-Broschüre, 2020 schon in dritter Auflage erschienen, integriert die Bilder der gewaltfreien Proteste von 1989 in einer Weise in die deutsche Geschichte, die das bundesrepublikanische Selbstverständnis, heute eine demokratische, gewaltfreie Nation zu sein, als historisch nur folgerichtig erscheinen lässt.

Quelle: auswaertiges-amt.de
Entsprechend findet sich dazu auch ein Pendant in den Leitlinien der letzten Bundesregierung für ihre Außenpolitik, deren Kerngedanke 2017 noch lautete: „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. Konkret definierte Deutschland seine Aufgabe unter anderem dahingehend, in „gewaltgeprägten Ländern mit oft schwachen staatlichen Strukturen“, in denen „die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, Konflikte und gesellschaftliche Probleme gewaltfrei auszutragen und im Falle einer Eskalation zu entschärfen, besonders gering“ sei, „den Aufbau von Kapazitäten der gewaltfreien Konfliktbearbeitung (z. B. Dialog, Mediation, Verhandlung, außergerichtliche Streitschlichtung und Zugang zu Recht) zu fördern.“ Überhaupt gehe es darum, eine „Kultur des gewaltfreien Umgangs mit Konflikten durch Unterstützung von Friedensjournalismus und Friedenserziehung“ zu unterstützen.
Man kommt kaum umhin, diesen Selbstauftrag als selbstgerecht zu kritisieren, zumal viele Deutsche heute, darin anderen Westeuropäer:innen ähnlich, gerne wieder bereit sind zu glauben, dass Gewalt doch eigentlich das ‚Andere‘ der „zivilisierten“ Gesellschaft sei, das sie in der Gegenwart im Grunde nur noch im globalen Süden verorten. Es ist in den letzten Wochen sichtbar geworden, wie sehr der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine diese Annahme stört. Dass seither eine scharfe Kontroverse darüber geführt werden muss, ob die deutsche Regierung Waffen an die Ukraine liefern soll, lässt offen zutage treten, wie schwer es heute fällt, sich als Bestandteil von Gewalthandlungen – und dies ausgerechnet auch noch im Rahmen eines militärischen Konflikts – zu begreifen. Ohne das Fortwirken von Denkmustern, die aus der Friedensbewegung kommen, lässt sich das sich nicht erklären, wie auch Armin Nassehi jüngst in der Süddeutschen Zeitung bemerkte.
Das Mantra der Gewaltlosigkeit
Doch an der Friedensbewegung allein sollte man sich nicht festbeißen. Vielmehr machen sich in der schleppenden Unterstützung der Ukraine seit dem 24. Februar, die gegenwärtig in der Warnung vor einer Lieferung schwerer Waffen kulminiert, auch die Effekte eines seit Jahrzehnten gesellschaftlich eingeübten Credos der Gewaltlosigkeit bemerkbar. Die prorussische Linke macht sich dieses derzeit ebenso zunutze (und ist vermutlich selbst in dessen Bann), wie jene, die Putins Behauptung, er fühle sich durch die NATO bedroht, nachgerade umstandslos ein Verständnis entgegenbringen, als gelte es, eine vulnerable Person zu schützen.

