Kann Trump ein zweites Mal Präsident werden? Der Vorwurf des Wahlbetrugs ist zwar absurd, aber nicht neu. Bei den Wahlen von 1824 brachte eine sehr spezielle Bestimmung der amerikanischen Verfassung dem unterlegenen Kandidaten die Präsidentschaft ein. Der Fall könnte sich wiederholen.

  • Norbert Finzsch

    Norbert Finzsch ist em. Pro­fes­sor für Anglo-Ameri­kani­sche Ge­schich­te an der Uni­versität zu Köln. Er ist Mit­heraus­geber der Reihe "American Culture", Mitglied des Wissen­schaft­lichen Bei­rats und Mit­heraus­geber der "Reihe Geschlecht - Kultur - Gesellschaft" und Mit­glied des Wissen­schaftlichen Beirats der Reihe "Konflikte und Kultur - Histori­sche Perspek­tiven".

Während mehr als 225 Jahren und sieben­und­fünfzig Präsi­dent­schafts­wahlen seit der Grün­dung der Nation 1776 gab es in den USA bemer­kens­wert wenige Kampa­gnen, bei denen große Teile der Bevöl­ke­rung die Rich­tig­keit und Fair­ness der Ergeb­nisse in Frage stellten. Nur bei den Wahlen von 1824, 1876, 1888 und 2000 verloren Kandi­daten, die die meisten Direkt­stimmen auf sich vereinen konnten, durch Entscheid eines Wahl­kol­le­giums oder, wie im Fall Bush vs. Gore 2000, eines Gerichts. Bei all diesen Wahlen wurde entweder der Vorwurf des Wahl­be­trugs (1876), der Falschaus­zäh­lung der Stimm­zettel (1876 und 2000) oder korrupter Hinter­zim­mer­ge­schäfte (1824 und 1876) erhoben. Doch weil diese Episoden so selten und die Geschichten von Intrigen und Korrup­tion so fesselnd sind, haben sich die Details dieser Wahlen als Teil der Meta-Erzählung der ameri­ka­ni­schen Geschichte eingebürgert.

Auch die Wahlen des Jahres 2020 in den Verei­nigten Staaten von Amerika weisen eine Reihe von Beson­der­heiten auf. So hat der Verlierer der Wahl, Donald J. Trump, dem Gewinner Joseph R. Biden noch nicht gratu­liert, um damit den Prozess der demo­kra­ti­schen Amts­über­gabe einzu­leiten. Die Auszäh­lung der Stimmen in mehreren umkämpften Bundestaaten wird von den Rechts­an­wälten der Trump-Kampagne ange­fochten werden und – sofern Klagen wegen Wahl­fäl­schung zuge­lassen werden, wonach es zur Zeit nicht aussieht – mögli­cher­weise vor dem Obersten Gerichtshof der USA verhan­delt, in dem es eine solide konser­va­tive Mehr­heit gibt. Im aller­schlimmsten Fall wird es am 20. Januar keine Mehr­heit für einen Kandi­daten im Elec­toral College geben. In diesem Fall würde der zwölfte Verfas­sungs­zu­satz (Amend­ment) greifen, der fest­legt, dass der Präsi­dent dann vom Reprä­sen­tan­ten­haus gewählt würde. Dies ist kein theo­re­ti­scher Fall; er ist schon vorge­kommen und zwar bei den Wahlen von 1824, bei denen es im Wahl­kol­le­gium keine abso­lute Mehr­heit gab. Um die gegen­wär­tige Situa­tion der USA zu verstehen, lohnt es sich daher, die Geschichte des 12. Amend­ments und beson­ders die der Wahl von 1824 unter die Lupe zu nehmen.

