Die Hamas ist eine terroristische Organisation, Netanjahu ein katastrophaler Politiker. Beide gaben dem Bösen Raum, was zum Massaker am 7. Oktober 2023 und zum darauffolgenden Krieg in Gaza führte. Doch was ist das Böse? Und wie kann man ihm begegnen?

  • Uriel Abulof

    Uriel Abulof ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tel-Aviv und lehrt an der Cornell University. Er beschäftigt sich mit der Politik der Angst, des Glücks und der Hoffnung, mit Legitimation, sozialen Bewegungen, Nationalismus und ethnischen Konflikten. Abulof veröffentlichte u. a. “The Mortality and Morality of Nations” (2015) und “Living on the Edge: The Existential Uncertainty of Zionism” (2015).

Das Böse. Ein beun­ru­hi­gendes Wort, das die meisten Akademiker:innen selten verwenden, es sei denn, sie studieren, wie andere Menschen es verwenden. Wir fürchten Nietz­sches Abgrund: „Wer mit Unge­heuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Unge­heuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Es ist unbe­stritten, dass das Denken in Begriffen von Gut und Böse eine Voraus­set­zung, oft ein Vorspiel dafür ist, um böse zu werden. Doch gerade wegen dieses Teufels­kreises und seiner schreck­li­chen Auswir­kungen sollten wir lange und sorg­fältig in den Abgrund blicken. Es gibt Menschen, die so denken und sich so verhalten, dass sie mora­li­sche Bezeich­nung „böse“ verdienen, und wir sollten sie als solche bekämpfen. Das Folgende ist mein hoff­nungs­voller Versuch, dem Bösen ins Auge zu schauen und es zu verstehen, wobei ich mich auf das Massaker vom 7. Oktober und den darauf­fol­genden Krieg konzentriere.

Die Ausein­an­der­set­zung mit dem Bösen ist in der jüdi­schen Geschichte nichts Neues. Wir haben das schon einmal erlebt. In einem meiner Bücher analy­siere ich die Exis­tenz­ängste der israe­li­schen Juden im späten 19. Jahr­hun­dert. Doch noch nie zuvor habe ich gesehen, dass der öffent­liche Diskurs in Israel so sehr von Angst und von Analo­gien zum Holo­caust durch­drungen war, und das aus guten Gründen: Das Massaker am 7. Oktober war der blutigste Tag für Jüd:innen seit dem Holo­caust.

Die Analogie zum Holo­caust bringt Kommentator:innen gele­gent­lich dazu, Terro­risten als ,mensch­liche Tiere‘ oder ,menschen­ähn­liche Tiere‘ zu bezeichnen. Aber der Vergleich mit dem Natio­nal­so­zia­lismus ist nicht deshalb gerecht­fer­tigt, weil die Hamas-Täter, wie die Nazis, keine Menschen wären, sondern weil sie es, wie diese, gerade sind. Der Holo­caust wie auch das Massaker der Hamas offen­baren die dunkelsten, ja bösar­tigsten Seiten des Mensch­seins; nicht­mensch­liche Tiere würden nicht aus Über­zeu­gung massa­krieren. In gewisser Hinsicht sind wir alle mensch­liche Tiere und es ist der „mensch­liche“, nicht der „tieri­sche“ Teil, der die Gräu­el­taten antreibt. Gerade weil diese Taten mensch­lich sind, können und sollten wir sie besser verstehen, anpran­gern und bekämpfen.

Levia­than im Sand

Auf den Tag genau fünfzig Jahre vor dem 7. Oktober 2023, am zweiten Tag des Jom-Kippur-Krieges, verkün­dete Vertei­di­gungs­mi­nister Mosche Dajan: „Das ist die Zerstö­rung des Dritten Tempels.“ Mit dem Ausdruck „Tempel“ meinte er den Staat Israel. Dajan hatte Unrecht, aber fünfzig Jahre später erschien seine Verkün­di­gung des Unter­gangs prophe­tisch. Viele Israelis haben jetzt das Gefühl, ihre Heimat verloren zu haben – und dafür kämpfen zu müssen, sie wieder aufzu­bauen.