Quelle: dodax.ch
Das Credo der Gewaltlosigkeit meint aber vor allem eine Haltung, die sich aus einer umfassenden, gleichzeitig aber auch sehr spezifischen Problematisierung von Gewalt speist. Man muss sich an dieser Stelle vor Augen führen, wie sehr im Verlauf der letzten Jahrzehnte unsere Gesellschaft gleichsam auf die Einsicht eingeschworen wurde, dass Gewalt als Mittel der Konfliktregelung keine legitime Option ist – weder zwischen Erwachsenen, noch gegenüber oder auch zwischen Kindern. Keine Frage, man kann nicht ernsthaft hinter diese Entwicklung zurückwollen. Allerdings hat dieses Credo der Gewaltlosigkeit, das sich im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte fast zu einem Mantra und bis hin zur Problematisierung von „Mikroaggression“ ausgeweitet hat, möglicherweise eben auch seinen Preis. Dieser berührt die Möglichkeit, Widerstand, zumal wenn er auch physische Gewalt einschließen soll, gegenüber einem gewalttätigen Angriff schon nur zu denken. Denn die beiden vermutlich wichtigsten Stichworte, die spätestens seit den ausgehenden 1980er Jahren dazu in Deutschland im öffentlichen Diskurs fallen, lauten: „Dialog“ und „Bereitschaft zur Kommunikation“.
„Gewaltfreie Kommunikation“

Quelle: orellfuessli.ch
Das kommt in Deutschland vor allem zum Tragen, seit sich die „Kultur der Schadensvorbeugung“ auch auf den Bereich der Gewalt ausgedehnt hat: Prävention statt Sanktion lautet hier die Leitlinie seit den späten 1990er Jahren. Sie prägte beispielsweise die sogenannte „Sicherheitsoffensive gegen Gewalt“, die die Bundesregierung nach den Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen lancierte. In diesem Zusammenhang starteten Schulen Initiativen, um mit Plakaten und Buttons darauf hinzuweisen, „daß Gewalt – gleichgültig gegen wen sie sich richtet – kein geeignetes Mittel zur Lösung von Konflikten sein darf.“ Neues Lehr- und Fortbildungsmaterial zielte in die gleiche Richtung. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände schlossen sich mit Aktionsprogrammen und Fortbildungen an, um das Ziel der „gewaltfreien Konfliktaustragung“ zu verankern.

Die Giraffe als Symbol achtsamer Kommunikation nach M. B. Rosenberg: Quelle: ph-noe.ac.at
Es ist alles andere als ein Zufall, dass das Konzept der „gewaltfreien Kommunikation“, das auf den US-Amerikaner Marshall B. Rosenberg zurückgeht, damit auch in Deutschland populär wurde – oft mit dem Versprechen, auf diese Weise lasse sich der Frieden sichern, im Alltag wie auch in weltpolitischen Krisensituationen. Insofern erstaunt es auch nicht, dass dieses Konzept seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine wiederholt aufgerufen wurde. Der WDR, der sich anlässlich des Kriegsbeginns entschied, eine ältere Sendung mit Marshall B. Rosenberg aus dem Jahr 2006 zu wiederholen, erklärte dazu in seiner Ankündigung: „Statt Prügel: Worte. Statt verbaler Verletzungen: Mitgefühl – auch in zugespitzten Situationen.“ Und weiter hieß es werbend: „Kommunizieren ohne Gewalt – Angesichts der Eskalation in der Ukraine fordern viele gewaltfreie Lösungen statt Krieg. Die Methode der ‚gewaltfreien Kommunikation‘ von Marshall Rosenberg verspricht Frieden – im Kleinen und im Großen.“

Quelle: WDR, 30. April 2022
Dieses Ineinanderblenden individueller und kollektiver Friedensversprechen, die populärwissenschaftliche Diskurse über die Ursachen kollektiver Gewalt seit Beginn des 21. Jahrhunderts durchziehen, kann man im Kontext der Auseinandersetzung um die Solidarität mit der Ukraine nicht anders als fatal bezeichnen. Im Kontext eines Angriffskrieges ist der Ratschlag zur „gewaltfreien Kommunikation“ ein Kategorienfehler, pure Augenwischerei und politisch blind. Die militärische Verletzung einer nationalen Souveränität und der Abwurf von Bomben sind nun einmal etwas anderes als das Anliegen der gewaltfreien Kommunikation, das Rosenberg 2004 folgendermaßen formulierte: „Werde gut darin, zwei Dinge auszudrücken: Was in Dir los ist und was Dein Leben schöner machen würde.“