„Ich bin mit Gewehren aufgewachsen, so habe ich gelernt, mit Ihnen umzugehen. Ich liebe Gewehre,“ bemerkte die fünfzehnjährige Alexandra B. Und Ashton G., zwölf Jahre alt, fügte hinzu, dass er „Schusswaffen mag“, weil sie ihm „die Freiheit zur Selbstverteidigung“ gäben, so wie es im zweiten Zusatzartikel zur Verfassung stünde. Alexandra und Ashton gehörten zu einer Reihe von Kindern und Jugendlichen, die sich 2016 vom Fotografen Laurent Ellie Badessi, sichtlich stolz und aufgeregt, mit ihren eigenen Waffen ablichten ließen. Die Bilder sind schwer zu ertragen, und Badessi wusste, dass sein Projekt an emotionale Grenzen ging. Dennoch war er überzeugt, mit seiner Kamera in die Herzkammer der US-amerikanischen Schusswaffenkultur blicken zu können, wenn es ihm gelänge, ihre enge Beziehung zu Kindern zu dokumentieren.

Foto: Laurent Elie Badessi; Quelle: art-trope.com

Foto: Laurent Elie Badessi; Quelle: art-trope.com
Badessis Fotografien, die ich vor knapp einem Jahr zum ersten Mal sah, gingen mir nicht aus dem Kopf, als mich die Nachricht aus Texas, dem Heimatstaat von Alexandra und Ashton, erreichte. Erneut ein Schulmassaker. Einundzwanzig Tote, darunter neunzehn Viertklässler, forderte der Amoklauf an der Robb Elementary School in der texanischen Kleinstadt Uvalde am 24. Mai. Wieder war es ein mit halbautomatischen Schnellfeuergewehren bewaffneter junger Einzeltäter und nach den Blutbädern von Columbine 1999, Sandy Hook 2012 und Marjory Stoneman Douglas 2018 waren es wieder wehrlose Schüler*innen, die der Schusswaffengewalt in den USA zum Opfer fielen. Die Gefahr lauert jedoch nicht nur in den Klassenzimmern. Studien des Pew Research Center und der Centers for Disease Control and Prevention haben festgestellt, dass sich seit 2013 die Zahl der Minderjährigen, die mit Schusswaffen infolge von Fahrlässigkeit, häuslicher Gewalt, Polizeigewalt und Gangkriminalität getötet wurden, nahezu verdoppelt hat. Statistisch sterben inzwischen mehr Kinder in den Vereinigten Staaten an Schussverletzungen als an Krebs oder Verkehrsunfällen. Die Risiken bleiben derweil ungleich verteilt: für schwarze Jugendliche ist es vierzehnmal wahrscheinlicher erschossen zu werden als für ihre weißen Altersgenoss*innen.
So politisch geboten die Wut darüber ist, dass die Kleinsten in schockierender Regelmäßigkeit das Opfer von Waffengewalt werden – sie kann nicht erklären, wie Kindheit zu einer demografischen und symbolischen Stütze der modernen US-amerikanischen Schusswaffenkultur wurde. Das Adjektiv „modern“ ist entscheidend, da, anders als oft behauptet, keine gerade Linie von den heutigen Gewaltexzessen zu den siedlerkolonialen Anfängen der USA oder den Bürgermilizen der Revolutionsepoche führt. Die nationalidentitäre Aufladung des bewaffneten Staatsbürgers begann an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, als Massenkonsum, das Ende der Frontier, imperiale Expansion und Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe entlang von race und gender die US-amerikanische Gesellschaft nachhaltig veränderten. Ausgetragen wurden diese Konflikte vor dem Hintergrund einer Diskursverschiebung, die einer Neuerfindung der Kindheit gleichkam. In der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde dieser Lebensabschnitt nun eindringlich als besonders kostbar und schutzbedürftig dargestellt. Eliten unterschiedlicher politischer Couleur wussten die Aura, die das Ideal einer unbeschwerten und glücklichen Kindheit umgab, geschickt für ihre Zwecke zu nutzen. Wer an das Kindeswohl appellierte, ob in Verbindung mit Schulreform, Sozialstaatsbildung, Nationalismus oder Segregation, verschaffte sich Gehör und konnte Machtinteressen verschleiern. Das führte schließlich dazu, dass es sogar Kinder selbst waren, genauer gesagt idealisierte weiße Kinderkörper, die für die moralische Unbedenklichkeit potenziell tödlicher Praktiken bürgten, wie etwa den Umgang mit Schusswaffen.
Die Infantilisierung der Frontier