Der gegen­wär­tige kollek­tive Schock ist größer als der von 1973. Damals fügten die riesigen ägyp­ti­schen und syri­schen Armeen aufgrund eines nach­rich­ten­dienst­li­chen Fehlers den IDF-Kräften schwere Verluste zu, nach denen sie sich jedoch schnell wieder aufrap­peln konnten. Israel selbst wurde nicht über­fallen. Am 7. Oktober 2023 wurden die Israelis dagegen Zeugen, wie ihre südli­chen Mili­tär­posten, Gemeinden und Kibbuzim über­rannt wurden, und zwar nicht von staat­li­chen Armeen, sondern von einer Miliz und einem Mob, die die angeb­lich unüber­wind­bare Barriere über­querten, dann die zur Bewa­chung verblie­benen Soldat:innen töteten und schliess­lich mehr als 1300 Zivilist:innen, junge und alte Männer und Frauen, sogar Kinder und Babys abschlach­teten und Hunderte folterten und entführten. Fami­lien mit kleinen Kindern, junge Leute, die ein Musik­fes­tival feierten, auslän­di­sche Studie­rende und Arbeiter:innen wurden verge­wal­tigt, lebendig verbrannt, enthauptet, gede­mü­tigt und vorge­führt. Die Hamas verschonte niemanden.

Während die Hamas maro­dierte, blieben die verzwei­felten Hilfe­rufe der Opfer von den IDF und anderen staat­li­chen Insti­tu­tionen stun­den­lang weit­ge­hend unbe­ant­wortet. Der Staat, diese moderne Verhei­ßung eines allmäch­tigen „Levia­thans“ (Hobbes), dessen Haupt­auf­gabe, ja Exis­tenz­be­rech­ti­gung darin besteht, seine Bürger:innen zu schützen, verschwand, oder besser gesagt, er lief über und hinter­ließ ein erschüt­terndes kollek­tives Gefühl des Verrats und der Verlassenheit.

Mit Einbruch des staat­li­chen Schutz­schirms schien die eigent­liche Fassade der Zivi­li­sa­tion – gegen­sei­tige Hilfe, Respekt und Vertrauen zwischen den Menschen – wegge­fallen zu sein, und wir fühlten uns ausge­lie­fert, verletz­lich und allein. Es war, als ob das 75 Jahre alte Israel, diese „High-Tech-Nation“, sich in die Reihe der failed states einge­reiht hätte, als ob seine zentralen Insti­tu­tionen, die für den Schutz der eigenen Bevöl­ke­rung zuständig sind, vor unseren Augen zusam­men­ge­bro­chen wären. Wir sahen zu, wie der Levia­than im Sand versank.

Woher kommt das Böse?

Der zerschla­gene Levia­than hat ein Zeichen im Sand hinter­lassen – ein Frage­zei­chen: Wie sollen wir mit dem Bösen umgehen? Wie können wir es bekämpfen und besiegen?

Zunächst sollten wir es defi­nieren und iden­ti­fi­zieren. Wir sollten bestimmen, was „das Böse“ bedeutet, und dann seine Vertreter und deren Ermög­li­cher aufspüren. Meine Arbeits­de­fi­ni­tion des Bösen ist einfach: Das Böse behan­delt Menschen wie Dinge. Das Böse bedeutet, dass man Menschen als Hinder­nisse ansieht und sich ihnen gegen­über so verhält, dass sie besei­tigt werden müssen, oder als Mittel, die man zu seinem Nutzen oder Vergnügen (miss)braucht.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Wir alle bergen das Böse in uns. Diese „Bana­lität des Bösen“ treibt manche zu resi­gna­tivem Nihi­lismus: Wir sind alle schlecht, nichts ist wichtig. Aber es sollte uns in die entge­gen­ge­setzte Rich­tung moti­vieren, nämlich uns zu enga­gieren, die Dinge zu durch­denken, unser eigenes Gewissen zu entwi­ckeln, indi­vi­duell und öffent­lich – sowie entspre­chend zu handeln.

