Anfang Mai erregte ein Tweet des Virologen Christian Drosten große Aufmerksamkeit auf Social Media und darüber hinaus. Er bezog sich mit den schlichten Worten „Ein enorm wichtiger Artikel“ auf einen längeren Text von Ralf Bönt in der ZEIT mit dem ebenfalls schlichten Titel „Die Wahrheit ist nicht relativ.“ Schlicht soll hier nicht heißen, dass das Anliegen von Bönt, und mit ihm von Christian Drosten, nicht ernst zu nehmen wäre: Nämlich die wissenschaftlich erwiesene Wahrheit anzuerkennen, dass ein Virus mit der Bezeichnung SARS-CoV2 existiert und die nicht selten tödliche Krankheit COVID-19 auslöst. Und es ist nur unterstützenswert, wenn Bönt, und mit ihm Drosten, darauf beharren, dass es keine Alternative zu wissenschaftlichem Wissen gibt, und dass kein „alternatives Wissen“ und keine Naturheilpraktiken es mit dem Virus aufnehmen können. Man mag zwar, wie Bönt schreibt, in politischer Weise darüber diskutieren, wie rigide die Abwehrmaßnahmen gegen das Virus sein sollen, das heißt, wie viele Menschen man sterben lassen will, um zum Beispiel „die Wirtschaft“ vor größerem Schaden zu bewahren (jetzt mal ganz unabhängig von der Frage, ob ein solcher trade-off existiert oder nicht). Aber man müsse in jedem Fall die naturwissenschaftliche Wahrheit und damit die Realität des Virus anerkennen.
Wer wollte das bestreiten? Nun, Bönt und mit ihm implizit Drosten unterstellen, dass solche Realitätsverweigerung verbreiteter ist, als man meinen könnte: Es seien, so Bönt, „vermutlich nicht zufällig […] oft Großdenker anderer Disziplinen, gerne Philosophen und Historiker, die die Leistungen der sogenannten exakten Wissenschaften relativieren und letztlich diskreditieren wollen.“ Also zuerst „relativieren“, um dann noch zu „diskreditieren“. Das ist schon starker Tobak. Wollen Philosophen bzw. Historiker (und -innen, bitte), das wirklich: die Naturwissenschaft diskreditieren? Tun sie das? Nun, dass in der Welt der Menschen Wahrheiten nicht absolut und seit Anbeginn der Zeiten bis in alle Ewigkeiten gelten, sondern historischen Veränderungen unterliegen, ist tatsächlich eine von allen Historiker:innen geteilte Ansicht (für die Philosoph:innen kann ich nicht sprechen).
Die soziale Konstruktion wissenschaftlichen Wissens
Oder etwas genauer noch: Diejenigen Historiker:innen, die in ihrer Arbeit überhaupt in die Nähe der Naturwissenschaften kommen, also Wissenschaftsgeschichte betreiben – es sind ganz wenige –, sprechen seit dem Ende der 1970er Jahre häufig von der „social construction of scientific knowledge“, wie es David Bloor 1979 formulierte. Sie meinen damit, dass wissenschaftliche Erkenntnisse – die sie in keiner Weise leugnen – nicht einfach vom Himmel fallen beziehungsweise dem genialen Gehirn eines von der Welt abgewandten, in seinem Labor eingeschlossenen Forschers entspringen, sondern in sozialen, politischen und kulturellen Kontexten und von Menschen mit einem Alltag und mit alltäglichen Sorgen und Konflikten hervorgebracht werden: im Rahmen universitärer Hierarchien und verstrickt in innerwissenschaftliche Kämpfe, mit Hilfe nie perfekter Technologien und handwerklicher Praktiken im Labor, im Ringen um Finanzierung, unter dem Einfluss von kulturellen und politischen Trends und Stimmungen, unterstützt oder behindert von spezifischen Publikationsmedien – und vieles andere mehr. Was sich als wissenschaftliche Wahrheit durchsetzt – und was nicht –, ist von solchen weltlichen Bedingungen nicht nur nicht unberührt, sondern hervorgebracht, geformt und mitbedingt, wie die Wissenschaftsgeschichte in unzähligen Studien zeigen konnte.
