Die Universitäten befinden sich in einer Krise. Doch ist diese alt oder neu – und wird sie durch die Bologna-Reform gemildert oder erst produziert? Vielleicht ist die Krise der Universität gar „chronisch“, wie Jürgen Habermas schon in den 1960er Jahren vermutete.

  • Philipp Felsch

    Philipp Felsch ist Historiker und Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er publizierte 2015 das Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990" im C.H. Beck Verlag.
Universität Bologna

Univer­sität Bologna

1999 unter­zeich­neten 29 euro­päi­sche Bildungs­mi­nister die Bologna-Erklärung. Seither befinden sich viele euro­päi­sche Univer­si­täten im soge­nannten „Bologna-Prozess“. Bachelor- und Master­stu­di­en­gänge wurden geschaffen, euro­pa­weite Konver­ti­bi­lität von Studi­en­leis­tungen einge­führt. Inner­halb der Hoch­schulen – und vor allem in den Geis­tes­wis­sen­schaften – halten viele den Umbau für geschei­tert. Sie kriti­sieren das Über­hand­nehmen von ökono­mi­scher und büro­kra­ti­scher Ratio­na­lität, die Verschu­lung, die Unter­fi­nan­zie­rung, die eher einge­schränkte als gewach­sene Studie­ren­den­mo­bi­lität. Doch paart sich Ableh­nung mit Fata­lismus. Das geht schon aus der merk­wür­digen Sammel­be­zeich­nung der Reformen als „Prozess“ hervor. Das Gefühl herrscht vor, viele Maßnahmen seien sinnlos, doch wie bisher könne es eben auch nicht weiter­gehen, denn schliess­lich befänden sich die Univer­si­täten in einer Krise. Doch ob die Krise eine alte oder neue ist, ob sie durch die jüngste Hoch­schul­re­form zumin­dest gemil­dert oder erst entstanden ist – darüber gehen die Meinungen ausein­ander. Ist das Leiden an den Zuständen der Univer­sität, wie Jürgen Habermas schon in den 1960er Jahren insi­nu­ierte, womög­lich „chro­nisch“?

Die Krise der Univer­sität im 18. Jahrhundert

Universität Heidelberg

Univer­sität Heidelberg

Auch im 18. Jh. befanden sich viele euro­päi­sche Univer­si­täten in einer Krise. Ihre härtesten Kritiker rech­neten sich damals dem Lager der Aufklä­rung zu. In Frank­reich und England, aber auch in den deut­schen Staaten entwi­ckelte sich die Aufklä­rung in einem Span­nungs­ver­hältnis zur akade­mi­schen Gelehr­sam­keit. Die intel­lek­tu­ellen Debatten spielten sich nicht in Semi­nar­räumen, sondern in Salons, Kaffee­häu­sern und Lese­ge­sell­schaften ab. Speziell in Deutsch­land wurden die Univer­si­täten in dieser Zeit zur Ziel­scheibe der Kritik der aufge­klärten Pädagogik. In den Augen des Phil­an­thropen Chris­tian Gott­hilf Salz­mann etwa verkör­perten sie ein münd­li­ches Regime des Wissens, dessen Herkunft aus einer Zeit vor der Erfin­dung des Buch­drucks für seinen Anachro­nismus verant­wort­lich war.

Univer­sitätŠ Hamburg

In der Tat war die Univer­sität des euro­päi­schen Mittel­al­ters eine auf Münd­lich­keit basie­rende Insti­tu­tion. Abge­sehen von der dispu­tatio (die bis heute in der Vertei­di­gung von Doktor­ar­beiten fort­lebt) stellte die Vorle­sung (lectio) die maßgeb­liche Form akade­mi­scher Lehre dar. In der Vorle­sung, die nach dem Vorbild der kirch­li­chen Predigt gestaltet war, las der Univer­si­täts­lehrer mit lauter Stimme aus einem Klas­siker, um den Text im Anschluss mit eigenen Worten zu kommen­tieren. Die Vorle­sungen des 18. Jh. litten aller­dings darunter, dass ihr Besuch für die Studenten nicht mehr verpflich­tend war. Auf die Prüfungen, die am Ende zu bestehen waren, konnten sie sich neuer­dings auch mit Büchern vorbereiten.