Quelle: privat

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Die Verkindlichung der gun culture lässt sich gut an den Werbeanzeigen von Spielzeugfirmen und Schusswaffenproduzenten beobachten, die nach 1900 gezielt weiße Minderjährige adressierten. Führende Marktakteure wie der Luftgewehrhersteller Daisy Manufacturing trugen mit ihren Annoncen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche als neue Konsumentengruppe entdeckt wurden. Indem sie die Entenjagd oder den Schießsport zu einer unschuldigen und zugleich nützlichen Freizeitaktivität für Jungen (seltener für Mädchen) deklarierten, reagierten die Hersteller auf weit verbreitete Krisenerzählungen, die vor den entmännlichenden Auswirkungen der Industrialisierung und Urbanisierung warnten. In freier Wildbahn und mit dem eigenen Luftgewehr über der Schulter könnten Jungen für eine Weile der Enge von Schule und Elternhaus entkommen und an die Frontier-Maskulinität vergangener Jahrhunderte anknüpfen. So wie George Washington oder Andrew Jackson schießen zu lernen, verkündete eine Anzeige von 1915, „ist das rechtmäßige Erbe eines jeden echten amerikanischen Jungen.“ Gemeint waren selbstverständlich weiße Jungen.
In den Kinderhänden des anbrechenden Massenkonsumzeitalters verwandelten sich Schusswaffen in erzieherisch verbrämte Geschichtsfantasien. Ihrer tödlichen Gefahr beraubt, wurden sie zum spielerischen Erprobungsfeld eines blütenweißen nationalen Entwicklungsnarrativs. Der Junge, der sein Gewehr zu beherrschen lernt, erwirbt die Wehrhaftigkeit der alten Pioniere, ohne sich mit dem blutigen Erbe der Westexpansion auseinandersetzen zu müssen. Die Gewaltspur der siedlerkolonialen Eroberung des nordamerikanischen Kontinents verschwindet in den Werbeanzeigen hinter einer infantilisierten Erzählung, in der heranwachsende Jungen in die Fußstapfen einer herangewachsenen amerikanischen Großmacht treten. Die Botschaft zündete und die Luftgewehre von Daisy, Winchester und anderen Anbietern verkauften sich, auch weil sie relativ günstig waren, millionenfach an junge Schützen.
Väter und Söhne

Quelle: privat
Zur Männlichkeitskrise der Jahrhundertwende gesellte sich in den 1920er Jahren ein weiterer Krisendiskurs hinzu, in dem der Figur des waffentragenden Kindes eine regenerative Rolle zugeschrieben wurde. Die Rede ist von Vater-Sohn-Beziehungen, die als defizitär beschrieben wurden, weil moderne US-amerikanische Väter nicht genug unternahmen, um ihre Söhne auf die Fallstricke des modernen Lebens vorzubereiten. An die Stelle des autoritären Patriarchen trat in zeitgenössischen Erziehungsratgebern der pal dad, der seinem Sprössling mit kameradschaftlicher Zuneigung begegnete. Gemeinsame Aktivitäten in der Natur wie das Angeln oder Jagen sollten positive Rollenbilder vermitteln und verhindern, dass die Söhne in promiskuöse oder kriminelle Verhaltensweisen abdrifteten. Einige Reformer sahen im pal dad gar eine Blaupause für die Remaskulinisierung einer von Frauenrechten und devianten Jugendkulturen bedrohten bürgerlichen Ordnung, ähnlich wie sie die Boy Scouts und andere männerbündlerische Jugendorganisationen anstrebten.
Die Ausbildung am Gewehr gehört bis heute zum Erlebnisrepertoire der US-amerikanischen Pfadfinder. Ein Schießabzeichen bieten die Boy Scouts seit ihrer Gründung 1910 an; ihre Partnerschaft mit der National Rifle Association (NRA) vertiefte der Jungenverband in den 1930ern, als gemeinsame Ferienlager organisiert wurden, die Wettbewerbe im Zielschießen für Jung und Alt anboten. Zur gleichen Zeit gründeten Jugendliche an verschiedenen High Schools mit Zustimmung ihrer Lehrer*innen Schützenclubs. Mädchen wurden weniger berücksichtigt. Die Girl Scouts lehnten beispielsweise eine Zusammenarbeit mit der NRA ab. Erfahrungsberichte zeigen, welch starke Emotionen das gemeinsame Schießen bei Jung und Alt auslösten. „Der laute Knall. Der Geruch von Schießpulver. Das Klinken der Patronenhülse. Und das Gefühl, gerade ein wenig erwachsener geworden zu sein,“ beschrieb vor einigen Jahren ein Mann mittleren Alters, was es für ihn bedeutete, in den frühen 1980ern das erste Mal ein echtes Gewehr abgefeuert zu haben. Nichts erinnert an eine todbringende Waffe. Was bleibt ist ein intimer Moment der Verbundenheit, ein fast schon mystischer Initiationsritus, der Jungen kräftigt, Väter verjüngt und die Freundschaft zwischen den Generationen festigt.
Die Liebsten verteidigen