Beim Umgang mit dem Bösen sollten wir vorsichtig sein und uns an Nietz­sches Abgrund erin­nern: Je mehr wir in Gegen­sätzen von Gut und Böse, Gott und Satan denken, desto eher werden wir selbst böse. Wenn der Kampf gegen Monster bedeutet, eines zu werden, wenn der Sieg über das Böse bedeutet, böse zu werden, dann haben wir umsonst gekämpft.

Wenn man die Moral durch ein nicht-binäres Prisma betrachtet, wird ein Para­doxon deut­lich: Ein Haupt­hin­dernis für den Sieg über das Böse ist der Glaube, dass es exis­tiert – und dass man es besiegen kann. Präsi­dent Biden verkün­dete, die Hamas sei „das reine Böse“. Er irrt sich. Wie reine Recht­schaf­fen­heit oder Allgü­tig­keit ist auch das reine Böse ein meta­phy­si­sches Konstrukt. Echte mensch­liche Wesen sind nicht „das“ Böse, und daher kann das Böse im Gegen­satz zu sterb­li­chen Menschen niemals getötet oder besiegt werden. Böse Hand­lungen dagegen gab und gibt es und es liegt an uns, diese zu bekämpfen. Doch wie?

Verletzte Menschen verletzen. Einige Israelis, die in dem Massaker vom 7. Oktober den Holo­caust sehen, wollen den Palästinenser:innen dasselbe antun. Letz­tere, die in Israels Reak­tion die Nakba sehen, wünschen sich viel­leicht dasselbe von ihrem Todfeind. Beide Gemein­schaften sehen sich oft als recht­schaf­fene Opfer.

Der beste Weg aus diesem Teufels­kreis wäre das Beenden der gegen­sei­tigen Verlet­zungen. Ob aus reli­giöser Über­zeu­gung, säku­larem, libe­ralem Glauben oder schlichter Fantasie – es hat einen großen Reiz, das Böse zu besänf­tigen. Aber wenn es um Menschen geht, die unschul­dige Menschen absicht­lich verletzen, die sich weigern, zu ihren Entschei­dungen und Hand­lungen zu stehen, die sich weigern zu lernen, die sich weigern, sich zu bessern – dann lässt sich das Böse nicht beschwich­tigen, geschweige denn besänf­tigen. Es wird nur noch schlimmer werden. Wir sollten bereit sein, die Menschen aufzu­geben, die das Gute in ihrer eigenen Mensch­lich­keit aufge­geben haben.

Zugleich dürfen wir unsere eigene Mensch­lich­keit nicht aufgeben. So schwer es uns auch fallen mag, wir sollten uns immer aktiv dafür entscheiden, Menschen – wie böse sie auch sein mögen – als Menschen zu behan­deln und ihnen zum Beispiel zu helfen, wenn sie verletzt sind und keinen Schaden mehr anrichten können. Der beste Weg, um nicht in den Abgrund zu stürzen, ist es, den Hori­zont nie aus den Augen zu verlieren.

