Während mehr als 225 Jahren und siebenundfünfzig Präsidentschaftswahlen seit der Gründung der Nation 1776 gab es in den USA bemerkenswert wenige Kampagnen, bei denen große Teile der Bevölkerung die Richtigkeit und Fairness der Ergebnisse in Frage stellten. Nur bei den Wahlen von 1824, 1876, 1888 und 2000 verloren Kandidaten, die die meisten Direktstimmen auf sich vereinen konnten, durch Entscheid eines Wahlkollegiums oder, wie im Fall Bush vs. Gore 2000, eines Gerichts. Bei all diesen Wahlen wurde entweder der Vorwurf des Wahlbetrugs (1876), der Falschauszählung der Stimmzettel (1876 und 2000) oder korrupter Hinterzimmergeschäfte (1824 und 1876) erhoben. Doch weil diese Episoden so selten und die Geschichten von Intrigen und Korruption so fesselnd sind, haben sich die Details dieser Wahlen als Teil der Meta-Erzählung der amerikanischen Geschichte eingebürgert.
Auch die Wahlen des Jahres 2020 in den Vereinigten Staaten von Amerika weisen eine Reihe von Besonderheiten auf. So hat der Verlierer der Wahl, Donald J. Trump, dem Gewinner Joseph R. Biden noch nicht gratuliert, um damit den Prozess der demokratischen Amtsübergabe einzuleiten. Die Auszählung der Stimmen in mehreren umkämpften Bundestaaten wird von den Rechtsanwälten der Trump-Kampagne angefochten werden und – sofern Klagen wegen Wahlfälschung zugelassen werden, wonach es zur Zeit nicht aussieht – möglicherweise vor dem Obersten Gerichtshof der USA verhandelt, in dem es eine solide konservative Mehrheit gibt. Im allerschlimmsten Fall wird es am 20. Januar keine Mehrheit für einen Kandidaten im Electoral College geben. In diesem Fall würde der zwölfte Verfassungszusatz (Amendment) greifen, der festlegt, dass der Präsident dann vom Repräsentantenhaus gewählt würde. Dies ist kein theoretischer Fall; er ist schon vorgekommen und zwar bei den Wahlen von 1824, bei denen es im Wahlkollegium keine absolute Mehrheit gab. Um die gegenwärtige Situation der USA zu verstehen, lohnt es sich daher, die Geschichte des 12. Amendments und besonders die der Wahl von 1824 unter die Lupe zu nehmen.
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Der zwölfte Verfassungszusatz als Stolperdraht
Nach den ursprünglichen Regeln der Verfassung von 1789 hatte jedes Mitglied des Wahlkollegiums zwei Wahlstimmen, wobei nicht zwischen den Stimmen für den Präsidenten und den Stimmen für den Vizepräsidenten unterschieden wurde. Die ersten vier Präsidentschaftswahlen wurden nach diesen Regeln durchgeführt. Diese Regeln waren brauchbar, so lange es kein entwickeltes Parteiensystem in den USA gab. Politische Parteien waren von den Gründervätern nicht vorgesehen; sie galten als politisch schädlich und wurden abfällig nur „factions“ genannt. Doch mit der schrittweisen Herausbildung eines Parteiensystems, bei dem sich die konservativen „Federalists“ um Alexander Hamilton sowie John Adams und die nationalistischen „Democratic Republicans“ um Thomas Jefferson gegenüberstanden, wurde dieses Verfahren zur Wahl des Präsidenten zunehmend aus den Angeln gehoben. 1796 fand dann die erste Wahl der jungen amerikanischen Geschichte statt, bei denen politische Parteien eine dominierende Rolle spielten, und es war die einzige Präsidentschaftswahl, bei der ein Präsident und ein Vizepräsident aus gegnerischen Parteien gewählt wurden.
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Die Erfahrungen aus diesen Präsidentschaftswahlen veranlassten den Gesetzgeber 1803, das Verfahren durch den zwölften Zusatzartikel zur Verfassung dergestalt zu verändern, dass jedes Mitglied des Wahlkollegiums eine Wahlstimme für den Präsidenten und eine Wahlstimme für den Vizepräsidenten abgeben musste. Auch nach den neuen Regeln fand eine Wahl durch das Repräsentantenhaus statt, wenn kein Kandidat eine absolute Mehrheit der Wähler erreichte – und zwar nicht wie üblich pro Kopf, sondern pro Staat. Denn in der entsprechenden Passage des 12. Amendments heißt es: „Bei der Wahl des Präsidenten werden die Stimmen jedoch von den Staaten abgegeben, wobei die Vertretung jedes Staates eine Stimme hat.“ Es wurde weiterhin festgelegt, dass der Senat die Wahl zum Vizepräsidenten durchführt, wenn kein Kandidat die Mehrheit der Stimmen bei den Wahlen zum Vizepräsidenten gewinnt. Damit schienen die Probleme der Wahl durch ein Wahlmännerkollegium (damals alles Männer) gelöst zu sein.