uni-cambridge

Univer­sity of Cambridge

Der Hörer­schwund war beson­ders in der nied­rigsten der vier Fakul­täten, der Philo­so­phi­schen, drama­tisch, weil deren propä­deu­ti­sche Funk­tion – auf das Studium von Jura, Medizin oder Theo­logie vorzu­be­reiten – seit dem 17. Jh. zuneh­mend in den Zustän­dig­keits­be­reich der höheren Schulen, Ritter­aka­de­mien und Gymna­sien über­ge­gangen war. Vielen ordent­li­chen Profes­soren kam das entgegen, denn für nicht gehal­tene Lehr­ver­an­stal­tungen büssten sie keinerlei Einkünfte ein. Sir Issac Newtons Vorle­sung etwa soll ster­bens­lang­weilig gewesen sein und selten länger als eine halbe Stunde gedauert haben. Wenn, wie gewöhn­lich, nur wenige Studenten auftauchten, fand sie gar nicht statt. Ähnli­ches wird heute beklagt: Bologna-Kritiker diagnos­ti­zieren einen soge­nannten „disen­ga­ge­ment compact“, mittels dessen sich Profes­soren und Studenten still­schwei­gend darauf einigen würden, von wech­sel­sei­tigen Leis­tungs­er­war­tungen abzusehen.

Universität Basel

Univer­sität Basel

Doch zurück in die Frühe Neuzeit: Auf dem Konti­nent, und zumal in den deutsch­spra­chigen Staaten, schritten die stadt- und terri­to­ri­al­staat­li­chen Obrig­keiten immer wieder gegen diesen Schlen­drian ein. Schon im 16. Jh. hatte der Stadtrat von Basel die Profes­soren der örtli­chen Univer­sität dazu verpflichtet, ihre Vorle­sungen zu halten, sobald auch nur ein einziger Student erschien. In dem Mass, wie die Kontrolle über die Univer­si­täten zu einem Erfor­dernis „guter Policey“ wurde, wie es in den zeit­ge­nös­si­schen Quellen heißt, tauchen vergleich­bare Vorschriften im 17. und 18. Jh. im Umkreis der meisten konti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Hoch­schulen auf. Johann Hein­rich von Justi war einer der führenden Policey-Wissenschaftler seiner Zeit. Die Notwen­dig­keit, die Univer­si­täten dem Bedarf des Staates – vor allem an der Ausbil­dung von Beamten – anzu­passen, zieht sich als roter Faden durch sein umfang­rei­ches kame­ra­lis­ti­sches Werk. Was dieser Anfor­de­rung im Weg stand, war das Unge­nügen der Professoren.

Rebel­li­sche Studenten

Univer­sität Jena

Neben den Profes­soren stellten die Studenten das zweite große Ärgernis für die Univer­si­täts­kri­tiker des 18. Jh. dar. Sie diagnos­ti­zierten die sitt­liche Verwil­de­rung einer Jugend, die die Privi­le­gien miss­brauchte, die ihnen die „akade­mi­sche Frei­heit“ zuge­stand. Kritik am Duell­wesen, an den Trink­ri­tualen, an Desin­ter­esse und Unwis­sen­heit der Studenten hat eine lange Tradi­tion. Dass sie um 1800 eine neue Qualität erreichte, war eine Folge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion: Studen­ten­kra­walle und Studen­ten­un­ruhen nahmen in den 1790er Jahren eine neue, poli­ti­sche Note an. An der Univer­sität Jena, deren Studenten einen beson­ders schlechten Ruf genossen, flammten 1792 heftige Ausein­an­der­set­zungen um die Reform der studen­ti­schen Ehren­ge­richts­bar­keit auf. Als der Landes­herr Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach Soldaten schickte, beschlossen 600 der 800 einge­schrie­benen Studenten, die Stadt zu verlassen und nach Erfurt umzu­ziehen. Nicht zuletzt aus ökono­mi­schen Gründen war das für eine kleine Univer­si­täts­stadt wie Jena eine besorg­nis­er­re­gende Perspek­tive. Seit dem Mittel­alter stellte der – ange­drohte oder reale – Auszug das wirk­samste Druck­mittel für die Durch­set­zung studen­ti­scher Inter­essen dar.