Schlacht­haus 23

Das Böse wird oft von Ideen ange­trieben, in diesem Fall von einer Ideo­logie. Die Hamas-Charta (1988) ist dies­be­züg­lich ein aufschluss­rei­ches Doku­ment. Der Sechs­ta­ge­krieg 1967 wird kaum erwähnt, die Grün­dung Israels 1948 ebenso wenig. Der Kampf ist ewig, univer­sell und richtet sich direkt gegen „Israel, das Judentum und die Juden, die den Islam und das musli­mi­sche Volk heraus­for­dern“ (Artikel 28). Das Doku­ment ist nicht nur zutiefst anti­se­mi­tisch – es richtet sich gegen „die kriegs­lüs­ternen Juden“ (Artikel 32) und stellt klar: „Unser Kampf gegen die Juden ist sehr groß und sehr ernst“ (Einlei­tung). Die Charta offen­bart auch völker­mör­de­ri­sche Inten­tionen und verspricht den Juden einen Dschihad, da der Tag des Jüngsten Gerichts „nicht kommen wird, bevor die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten“ (Artikel 7). Prak­tisch handelt es sich um eine Völker­mord­ab­sicht durch die ange­strebte Besei­ti­gung des jüdi­schen Staates, denn „Israel wird entstehen und weiter bestehen, bis der Islam es abschafft“ (Einlei­tung). Diese Doktrin wird durch eine 35-jährige Indok­tri­na­tion untermauert.

Wichtig ist, dass das Böse auch durch Politik und Psycho­logie ange­trieben wird. Die Hamas hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, prag­ma­ti­sche real­po­li­ti­sche Berech­nungen anzu­stellen und sich an wech­selnde Macht­ver­hält­nisse und Inter­essen anzu­passen. Während sie beispiels­weise immer noch an ihrer Charta von 1988 fest­hält, gab sie 2017 ein „allge­meines Doku­ment über Grund­sätze und Politik“ heraus, das keinen ausdrück­li­chen Anti­se­mi­tismus enthält, sich auf Paläs­tina konzen­triert und die Bereit­schaft zu einem paläs­ti­nen­si­schen Staat in den Grenzen von 1967 als Über­gangs­phase andeutet, bis der bewaff­nete Wider­stand gegen die Zionisten, die „eine Gefahr für die Mensch­heit“ sind, ganz Paläs­tina, das ausschließ­lich den Arabern gehöre, befreit.

Im Gegen­satz zur PLO, die ihre Charta aktiv und formell geän­dert hat, hat die Hamas mit ihrem Doku­ment von 2017 die ursprüng­liche Charta nicht geän­dert, wie die Hamas-Führung klar­stellte und demons­trierte. Es scheint eher ein Rebran­ding zu sein, das haupt­säch­lich die arabi­sche Welt im Blick hat. Während die Vernich­tung des Staates Israel in den Vorder­grund gestellt wird, ist der damit verbun­dene Völker­mord eindeutig impliziert.

Doch der Radi­ka­lismus lauert nicht nur bei den Palästinenser:innen. Er könnte sich durch die Verherr­li­chung eines intel­lek­tu­ellen Konstrukts mani­fes­tieren, wie man das bei einigen Akademiker:innen beob­achten kann. Oder es könnte auch das Opfern des eigenen Sohnes sein, wie im Fall von Tzvika Mor, dessen Sohn aktuell von der Hamas als Geisel gehalten wird. In einem Fern­seh­in­ter­view verkün­dete Mor: „Wenn ich zwischen der Liebe zu meinem Sohn und der Liebe zur Nation wählen muss, wähle ich die Liebe zur Nation. Ich habe meinen Teil getan. Ich habe eine Familie groß­ge­zogen, acht Kinder. Und ich bin bereit, meinen Sohn aufzu­geben, ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbe­reitet […] wenn das Opfer gebracht werden muss, werden wir das Opfer bringen […] wir müssen hier Kinder groß­ziehen, die bereit sind für das, was dieses Land von ihnen verlangt […].“ So hart und grausam das auch klingen mag, sollten wir uns daran erin­nern, dass die mono­the­is­ti­schen Zivi­li­sa­tionen genau so entstanden sind; wenn man Reli­gionen wört­lich auslegt, kann man alle mögli­chen Grau­sam­keiten legitimieren.