Die neuen Regeln traten für die Präsidentschaftswahlen von 1804 in Kraft und haben alle nachfolgenden Präsidentschaftswahlen geregelt. Der Zusatzartikel veranlasst Trumps Rechtsanwälte, eine gerichtliche Entscheidung zu suchen und den Prozess der Wahl durch das Wahlmännergremium zu verschleppen, denn wenn es nach dem üblichen Verfahren ginge, hätte Trump die Wahl endgültig verloren. Sollte aber dank der juristischen Verzögerung im Januar 2021 noch keine Entscheidung feststehen, würde die Wahl vom Repräsentantenhaus durchgeführt, in dem zwar die Demokraten die absolute Mehrheit der Stimmen haben, die Republikaner aber die Mehrheit der Staaten repräsentieren – und damit gemäß dem 12. Amendment nach der Regel „ein Staat, eine Stimme“ den Präsidenten wählen. Dies ist keine absurde Episode von House of Cards, sondern eine Regel der Verfassung, die in der Wahl von 1824 schon einmal dem in der Volkswahl unterlegenen Kandidaten das Präsidentschaftsamt eingebracht hat.
The Founders Outsmarted the Presidential Election Fraudsters – American Thinker #12amendment https://t.co/Wv06ciiXfz
— Art & Politics R Us (@MikeRaunig) November 13, 2020
Die Wahl von 1824
Die politische Realität war komplexer als sie sich die Reformer von 1803 vorgestellt hatten. Das zeigte sich besonders bei der Wahl von 1824, die in mehreren Hinsichten die Vorläuferin der Wahl von 2020 darstellt. Diese Wahl stand am Ende der sogenannten „Ära der guten Gefühle“ in der amerikanischen Politik und brachte vier Kandidaten hervor, die sich um die Wählerstimmen bemühten. Andrew Jackson, John Quincy Adams, William H. Crawford und Henry Clay, alle vier Mitglieder der gleichen Partei National Republicans, der Nachfolgepartei der Democratic Republicans. Kein Federalist wagte es überhaupt, zur Wahl anzutreten. Andrew Jackson war ein ehemaliger Generalmajor der Armee, der sich durch militärische Siege gegen die Briten und die Native Americans einen guten Ruf erarbeitet hatte. Donald Trump hat ihn mehrfach als Vorbild bezeichnet, auch wenn die Unterschiede zwischen beiden nicht grösser sein könnten. Jackson war ein schlachterprobter Berufssoldat in mehreren Kriegen, hatte zahlreiche Duelle gefochten und galt bei seinen Soldaten als zäh wie das Holz des Nussbaums. Daher rührte sein Spitzname „Old Hickory“. Er war als Sklavenhalter zu großem Reichtum gekommen und residierte auf seiner riesigen Plantage Hermitage in der Nähe von Nashville, Tennessee.
Jackson, ganz anders als Trump, siegte 1824 in Pennsylvania, in den beiden Carolinas, sowie in den meisten Staaten im Westen mit 151.363 direkten Stimmen und 99 Wahlmännerstimmen. John Quincy Adams – hierin durchaus mit Biden vergleichbar – siegte in den Neuenglandstaaten und in New York, darüber hinaus in einigen verstreuten Distrikten und kam auf 113.142 popular votes und 84 Wahlmännerstimmen. Crawford landete weit abgeschlagenen auf dem dritten Platz und Henry Clay auf dem letzten. Andrew Jackson erhielt zwar mehr Stimmen als jeder andere Kandidat, aber er erreichte nicht die Mehrheit von 131 Wahlmännern, die für den Wahlsieg erforderlich waren, was zu einer Wahl im Repräsentantenhaus führte. Der Sieg John C. Calhouns aus South Carolina als Vizepräsident stand vorher fest, da er sowohl von Jackson als auch Adams als Mitkandidat benannt worden war.
Dies war das erste Mal, dass das 12. Amendment der Verfassung angewendet wurde. Als der Kongress im Januar 1825 zusammentrat, wurden seine Korridore und Hinterzimmer und die Bars und Kneipen in Washington zu Orten erregter Debatten und vieldeutiger Absprachen, denn die Freunde und Fans von Jackson und Adams versuchten ihr Bestes, um die Zusage der Abgeordneten zu erhalten, für ihren Kandidaten zu stimmen. Zum endgültigen Sieg brauchte Jackson neben den elf Staaten, die für ihn gestimmt hatten, zwei weitere Staaten, während Adams, der nur sieben Staaten hatte gewinnen können, sechs weitere benötigte, um die Wahl für sich zu entscheiden.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Adams?“
Clay, der einflussreiche Sprecher des Repräsentantenhauses, kontrollierte drei der im Repräsentantenhaus vertretenen Staaten. Er war außerdem entschieden gegen die Wahl eines ehemaligen Generals wie Jackson, mit dem Argument, die „Tötung von 2500 englischen Soldaten in der Schlacht von New Orleans“ qualifiziere ihn nicht für das höchste politische Amt, das die USA zu vergeben hatten. Nachdem klar war, dass Adams, falls er die Unterstützung Clays zu seiner Wahl haben sollte, diesen zum Außenminister ernennen würde, schlug Clay seinen Stimmenanteil auf die Seite des ehemaligen Rivalen aus Boston. Die Kongressabgeordneten, die Illinois und Missouri repräsentierten, wurden von Adams mit politischen Versprechen geködert und New Yorker und Bewohner Marylands, die mehrheitlich föderalistisch fühlten, wurden beschwichtigt.