https://twitter.com/CarolinaGirlDJT/status/1326910329054519297?s=20

Der zwölfte Verfas­sungs­zu­satz als Stolperdraht

Nach den ursprüng­li­chen Regeln der Verfas­sung von 1789 hatte jedes Mitglied des Wahl­kol­le­giums zwei Wahl­stimmen, wobei nicht zwischen den Stimmen für den Präsi­denten und den Stimmen für den Vize­prä­si­denten unter­schieden wurde. Die ersten vier Präsi­dent­schafts­wahlen wurden nach diesen Regeln durch­ge­führt. Diese Regeln waren brauchbar, so lange es kein entwi­ckeltes Partei­en­system in den USA gab. Poli­ti­sche Parteien waren von den Grün­der­vä­tern nicht vorge­sehen; sie galten als poli­tisch schäd­lich und wurden abfällig nur „factions“ genannt. Doch mit der schritt­weisen Heraus­bil­dung eines Partei­en­sys­tems, bei dem sich die konser­va­tiven „Fede­ra­lists“ um Alex­ander Hamilton sowie John Adams und die natio­na­lis­ti­schen „Demo­cratic Repu­bli­cans“ um Thomas Jefferson gegen­über­standen, wurde dieses Verfahren zur Wahl des Präsi­denten zuneh­mend aus den Angeln gehoben. 1796 fand dann die erste Wahl der jungen ameri­ka­ni­schen Geschichte statt, bei denen poli­ti­sche Parteien eine domi­nie­rende Rolle spielten, und es war die einzige Präsi­dent­schafts­wahl, bei der ein Präsi­dent und ein Vize­prä­si­dent aus gegne­ri­schen Parteien gewählt wurden.

https://twitter.com/CarolinaGirlDJT/status/1326774934421508097?s=20

Die Erfah­rungen aus diesen Präsi­dent­schafts­wahlen veran­lassten den Gesetz­geber 1803, das Verfahren durch den zwölften Zusatz­ar­tikel zur Verfas­sung derge­stalt zu verän­dern, dass jedes Mitglied des Wahl­kol­le­giums eine Wahl­stimme für den Präsi­denten und eine Wahl­stimme für den Vize­prä­si­denten abgeben musste. Auch nach den neuen Regeln fand eine Wahl durch das Reprä­sen­tan­ten­haus statt, wenn kein Kandidat eine abso­lute Mehr­heit der Wähler erreichte – und zwar nicht wie üblich pro Kopf, sondern pro Staat. Denn in der entspre­chenden Passage des 12. Amend­ments heißt es: „Bei der Wahl des Präsi­denten werden die Stimmen jedoch von den Staaten abge­geben, wobei die Vertre­tung jedes Staates eine Stimme hat.“ Es wurde weiterhin fest­ge­legt, dass der Senat die Wahl zum Vize­prä­si­denten durch­führt, wenn kein Kandidat die Mehr­heit der Stimmen bei den Wahlen zum Vize­prä­si­denten gewinnt. Damit schienen die Probleme der Wahl durch ein Wahl­män­ner­kol­le­gium (damals alles Männer) gelöst zu sein.

Die neuen Regeln traten für die Präsi­dent­schafts­wahlen von 1804 in Kraft und haben alle nach­fol­genden Präsi­dent­schafts­wahlen gere­gelt. Der Zusatz­ar­tikel veran­lasst Trumps Rechts­an­wälte, eine gericht­liche Entschei­dung zu suchen und den Prozess der Wahl durch das Wahl­män­ner­gre­mium zu verschleppen, denn wenn es nach dem übli­chen Verfahren ginge, hätte Trump die Wahl endgültig verloren. Sollte aber dank der juris­ti­schen Verzö­ge­rung im Januar 2021 noch keine Entschei­dung fest­stehen, würde die Wahl vom Reprä­sen­tan­ten­haus durch­ge­führt, in dem zwar die Demo­kraten die abso­lute Mehr­heit der Stimmen haben, die Repu­bli­kaner aber die Mehr­heit der Staaten reprä­sen­tieren – und damit gemäß dem 12. Amend­ment nach der Regel „ein Staat, eine Stimme“ den Präsi­denten wählen. Dies ist keine absurde Episode von House of Cards, sondern eine Regel der Verfas­sung, die in der Wahl von 1824 schon einmal dem in der Volks­wahl unter­le­genen Kandi­daten das Präsi­dent­schaftsamt einge­bracht hat.