Universität Köln

Univer­sität zu Köln

Die Erlasse zahl­rei­cher deut­scher Landes­re­gie­rungen um 1800 zielten darauf ab, die „akade­mi­sche Diszi­plin“ zu sichern oder wieder­her­zu­stellen. Vehe­men­tere Kritiker erhoben die Forde­rung, die Univer­si­täten abzu­schaffen. „Alles Vorher­ge­hende nun zusam­men­ge­nommen“, schrieb Alex­ander und Wilhelm von Humboldts ehema­liger Haus­lehrer, der Pädagoge Johann Hein­rich Campe 1792, „könnte und müßte man, deucht mich, die bishe­rige Einrich­tung der Univer­si­täten je eher je lieber aufheben.“

Univer­si­täts­schlies­sungen

Im Jahr darauf fasste die fran­zö­si­sche Natio­nal­ver­samm­lung den Beschluss, die Académie des Sciences zu schliessen – seit dem 17. Jh. das Flagg­schiff der fran­zö­si­schen Wissen­schaft. Kurz darauf machte sie auch die Univer­si­täten zu. In der deutsch­spra­chigen Diskus­sion lösten diese drama­ti­schen Vorgänge ein starkes Echo aus. Sie verschärften die Krise der Univer­si­täten, indem sie Befür­wor­tern wie Gegnern der Hoch­schulen Argu­mente an die Hand gaben. Zwar durften viele der fran­zö­si­schen Univer­si­täten nach einer Inte­rims­phase wieder öffnen; Forschung und nament­lich die Rekru­tie­rung von Eliten fanden künftig aber in den von Napo­leon gegrün­deten Grandes Écoles der Haupt­stadt statt.

Humboldt-Universität zu Berlin

Humboldt Univer­sität zu Berlin

Auch in Deutsch­land fiel den unmit­tel­baren und mittel­baren Folgen der napo­leo­ni­schen Herr­schaft mehr als die Hälfte der exis­tie­renden Univer­si­täten zum Opfer. Verge­gen­wär­tigt man sich dieses Abwick­lungs­ge­schehen sowie die Vehe­menz des Antiaka­de­mismus in der deutsch­spra­chigen Diskus­sion, dann muss es aller­dings erstaunen, dass das fran­zö­si­sche Modell der Grandes Écoles nicht auch hier die Ober­hand gewann. Auch in den deut­schen Staaten gab es wissen­schaft­liche Akade­mien wie etwa das Preu­ßi­sche Colle­gium Medico-Chirurgicum, von denen ein Umbau nach fran­zö­si­schem Vorbild hätte ausgehen können. Doch die „Kultur der Nieder­lage“ (Wolf­gang Schi­vel­busch) führte nicht zur Tren­nung, sondern zur Verei­ni­gung von Forschung und Lehre in der nach den Plänen Wilhelm von Humboldt 1809 gegrün­deten neuen Berliner Univer­sität. Ihr nach­hal­tiger Erfolg beruht darauf, dass es ihren Urhe­bern gelang, nicht nur die Idee der akade­mi­schen Bildung neu zu defi­nieren, sondern auch die proble­ma­ti­sche Figur des Profes­sors einem relaunch zu unter­ziehen. Dafür war beson­ders die Trans­for­ma­tion von münd­li­cher Gelehr­sam­keit in schrift­liche Autor­schaft massgeblich.

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Universität Göttingen

Univer­sität Göttingen

Das aller­dings hat eine Vorge­schichte im 18. Jahr­hun­dert. Der Histo­riker William Clark hat in seinem Buch Academic Charisma and the Origins of the Rese­arch Univer­sity (2007) gezeigt, dass die „Ratio­na­li­sie­rung“ der deutsch­spra­chigen Univer­si­täten in der Frühen Neuzeit nicht nur auf obrig­keits­staat­li­chen Maßnahmen von der Art beruhte, wie ich sie ange­deutet habe. Beson­ders die Regie­rungen der protes­tan­ti­schen Staaten setzten zugleich auch Anreize zur Imple­men­tie­rung eines akade­mi­schen Marktes, die der Ausbil­dung von charis­ma­ti­schen Profes­so­ren­per­sön­lich­keiten förder­lich waren. In Göttingen, der 1737 gegrün­deten Pres­ti­ge­uni­ver­sität des König­reichs Hannover, wurden Profes­soren nicht mehr aufgrund von Heirats­po­litik oder Besitz von Büchern, sondern nach Mass­gabe ihrer Publi­ka­ti­ons­listen und ihres Renom­mees in der Gelehr­ten­re­pu­blik rekru­tiert. Das 1787 einge­setzte preus­si­sche Ober­schul­kol­le­gium führte für in- wie auslän­di­sche Hoch­schul­lehrer detail­lierte Dossiers, um ihren Markt­wert zu beob­achten, der über die Beru­fungs­po­litik der Minis­te­ri­al­be­hörde entschied. Der „akade­mi­sche Kapi­ta­lismus“ (Richard Münch), d.h. die Ausbrei­tung von unter­neh­me­ri­schem Handeln in der Univer­sität, die wir geneigt sind, als Ergebnis des Bologna-Prozesses zu betrachten, geht in seinen Anfängen bis ins 18. Jh. zurück.