Das Böse der Hamas ist aber wie jedes andere Böse das Werk von Menschen. Im Gaza­streifen leben über zwei Millionen Palästinenser:innen. Etwa drei­tau­send Hamas-Terroristen sind an jenem Samstag nach Israel einge­drungen. Das sind 0,15 Prozent der Gesamt­be­völ­ke­rung. Diese sollten ausfindig gemacht, isoliert und elimi­niert werden, ebenso wie die Hamas-Chefs, die ihre völker­mör­de­ri­schen Ideen verbreiten, dieje­nigen, die den Angriff befohlen haben, und die Mitglieder der Hamas (und später der Mafia), die sich an den Gräu­el­taten betei­ligt haben.

Aber was ist mit dem Rest? Was ist mit einem Hamas-Terroristen, der erkannte, dass sein Komplize gerade ein junges Mädchen ermordet hatte, und murmelte: „Gott möge dir vergeben, was wir tun, ist falsch“? Was ist mit paläs­ti­nen­si­schen Arbei­tern in Israel, die die Hamas darüber infor­mierten, wie sie ihre jüdi­schen Arbeit­geber in den Kibbuzim am besten umbringen können? Was ist mit einem Hamas-Polizeibeamten, der sich nicht an dem Gemetzel betei­ligte, aber sich freute, als er davon erfuhr? Was ist mit den älteren Frauen, die beim Anblick der verstüm­melten Leichen „Gott ist groß“ riefen? Und was ist mit allen anderen Bewohner:innen des Gaza-Streifens, die unter dem Krieg leiden?

Und was ist mit einem poli­ti­schen Anführer, der seine eigenen Leute instru­men­ta­li­siert, um seine Macht zu erlangen und zu erhalten? Was ist mit den Menschen, die ihn und die Politik ihres eigenen Staates unter­stützen, die die Gewalt tatsäch­lich fördert?

Der Kampf gegen das Böse erfor­dert eine sorg­fäl­tige Unter­schei­dung entlang des mora­li­schen Spek­trums sowie die schmerz­liche Erkenntnis, dass keine Seite ein Monopol auf das Böse oder das Gute hat. Er erfor­dert auch, dass wir die andere Gefahr des mora­li­schen Purismus aner­kennen, nämlich die Forde­rung, dass die Koali­tion gegen das Böse recht­schaffen sein muss. Das kann sie nicht sein. Letzt­lich erfor­dert der Sieg über das Böse sowohl eine Vision des Guten als auch – ob man will oder nicht – das gerin­gere Übel, sei es durch den Krieg selbst (die Hamas wird sich nicht fried­lich auflösen) oder durch eine Koali­tion mit Übel­tä­tern, die umkehren und sich bessern können und wollen.

Netan­jahus Politik der Spaltung

Das Böse beginnt und endet nicht mit der Hamas. Den bewussten und umstrit­tenen Miss­brauch von Menschen als Sachen finden wir auch bei den Israelis, nicht zuletzt unter Minis­ter­prä­si­dent Benjamin Netan­jahu. Der 7. Oktober kann als Konse­quenz aus Netan­jahus Gesamt­stra­tegie des Teilens und Herr­schens seit Mitte der 1990er Jahre verstanden werden.

Netan­jahu hat diese Doppel­stra­tegie während seiner gesamten poli­ti­schen Lauf­bahn voran­ge­trieben und verbreitet. Hierbei diente das Herr­schen der Aufrecht­erhal­tung seiner persön­li­chen Macht; das Teilen rich­tete sich gegen alle: die USA, die arabi­sche Welt, die Palästinenser:innen, die Israelis, seine eigene Partei und sogar seinen engsten Kreis.

Obwohl die USA die wich­tigsten Verbün­deten Israels sind, bemühte sich Netan­jahu, die Spal­tung inner­halb der USA zu vertiefen, indem er den Kongress gegen die verschie­denen Präsi­denten und die eine Partei gegen die andere auszu­spielen versuchte. Größere Spal­tungs­be­mü­hungen rich­teten sich auf Israels Nach­barn, indem er einige arabi­schen Poli­tiker dazu dazu brachte, sich von den Palästinenser:innen stärker zu distanzieren.