Die Wahl von 1824

Die poli­ti­sche Realität war komplexer als sie sich die Reformer von 1803 vorge­stellt hatten. Das zeigte sich beson­ders bei der Wahl von 1824, die in mehreren Hinsichten die Vorläu­ferin der Wahl von 2020 darstellt. Diese Wahl stand am Ende der soge­nannten „Ära der guten Gefühle“ in der ameri­ka­ni­schen Politik und brachte vier Kandi­daten hervor, die sich um die Wähler­stimmen bemühten. Andrew Jackson, John Quincy Adams, William H. Craw­ford und Henry Clay, alle vier Mitglieder der glei­chen Partei National Repu­bli­cans, der Nach­fol­ge­partei der Demo­cratic Repu­bli­cans. Kein Fede­ra­list wagte es über­haupt, zur Wahl anzu­treten. Andrew Jackson war ein ehema­liger Gene­ral­major der Armee, der sich durch mili­tä­ri­sche Siege gegen die Briten und die Native Ameri­cans einen guten Ruf erar­beitet hatte. Donald Trump hat ihn mehr­fach als Vorbild bezeichnet, auch wenn die Unter­schiede zwischen beiden nicht grösser sein könnten. Jackson war ein schlacht­erprobter Berufs­soldat in mehreren Kriegen, hatte zahl­reiche Duelle gefochten und galt bei seinen Soldaten als zäh wie das Holz des Nuss­baums. Daher rührte sein Spitz­name „Old Hickory“. Er war als Skla­ven­halter zu großem Reichtum gekommen und resi­dierte auf seiner riesigen Plan­tage Hermi­tage in der Nähe von Nash­ville, Tennessee.

Jackson, ganz anders als Trump, siegte 1824 in Penn­syl­vania, in den beiden Caro­linas, sowie in den meisten Staaten im Westen mit 151.363 direkten Stimmen und 99 Wahl­män­ner­stimmen. John Quincy Adams – hierin durchaus mit Biden vergleichbar – siegte in den Neueng­land­staaten und in New York, darüber hinaus in einigen verstreuten Distrikten und kam auf 113.142 popular votes und 84 Wahl­män­ner­stimmen. Craw­ford landete weit abge­schla­genen auf dem dritten Platz und Henry Clay auf dem letzten. Andrew Jackson erhielt zwar mehr Stimmen als jeder andere Kandidat, aber er erreichte nicht die Mehr­heit von 131 Wahl­män­nern, die für den Wahl­sieg erfor­der­lich waren, was zu einer Wahl im Reprä­sen­tan­ten­haus führte. Der Sieg John C. Calhouns aus South Caro­lina als Vize­prä­si­dent stand vorher fest, da er sowohl von Jackson als auch Adams als Mitkan­didat benannt worden war.

Dies war das erste Mal, dass das 12. Amend­ment der Verfas­sung ange­wendet wurde. Als der Kongress im Januar 1825 zusam­men­trat, wurden seine Korri­dore und Hinter­zimmer und die Bars und Kneipen in Washington zu Orten erregter Debatten und viel­deu­tiger Abspra­chen, denn die Freunde und Fans von Jackson und Adams versuchten ihr Bestes, um die Zusage der Abge­ord­neten zu erhalten, für ihren Kandi­daten zu stimmen. Zum endgül­tigen Sieg brauchte Jackson neben den elf Staaten, die für ihn gestimmt hatten, zwei weitere Staaten, während Adams, der nur sieben Staaten hatte gewinnen können, sechs weitere benö­tigte, um die Wahl für sich zu entscheiden.

„Wie geht es Ihnen, Mr. Adams?“

Clay, der einfluss­reiche Spre­cher des Reprä­sen­tan­ten­hauses, kontrol­lierte drei der im Reprä­sen­tan­ten­haus vertre­tenen Staaten. Er war außerdem entschieden gegen die Wahl eines ehema­ligen Gene­rals wie Jackson, mit dem Argu­ment, die „Tötung von 2500 engli­schen Soldaten in der Schlacht von New Orleans“ quali­fi­ziere ihn nicht für das höchste poli­ti­sche Amt, das die USA zu vergeben hatten. Nachdem klar war, dass Adams, falls er die Unter­stüt­zung Clays zu seiner Wahl haben sollte, diesen zum Außen­mi­nister ernennen würde, schlug Clay seinen Stim­men­an­teil auf die Seite des ehema­ligen Rivalen aus Boston. Die Kongress­ab­ge­ord­neten, die Illi­nois und Missouri reprä­sen­tierten, wurden von Adams mit poli­ti­schen Verspre­chen gekö­dert und New Yorker und Bewohner Mary­lands, die mehr­heit­lich föde­ra­lis­tisch fühlten, wurden beschwichtigt.