Am 9. Februar 1825 wählte das House of Representatives mit knapper Mehrheit John Quincy Adams zum sechsten Präsidenten der USA. Zwar sprachen die Unterstützer Jacksons von „Raub“ und „Ausverkauf der Republik“, doch war der Wahlsieg Adams’ vollkommen legal. Die Unterstützer Jacksons schäumten. John Pemberton, der mit Jackson im Krieg von 1812 gekämpft hatte, schrieb am 15.2.1825 an Jackson: „Ich habe keine Sprache, um Ihnen gegenüber die tiefe Trauer und die Demütigung auszudrücken, die ich im Ergebnis der späten Wahl durch die (fälschlicherweise so genannten) Volksvertreter bei der Wahl eines Präsidenten der USA empfinde“. Die republikanische Presse war außer sich und sprach von einem korrupten Kuhhandel („corrupt bargain“). „Verstorben am 9. Februar in Washington, durch das Gift, das von den Attentätern John Quincy Adams, dem Usurpator, und Henry Clay der Tugend, Freiheit und Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, verabreicht wurde,“ las sich eine satirische Todesanzeige der Republik in einer Zeitung der Anhänger Jacksons. Andrew Jackson verstieg sich zu einem Vergleich seiner Person mit Jesus von Nazareth: „Sie sehen also, der Judas des Westens hat den Vertrag geschlossen und wird die dreißig Silberstücke erhalten. Sein Ende wird das gleiche sein. Gab es jemals zuvor in einem Land eine so offensichtliche Korruption?“
Noch ein Jahr später behauptete er: „Das Volk ist betrogen worden […] die Korruption und die Intrigen in Washington haben den Willen des Volkes geschlagen.“ Doch obsiegte schließlich die politische Vernunft: Andrew Jackson, darin Trump ganz unähnlich, bemerkte in seiner Korrespondenz mit dem Historiker Henry Lee IV am 7.10.1825: „Herr Adams ist der verfassungsmäßige Präsident, und als solcher wäre ich selbst der letzte Mann im Commonwealth, der sich ihm aus einem anderen Grund als dem des Prinzips widersetzen würde.“ Er bewies genug Haltung, um Adams beim Empfang des scheidenden Präsidenten James Monroe zu seinen Ehren zu gratulieren, auch wenn er es mit einem kleinen Seitenhieb verband: „Wie geht es Ihnen, Mr. Adams?“ fragte er den Gewinner der Wahl, als sie sich im East Room des Weißen Hauses begegneten. Jackson war in Begleitung einer schönen Frau erschienen und fuhr fort: „Ich gebe Ihnen meine linke Hand, denn die rechte ist, wie Sie sehen, der Schönen [fair] verpflichtet.“ Solchen Witz, gepaart mit Stil, wird man bei Trump nicht erleben.
1824=2020?
Trump hat Andrew Jacksons Meme des Jahres 1824 schon für sich eingesetzt. Er sagte im Hinblick auf die Wahlen von 2020: „Die wichtigste [Wahl], die wir je hatten. Biden hat im Austausch für die Nominierung seiner Partei einen Kuhhandel [corrupt bargain] gemacht. Er hat die Kontrolle an die Sozialisten, Marxisten und Linksextremisten abgegeben.“
Ob Trump die Wahl Joseph Bidens konzediert oder nicht, ist aber nicht entscheidend. Wichtig ist, ob vor dem 20. Januar eine Mehrheit der Wahlmännerstimmen jenseits von 270 Stimmen für Biden stimmt. Wenn nicht, droht eine Wiederholung von 1824. Diesmal könnten beide, Präsident und Vizepräsident vom Repräsentantenhaus bzw. Senat (der den Vizepräsidenten zu wählen hätte) bestimmt werden. Sollten die Republikaner ihre Mehrheit im Senat verteidigen, könnten Trump und Vizepräsident Mike Pence bis 2024 im Amt bleiben. Sollte Trumps Plan scheitern, könnte er, wie sein Vorbild Andrew Jackson 1828, den angeblich „korrupten Deal“ des Jahres 2020 zum Wahlkampfthema machen und 2024 seine Wiederwahl anstreben.
MR. PRESIDENT, WE KNOW YOU HAVE WON. THANK YOU FOR PUSHING THE INTEGRITY OF DEMOCRACY FORWARD. THE PATRIOTS OF THIS COUNTRY ARE WITH YOU, FOR LIBERTY OR DEATH IN ITS PURSUIT. #12AMENDMENT
— Freedom Theory (@TheoryFreedom) November 13, 2020