„The Junior Panther defends his Mother“; Quelle: privat
Eine folgenreiche Wendung erfuhr die Debatte um Kinder und Waffen mit den Gewalterfahrungen der sozialen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Die Historiker Jürgen Martschukat und Simon Wendt haben darauf hingewiesen, dass im Zuge der Bürgerrechtsbewegung sowohl Befürworter als auch Gegner verstärkt auf ihr Recht auf Selbstverteidigung pochten. Bewaffnete Amerikaner*innen, die sich auf den zweiten Verfassungszusatz beriefen, fanden im Kinderschutz eine unumstößliche moralische Rechtfertigung. Ende der 1960er Jahre machte die militante Black Panther Party Schlagzeilen, deren Mitglieder Schusswaffen als existenziell für den afroamerikanischen Freiheitskampf ansahen. Ihre Popularität in Teilen der Black Community beruhte vor allem auf der Jugend- und Kinderarbeit. Das Frühstücksprogramm der Black Panther füllte nicht nur hungrige Mägen, sondern gab schwarzen Schüler*innen ein positives Selbstbild. Politische Bildungsseminare betonten den historischen Überlebenskampf der Afroamerikaner*innen in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft und stimmten die Jugendlichen auf die Notwendigkeit des bewaffneten Widerstands ein.

Foto: An-Sophie Kesteleyn; Quelle: earthlymission.com

Foto: An-Sophie Kesteleyn; Quelle: earthlymission.com

Foto: An-Sophie Kesteleyn; Quelle: earthlymission.com
Das weiße Amerika reagierte empört. Bilder von jungen schwarzen Männern, die schwerbewaffnet die Straßen Oaklands oder Chicagos patrouillierten, kamen für viele einer Kriegserklärung gleich. Ihre Kinder seien es doch, die man vor solch gefährlichen Staatsfeinden schützen müsse. Nicht die Kinder schwarzer Eltern seien bedroht. Die Sorge um den eigenen Nachwuchs verhüllte den reaktionären Rassismus, der den Aufstieg der neurechten Waffenlobby in den 1970er und 1980er Jahre beförderte. Eine radikalisierte NRA griff bewusst auf Kinder zurück, um ihrer Dystopie eines rechtschaffenen Amerikas, das von verräterischen liberalen Eliten und nicht-weißen Kriminellen heimgesucht werde, Nachdruck zu verleihen. Unablässig veröffentlichen Second-Amendment-Aktivist*innen Geschichten von mutigen Kindern, die mit der Waffe in der Hand Einbrecher zur Strecke brachten und Bösewichte verjagten. Vor einigen Jahren ging eine NRA-nahe Autorin sogar so weit, Grimm-Märchen umzuschreiben und bekannte Charaktere mit Gewehren auszustatten, um bewaffnete Selbstverteidigung als kindgerecht darzustellen. Rotkäppchens Konfrontation mit dem bösen Wolf bleibt in der NRA-Fassung erstaunlich unblutig. Sobald das Mädchen den Wolf mit seiner Flinte ins Visier nimmt, ergibt sich das Tier, noch bevor es die Großmutter verschlingen kann.
Die Hemmungslosigkeit, mit der viele Waffenbefürworter*innen in den USA Kinder für Waffen zu begeistern versuchen, mag erschrecken. Wichtiger ist aber die Erkenntnis, dass solche Bemühungen eine Tradition haben. Über die nicht abreißende Serie von Schulmassakern in den USA legt sich wie ein unschuldsweißer Schleier die historisch gewachsene Vorstellung, das Kindheit und Schusswaffen im Guten zueinander finden können und müssen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts trugen Kindheitsdiskurse in wechselnden Konstellationen dazu bei, eine mörderische Kultur zu verharmlosen und zu normalisieren. Entsprechend rotkäppchenhaft klingt nach jedem neuen Amoklauf die Beschwörung aus dem Mund des NRA-Anführers Wayne LaPierre, dass „nur ein guter Mensch mit einer Schusswaffe einen bösen Menschen mit einer Schusswaffe aufhalten kann.“ Aussagen wie diese sind an Einfalt kaum zu überbieten. Wer das Grauen von Kugeln zerfetzter Kinderkörper beenden will, muss auch darüber nachdenken, wie die Verbindung von moderner Kindheit und Schusswaffenkultur zu kappen ist.