Am 9. Februar 1825 wählte das House of Repre­sen­ta­tives mit knapper Mehr­heit John Quincy Adams zum sechsten Präsi­denten der USA. Zwar spra­chen die Unter­stützer Jack­sons von „Raub“ und „Ausver­kauf der Repu­blik“, doch war der Wahl­sieg Adams’ voll­kommen legal. Die Unter­stützer Jack­sons schäumten. John Pemberton, der mit Jackson im Krieg von 1812 gekämpft hatte, schrieb am 15.2.1825 an Jackson: „Ich habe keine Sprache, um Ihnen gegen­über die tiefe Trauer und die Demü­ti­gung auszu­drü­cken, die ich im Ergebnis der späten Wahl durch die (fälsch­li­cher­weise so genannten) Volks­ver­treter bei der Wahl eines Präsi­denten der USA empfinde“. Die repu­bli­ka­ni­sche Presse war außer sich und sprach von einem korrupten Kuhhandel („corrupt bargain“). „Verstorben am 9. Februar in Washington, durch das Gift, das von den Atten­tä­tern John Quincy Adams, dem Usur­pator, und Henry Clay der Tugend, Frei­heit und Unab­hän­gig­keit der Verei­nigten Staaten, verab­reicht wurde,“ las sich eine sati­ri­sche Todes­an­zeige der Repu­blik in einer Zeitung der Anhänger Jack­sons. Andrew Jackson verstieg sich zu einem Vergleich seiner Person mit Jesus von Naza­reth: „Sie sehen also, der Judas des Westens hat den Vertrag geschlossen und wird die dreißig Silber­stücke erhalten. Sein Ende wird das gleiche sein. Gab es jemals zuvor in einem Land eine so offen­sicht­liche Korrup­tion?“ 

Noch ein Jahr später behaup­tete er: „Das Volk ist betrogen worden […] die Korrup­tion und die Intrigen in Washington haben den Willen des Volkes geschlagen.“ Doch obsiegte schließ­lich die poli­ti­sche Vernunft: Andrew Jackson, darin Trump ganz unähn­lich, bemerkte in seiner Korre­spon­denz mit dem Histo­riker Henry Lee IV am 7.10.1825: „Herr Adams ist der verfas­sungs­mä­ßige Präsi­dent, und als solcher wäre ich selbst der letzte Mann im Common­wealth, der sich ihm aus einem anderen Grund als dem des Prin­zips wider­setzen würde.“ Er bewies genug Haltung, um Adams beim Empfang des schei­denden Präsi­denten James Monroe zu seinen Ehren zu gratu­lieren, auch wenn er es mit einem kleinen Seiten­hieb verband: „Wie geht es Ihnen, Mr. Adams?“ fragte er den Gewinner der Wahl, als sie sich im East Room des Weißen Hauses begeg­neten. Jackson war in Beglei­tung einer schönen Frau erschienen und fuhr fort: „Ich gebe Ihnen meine linke Hand, denn die rechte ist, wie Sie sehen, der Schönen [fair] verpflichtet.“ Solchen Witz, gepaart mit Stil, wird man bei Trump nicht erleben.

1824=2020?

Trump hat Andrew Jack­sons Meme des Jahres 1824 schon für sich einge­setzt. Er sagte im Hinblick auf die Wahlen von 2020: „Die wich­tigste [Wahl], die wir je hatten. Biden hat im Austausch für die Nomi­nie­rung seiner Partei einen Kuhhandel [corrupt bargain] gemacht. Er hat die Kontrolle an die Sozia­listen, Marxisten und Links­extre­misten abgegeben.“

Ob Trump die Wahl Joseph Bidens konze­diert oder nicht, ist aber nicht entschei­dend. Wichtig ist, ob vor dem 20. Januar eine Mehr­heit der Wahl­män­ner­stimmen jenseits von 270 Stimmen für Biden stimmt. Wenn nicht, droht eine Wieder­ho­lung von 1824. Diesmal könnten beide, Präsi­dent und Vize­prä­si­dent vom Reprä­sen­tan­ten­haus bzw. Senat (der den Vize­prä­si­denten zu wählen hätte) bestimmt werden. Sollten die Repu­bli­kaner ihre Mehr­heit im Senat vertei­digen, könnten Trump und Vize­prä­si­dent Mike Pence bis 2024 im Amt bleiben. Sollte Trumps Plan schei­tern, könnte er, wie sein Vorbild Andrew Jackson 1828, den angeb­lich „korrupten Deal“ des Jahres 2020 zum Wahl­kampf­thema machen und 2024 seine Wieder­wahl anstreben.