Die Palästinenser:innen wurden noch stärker ins Visier genommen, indem sie sich auf die Radi­kalen stürzten. Netan­jahu verfolgte das, was er „Diffe­ren­zie­rung“ (Hebrä­isch: bidul) nannte. Ziel war es, die Chancen der Palästinenser:innen auf einen eigenen Staat zu zerstören, indem man die Israelis davon über­zeugte, dass „es keinen paläs­ti­nen­si­schen Partner für den Frieden“ gebe. Die Mittel: Abtren­nung des West­jor­dan­lands vom Gaza­streifen und Stär­kung der Hamas, um die gemä­ßig­tere Paläs­ti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde zu untergraben.

Sicher­lich hat Israel bereits in den 1980er Jahren die Saat für die Spal­tungs­stra­tegie gegen­über den Palästinenser:innen gelegt. Aber die Logik war das Gegen­teil von Netan­jahus Radi­ka­li­sie­rungs­be­streben. Die isla­mis­ti­schen Elemente schienen damals noch gemä­ßigter zu sein und Israel hatte das Entstehen der Hamas als Gegen­ge­wicht zur PLO, die mili­tanter und extremer erschien, wirksam unterstützt.

Während die meisten israe­li­schen Führer diesen tödli­chen Fehler während der ersten Inti­fada erkannten und statt­dessen gemä­ßig­tere Paläs­ti­nenser für Verhand­lungen suchten, sah Netan­jahu im Fana­tismus der Hamas einen Vorteil, den es zu nutzen galt. In seiner arro­ganten und verlo­genen Rhetorik versprach er wieder­holt, die Hamas zu zerschlagen, tatsäch­lich aber unter­stützte er sie bei der Finan­zie­rung, der Frei­las­sung von Akti­visten und der Zurück­wei­sung der Verhand­lungs­auf­rufe der Paläs­ti­nen­si­schen Autonomiebehörde.

Am 11. März 2019 erläu­terte Netan­jahu in einer Diskus­si­ons­runde der Likud-Partei seine Doktrin: „Wer die Grün­dung eines paläs­ti­nen­si­schen Staates verei­teln will, muss die Unter­stüt­zung der Hamas und den Geld­transfer an die Hamas unter­stützen. Das ist Teil unserer Stra­tegie.“ Zwei Monate später sagte sein Vertrauter, General Gershon Hacohen: „Wir sollten die Wahr­heit sagen: Netan­jahus Stra­tegie ist es, die Zwei­staa­ten­lö­sung zu verhin­dern, deshalb hat er die Hamas zu seinem engsten Partner gemacht. Offen ist die Hamas ein Feind, verdeckt ein Verbündeter.“

Dieses Doppel­spiel wurde weit­ge­hend von Netan­jahus Verbün­deten unter den Siedler:innen im West­jor­dan­land geteilt. Ihre expan­sio­nis­ti­schen Vorhaben und ihre Aktionen haben die Palästinenser:innen seit Gene­ra­tionen radi­ka­li­siert und zuneh­mend mili­tä­ri­sche Ressourcen verschlungen. Ihre Absichten sind auf der Platt­form der aktu­ellen Regie­rung kris­tall­klar, die mit einem feier­li­chen Verspre­chen beginnt, das das Hamas-Dokument von 2017 wider­spie­gelt: „Das jüdi­sche Volk hat ein exklu­sives und unbe­streit­bares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Die Regie­rung wird die Besied­lung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, dem Negev, dem Golan, Judäa und Samaria – fördern und ausbauen.“