Keine dieser Studien behauptet dabei in platter Weise, dass wissenschaftliche Erkenntnisse eben nur „relativ“ und daher nicht ernst zu nehmen seien. Sie demonstrieren vielmehr die geschichtliche und gesellschaftliche Gewordenheit und Gemachtheit des Wissens, was mit dessen angeblicher „Diskreditierung“ nicht das Geringste zu tun hat. Über die Wahrheit von Naturgesetzen fällen sie kein Urteil – wieso und mit welcher Kompetenz auch? –, sondern beschreiben den historischen Prozess ihrer Formulierung und Festlegung. Zumindest unterhalb der Schwelle eigentlicher Naturgesetze wie Newtons Fallgesetzen oder dem Zweitem Hauptsatz der Thermodynamik wird dabei sichtbar, dass wissenschaftliche Wahrheiten immer wieder umstritten und in Bewegung sind – wenn auch, zweifellos, nicht in allen Disziplinen in gleicher Weise. Einer der „Großdenker“ in der Schnittfläche von Geschichtswissenschaft und Philosophie, Michel Foucault, hat in diesem Sinne sehr wohl zwischen „dubiosen Wissenschaften“ wie Psychopathologie oder Kriminologie auf der einen Seite und Mathematik oder Physik auf der anderen zu unterscheiden gewusst.
Doch wie dem im Einzelnen auch sei: Die feministische Wissenschaftsphilosophin und Zoologin Donna Haraway, eine der prominentesten Stimmen in dieser weitverzweigten Debatte, betont, dass wissenschaftliche Rationalität trotz aller „Situiertheit“ von Wissen das Beste ist, was wir haben, um die Wirklichkeit zu erkennen. Daher sei es auch falsch zu sagen, alles Wissen sei eben nur „relativ“. Denn es gibt, so Haraway, immer jeweils bessere und schlechtere Weisen, die Welt zu beschreiben. Es existiert zwar, wie sie sagt, kein „göttlicher Trick“, der einem einen direkten Link zur „Wahrheit“ verschafft, und eben auch kein „göttlicher Blick“, der, losgelöst von allem Weltlichen, von oben herab Einsicht in die ewigen Naturwahrheiten gewähren würde. Aber es gibt robuste Formen wissenschaftlicher Rationalität, die einem besser als andere Formen des Wissens und der Weltbeschreibung helfen, „durch den Tag zu kommen“. Oder eben besser durch eine Pandemie.
Die soziale Konstruktion der Realität
Auch in anderen Zweigen der Geistes- und Sozialwissenschaften repräsentiert die Rede von der „sozialen Konstruktion“ einen breiten, wenn auch nicht immer expliziten Basiskonsens. Unter anderem seit dem einflussreichen Buch The Social Construction of Reality der beiden Soziologen und Religionswissenschaftler Peter L. Berger und Thomas Luckmann von 1966 bedeutete das, dass die Welt der Menschen nicht durch letztlich natürliche Gegebenheiten geformt bzw. von diesen bestimmt sei, sondern durch vielfach veränderbare soziale Interaktion und gemeinsame Bedeutungsstiftungen „konstruiert“ wird – was natürlich in keiner Weise bedeutet, deren „Realität“ zu leugnen: Jede banale Ampel beruht zwar auf einem vollkommen arbiträren, aus der Luft heraus erfundenen Code, doch wer bei Rot über die Straße geht, riskiert den Tod. Die sozialen Konstrukte, die unsere Wirklichkeit formen, sind in der Regel ziemlich real.
Doch gilt diese These von der sozialen Konstruktion tatsächlich auch für unser Wissen von der Natur, wie David Bloor sagte? Ein Virus ist schließlich etwas anders als eine Ampel, und ein Naturgesetz sowieso. „Darauf zu pochen“, so Bönt, „dass alles Wissen relativ sei, ist sinnlos: Ein Naturgesetz ist etwas anderes als der willkürliche Erlass eines Gottes oder seines stellvertretenden weltlichen Patriarchen, der nur bis zum Widerruf gilt. Ein Naturgesetz ist zuverlässig.“ Und ein Virus, so können wir offenbar folgern, ist nun wirklich das Gegenteil von „sozial konstruiert“, geschweige denn „relativ“. Solches zu behaupten, rückt die „Großdenker“ unter den Historikern und Philosophen daher umgehend, wenn auch ohne Namennennung und weiteren Beleg, in die Reihen der Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker:innen.
Wie also halten es Historiker:innen mit dem Virus? Es ist nicht zu sehen, dass sie seine Realität „relativieren“ und die mit ihm befassten Wissenschaften „diskreditieren“ würden, Irrtum in Einzelfällen vorbehalten und vom isolierten „Großdenker“ Giorgio Agamben abgesehen. In diesem Punkt steht die breiteste Übereinstimmung vielmehr außer Frage: Wir sind mit einer Realität außerhalb von uns selbst konfrontiert, die in Krankheit und Tod enden kann. Die „Realität“ des Virus anzuerkennen, muss daher bedeuten, „mit“ ihm zu leben bzw. es, wenn immer möglich, zu bekämpfen. Dafür ist es notwendig, den Feind zu kennen.