Der Professor als Autor

Universität Jena

Univer­sität Jena

An die Mass­nahmen früh­neu­zeit­li­cher Büro­kraten knüpften um 1800 die roman­ti­schen Univer­si­täts­theo­re­tiker an. Johann Gott­lieb Fichte, Fried­rich Schel­ling und Fried­rich Schlei­er­ma­cher gehören zu den Profes­soren, die sich in den 1790er Jahren in die Debatte über die Lage der deut­schen Univer­si­täten einschal­teten, um für deren Erhal­tung und grund­le­gende Erneue­rung zu plädieren. Über ihre Theo­rien wanderten zahl­reiche roman­ti­sche Impulse in die Hoch­schul­re­form der frühen Moderne ein. Doch die Bezüge zwischen Univer­sität und Romantik reichen weiter. Immerhin ist es bemer­kens­wert, dass die roman­ti­sche Bewe­gung in Deutsch­land – anders als in Frank­reich oder England – nicht von einem poli­ti­schen oder kultu­rellen Zentrum, sondern von Jena, einer kleinen Univer­si­täts­stadt, ihren Ausgang nahm.

Fichte stimmte mit den Kriti­kern darin überein, dass die Hoch­schulen in ihrer bishe­rigen Form „sofort abge­schafft“ werden müssten. In der idealen Univer­sität erblickte er hingegen eine neue Kirche: „das Heiligste, was das Menschen­ge­schlecht besitzt“. Um ihren Bildungs­auf­trag zu erfüllen, dürften sich die Profes­soren aller­dings nicht darauf beschränken, bereits Bekanntes zu repro­du­zieren, sondern müssten – genau wie die Dichter – in „schöp­fe­ri­scher“ Weise tätig sein. Daher verzich­tete Fichte konse­quent darauf, seine eigene Vorle­sung auf die Ausle­gung von Klas­si­kern oder bereits exis­tie­rende Lehr­bü­cher zu stützen, sondern stieg – wie er das selber nannte – als „wissen­schaft­li­cher Künstler“ aufs Katheder. Die „Einfüh­rung in die Wissen­schafts­lehre“, die unter den Studenten für ihre Unver­ständ­lich­keit berüch­tigt war, las er vom frisch verfassten Manuskript.

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Univer­sität Marburg

Auf die preus­si­sche Hoch­schul­re­form sind in den vergan­genen zwei Jahr­hun­derten etliche weitere gefolgt. Anders als im 18. Jh. reagierten sie aber nicht auf das Schrumpfen, sondern auf die Zunahme der Studen­ten­zahlen. An ihrem Wachstum gemessen muss die Univer­sität als eine der erfolg­reichsten Insti­tu­tionen des 20. Jh. betrachtet werden. Doch obwohl es ihr gelingt, immer brei­tere Bevöl­ke­rungs­schichten zu inklu­dieren, herrscht – zumin­dest in der Philo­so­phi­schen Fakultät – die Dialektik von Kritik und Krise vor. Das liegt am Wachstum selbst, für das die Geis­tes­wis­sen­schaften struk­tu­rell schlecht ausge­rüstet sind. Mit seiner Erfolgs­formel, Forschung und Lehre zu verei­nigen, hat gerade das humboldt­sche Modell seinem Personal immer schon einen Rollen­kon­flikt zuge­mutet, der propor­tional zur Größe der Univer­si­täten zwangs­läufig zuge­nommen hat. Kein Professor hat heute noch das Gefühl, ein „wissen­schaft­li­cher Künstler“ sein zu dürfen, obwohl sich, para­doxer Weise, die Rhetorik der „Origi­na­lität“ bzw. der „riskanten Forschung“ in den letzten Jahren konti­nu­ier­lich ausge­dehnt hat.

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Univer­sität Zürich

Um für die Zumu­tungen der gegen­wär­tigen Bologna-Hochschulreform besser gewappnet zu sein, sollte die Univer­sität ein Bewusst­sein ihrer eigenen Geschichte zurück­ge­winnen, die, das vergisst man häufig, weiter als die des sie heute in seine Dienste nehmenden Natio­nal­staates reicht. Das könnte in Zukunft auch eine Aufgabe für die Wissen­schafts­ge­schichte sein, die die verstaubte Univer­si­täts­ge­schichte seit Jahren vernach­läs­sigt hat. Histo­ri­sche Aufklä­rung ist selbst zwar noch keine Lösung, hilft aber dabei, auf falsche Lösungen weniger leicht hereinzufallen.