In gewisser Weise unter­stützten sich Netan­jahu und die Hamas seit den frühen 1990er Jahren gegen­seitig. Die Selbst­mord­at­ten­tate der Hamas haben das Osloer Abkommen von 1993 unter­graben, Israelis und Paläs­ti­nenser gegen­ein­ander aufge­bracht und schliess­lich auch zur Ermor­dung von Premier­mi­nister Jitz­chak Rabin durch einen rechts­extremen israe­li­schen Studenten (November 1995) geführt. 1996 trug die Hamas mit einer verhee­renden Serie von Anschlägen wesent­lich zum Wahl­sieg Netan­jahus über Rabins Nach­folger Schimon Peres bei. Letzt­end­lich war das inof­fi­zi­elle Bündnis zwischen Netan­jahu und der Hamas eines der erfolg­reichsten und mensch­lich kata­stro­phalsten poli­ti­schen Unter­nehmen im Nahen Osten. Durch eine Wendung des Schick­sals oder viel­mehr durch ihre schick­sal­hafte Verstri­ckung könnte die Hamas, die Netan­jahu ans Ruder gebracht hat, auch sein Unter­gang sein, und hoffent­lich auch ihr eigener Untergang.

Gegen­über den Israelis hat Netan­jahu nach und nach einen Perso­nen­kult geschaffen, der oft als Bibismus bezeichnet wird. Eines seiner Marken­zei­chen ist die Stra­tegie des Teilens und Herr­schens, bei der Netan­jahu und seine rot-rechten Bibisten uner­müd­lich verschie­dene Gruppen gegen­ein­ander aufhetzen. Dabei bezeichnen sie dieje­nigen, die sich Netan­jahu wider­setzen, in der Regel als verrä­te­ri­sche Linke, denen Jüdinnen, Juden und das Judentum völlig gleich­gültig seien und die bereit­willig den jüdi­schen Staat verraten würden.

In den letzten zehn Monaten haben Netan­jahu und seine Regie­rung den größten Teil ihrer Bemü­hungen darauf verwendet, die israe­li­sche Demo­kratie zu unter­graben, indem sie staat­liche Mittel an ultra­re­li­giöse und ultra­na­tio­na­lis­ti­sche Anhänger umge­leitet und alle Warnungen vor den nega­tiven Auswir­kungen eines solchen Vorge­hens, nicht zuletzt für die IDF, igno­riert haben.

Auch unter den aktu­ellen Bedin­gungen hält Netan­jahu an seiner radi­ka­li­sie­renden Stra­tegie des Teilens und Herr­schens fest und wird dabei von Politiker:innen unter­stützt, die sich nicht trauen, einen anderen Weg zu gehen. Seine Kompliz:innen (z. B. der Büro­leiter seiner Frau) verbreiten weiterhin Falsch- und Desin­for­ma­tionen, die verschie­dene Verschwö­rungs­theo­rien verstärken. Weder Netan­jahu noch seine Mitstreiter:innen haben Verant­wor­tung für die Kata­strophe vom 7. Oktober über­nommen oder sich entschuldigt.

Rabin hingegen trat im Oktober 1994 vor die Nation und über­nahm die volle Verant­wor­tung für den geschei­terten Versuch, den von der Hamas entführten Soldaten Nach­shon Wachsman zu retten. Ein Jahr später wurde Rabin im Anschluss an eine von Netan­jahu ange­führte Aufwie­ge­lungs­kam­pagne ermordet. 1996 wurde Netan­jahu Premierminister.

Straw Dogs

Das Böse, ob mörde­risch wie die Hamas oder toxisch wie Netan­jahus Politik, braucht nicht nur glühende Anhänger:innen. Es braucht auch nütz­liche Idioten und, was am heim­tü­ckischsten ist, hoff­nungs­volle Menschen. Böse Anführer wider­setzen sich unserer grund­le­genden Mensch­lich­keit. Wir wollen so sehr glauben, dass sie irgendwie noch gut und ehrlich sind oder dass sie sich bessern können, dass wir ihnen immer wieder eine neue Chance geben.