Allein, das ist nur die eine Seite der „Wahrheit“, die laut Ralf Bönt nicht „relativ“ sei. Denn das Virus muss auch mit uns „leben“ (Anführungszeichen, denn es lebt nicht wirklich). Das heißt, es muss gewärtigen – die anthropomorphen Metaphern lassen sich manchmal schlecht vermeiden –, dass wir auf seine Existenz reagieren, sein Agieren erforschen, sein Verhalten interpretieren und versuchen, ihm sein blindes Sich-Reproduzieren (und dabei Schadenanrichten) so schwer wie möglich zu machen. Das ist nun aber keine bloß naturwissenschaftliche Wahrheit. Denn die Gesellschaft der Menschen, in deren Körpern das Virus sich reproduziert, ist kein Labor, keine Nährlösung und kein tierischer Modellorganismus, in welchem die dem Virus eigene Reproduktionslogik beobachtet und erforscht werden kann. Zwar dient das Wissen, das aus solcher Laborforschung resultiert, in entscheidender Weise dem Verständnis der Reproduktionsweise des Virus in menschlichen Körpern. Aber in einer Pandemie oder überhaupt bei einer Infektionskrankheit geht es nicht allein und nicht einmal vorrangig um einzelne Körper, sondern um die Existenz des Virus in einer Bevölkerung – und damit einerseits um die Chancen und Grenzen seiner weiteren Verbreitung, und andrerseits um die Wahrscheinlichkeit, mit der es diese Chancen durch Mutation zu erhöhen vermag.
Die soziale Konstruktion des Virus
Genau das aber, diese Realität des Virus, die wir alle seit über einem Jahr live und im Maßstab 1:1 herstellen, ist kein Laborexperiment, sondern eine gemeinsame, ebenso wissenschaftliche wie gesellschaftliche, insgesamt hochpolitische und umkämpfte soziale Konstruktion, in die wir alle involviert sind. Das ist der eigentliche Kern aller Maßnahmen, denen wir uns seit einem Jahr mehr oder weniger geduldig fügen: Dass wir durch soziales Handeln, durch die gezielte Veränderung von Kontexten, durch die Mobilisierung von Wissen, durch eine permanente mediale Selbstbeobachtung sowie durch weltweite, gigantische Forschungsanstrengungen und vieles mehr die „Realität“ des Virus so zu verändern versuchen, dass es verschwinden oder zumindest seine Gefährlichkeit verlieren möge.
Was ist also die „Realität“ des Virus? Offensichtlich eine, die genauso von uns, unserem Wissen und Handeln abhängt wie von seiner eigenen Beschaffenheit. Die „Wahrheit“, die „Realität“ des Virus anzuerkennen, bedeutet daher gerade zu verstehen, wie sehr es sozial konstruiert ist. Das heißt zu verstehen, wie sehr zum einen seine ganze Erscheinungsweise im Rahmen menschlicher Gesellschaften offenbar von zunehmenden Kontakten zwischen Menschen und Wildtieren abhängt, und zum anderen und vor allem aber, in welcher Weise es von unserem Wissen und Handeln mitbestimmt wird. Das heißt, um das Offensichtliche zu sagen, selbstverständlich nicht, dass das Virus ohne diese Interaktionen und Interpretationen nicht existieren würde. Aber es würde vielleicht weiterhin nur in einer Fledermausart existieren (oder so ähnlich – nicht mein Spezialgebiet).
Vor allem aber: Alle unsere Bemühungen, auf die Reproduktions- und Mutationsmöglichkeiten des Virus einzuwirken, wären komplett sinn-, wirkungs- und erfolglos, wenn seine soziale Konstruiertheit nicht real wäre. Real ist nicht nur das Virus „an sich“ (was auch immer das heißen mag) – real ist genauso seine Erscheinungsweise als soziale Konstruktion, die sich je nach dem Druck seiner Bekämpfung (oder seiner Verharmlosung) ändert. Sie hängt, wie gesagt, von unzähligen individuellen, dabei aber kulturell, politisch und rechtlich geformten Interaktionen und Interpretationen der Situation ab, in der wir seit einem Jahr leben. Sie hängt von wissenschaftlichem Wissen ab – und jetzt ganz besonders vom Erfolg von Impfstoffen und von Impfkampagnen, die beide überaus komplexe soziale Konstrukte sind. Mit all dem muss das Virus „leben“, all das bestimmt seine Existenz und Realität. Die Rede von der „Ewigkeit“ beziehungsweise „Verlässlichkeit“ der Naturgesetze hilft da nicht weiter, weil es hier nur in einer sehr eingeschränkten, in einer „sozial“ beschränkten Weise um Naturgesetze geht. Es ist unsere menschengemachte Welt, in der das Virus sein Unwesen treibt, nicht die Natur. Es ist, so gesehen, unser Virus.