In gewisser Weise hätte Netan­jahu die Hamas besser verstehen müssen als die meisten anderen, denn in einem wich­tigen Aspekt verhalten die Terror­or­ga­ni­sa­tion und der Minis­ter­prä­si­dent sich ähnlich: Sie behan­deln Menschen wie Dinge und miss­brau­chen die Hoff­nungen anderer, um weiterhin Schaden anzu­richten, während sie jedem anderen die Schuld dafür geben. Netan­jahu glaubt nur an sich selbst, wählt sich Unter­stützer mit ähnli­chen Neigungen und nimmt keine Rück­sicht auf andere Menschen. In Frie­dens­zeiten ist das schon schlimm genug, in Kriegs­zeiten kann es kata­stro­phal sein. Um dies besser zu verstehen, können zwei Bilder helfen.

Quelle: jpost.com

Auf dem ersten Foto, das bei der Landung des ameri­ka­ni­schen Präsi­denten Biden in Israel am 18.10.2023 aufge­nommen wurde, hält Netan­jahu den israe­li­schen Staats­prä­si­denten Jitz­chak Herzog davon ab, dem heran­na­henden Biden (der nicht auf dem Bild ist) die Hand zu reichen und ihn zu begrüßen.

Quelle: timesofisrael.com

Auf dem zweiten Foto, das zwei Tage später aufge­nommen wurde, sah Netan­jahus Geisel­be­auf­tragter Gal Hirsch, ein reali­täts­ferner und größen­wahn­sin­niger Bibist, die Gele­gen­heit für ein Foto, packte die beiden frei­ge­las­senen Geiseln Natalie und Judith Raanan fest an den Händen und verschwand einen Moment später. Hirsch hatte aber nichts unter­nommen, um die Frei­las­sung der beiden aus der Hamas-Gefangenschaft zu ermög­li­chen, sondern belehrte die euro­päi­schen Diplo­maten lieber über die vermeint­liche Schäd­lich­keit ihrer Unter­stüt­zung des Oslo-Friedensprozesses. Beide Poli­tiker scheinen Menschen als bloße Dinge zu betrachten, als Hinder­nisse, die es wegzu­schieben gilt, oder als Instru­mente, mit denen sie ihre größen­wahn­sin­nigen Ambi­tionen durch­setzen können.

Netan­jahus Lieb­lings­film ist bekannt­lich Sam Peckin­pahs Straw Dogs von 1971. Der Titel ist eine Anspie­lung auf den klas­si­schen chine­si­schen Text Tao Te Ching, in dem alle Menschen als „Stroh­hunde“ betrachtet werden, die keinen inneren Wert besitzen. Im Film erkennt der Prot­ago­nist David (Dustin Hoffman), ein sanft­mü­tiger Intel­lek­tu­eller, dass Mensch­lich­keit nur eine Fassade ist, hinter der Eifer­sucht, Grau­sam­keit und Verrat lauern. Als die Demü­ti­gungen zu weit gehen, vertei­digt er seine vermeint­liche Ehre mit blutiger Gewalt. Ich kann mir vorstellen, dass Netan­jahus Lieb­lings­film jetzt zum Leben erwacht. Zeit, der Welt zu zeigen, was für ein harter Mann er ist. Doch bevor Netan­jahu sein Volk noch tiefer in den Abgrund stürzt, sollte er sich die Schluss­szene seines Lieb­lings­films genau ansehen, als David trium­phie­rend aus dem Gemetzel auftaucht, nur um fest­zu­stellen, dass er den Weg nach Hause nicht mehr finden kann.

Und doch müssen wir uns immer wieder vor Augen halten: Netan­jahu hat Israel nicht durch einen gewalt­samen Staats­streich über­nommen, sondern durch Wahlen – mehrere demo­kra­ti­sche Wahlen. Wir Israelis sollten alle in uns gehen, um zu verstehen, wie dies passiert ist. Wir sollten unser Bestes tun, um fortan bessere Entschei­dungen zu treffen. Alles in allem sieht es so aus, als ob Netan­jahu glaubt, dass Blut­ver­gießen gut ist, um an der Macht zu bleiben. Erschre­cken­der­weise könnte er Recht behalten.