Die russische Invasion in die Ukraine im Frühjahr 2022 und die daraus resultierende internationale Krise haben auch zur Rückkehr eines Gespenstes geführt, das seit dem Ende des Kalten Krieges lange Jahre vergessen schien: die Möglichkeit eines Atomkrieges. Auf die öffentlichen Drohungen und Andeutungen des Kremls zur Nutzung nuklearer Waffensysteme reagierte der Westen mit scharfen Warnungen; es entstand eine (rhetorische) Dynamik, die Anfang Oktober in der Äußerung von US-Präsident Joe Biden gipfelte: „We’ve not faced the prospect of Armageddon since Kennedy in the Cuban missile crisis.“ Dass „das Undenkbare“ (Herman Kahn, 1922-1983) – also der reale Einsatz von Kernwaffen – wieder so prominent Einzug in den politischen und den öffentlichen Raum halten würde, war vor Beginn des russischen Angriffskrieges kaum absehbar gewesen. Doch als wie realistisch ist „das Undenkbare“ heute einzuschätzen?
Politische Praktik der Atomkriegsdrohung
Als zu Beginn des Jahres 1953 der Konflikt um die koreanische Halbinsel längst im Stellungskrieg erstarrt war und Verhandlungen festgefahren schienen, ließ der neue US-Präsident Dwight D. Eisenhower die chinesische Führung über diplomatische Kanäle wissen, dass die USA in Kürze Ziele innerhalb Chinas mit Kernwaffen bombardieren würden. Verhindern ließe sich das nur, wenn die asiatischen Kommunisten am Verhandlungstisch endlich zu weiteren Konzessionen bereit wären. Eisenhowers atomare Drohung war, so zumindest die Deutung der Beteiligten auf US-Seite, durchaus erfolgreich. In den zuvor strittigen Punkten (wie etwa der Austausch von Kriegsgefangenen) wurde eine Übereinkunft erzielt, und einer der blutigsten Kriege des 20. Jahrhunderts endete mit dem Waffenstillstand von Panmunjeom.
Diese Episode stellt – nach dem tatsächlichen Einsatz von zwei Atombomben 1945 in Japan – einen der (wenigen) Präzedenzfälle dar, in denen durch die explizite Drohung mit atomaren Mitteln ein dezidiertes politisch-militärisches Ziel erreicht wurde. Dazu zählen, mit Abstrichen, die Iran-Krise 1946 und die Jugoslawien-Krise 1948, als Josef Stalin auch durch den Hinweis auf das atomare Potential der USA von einer territorialen Expansion abgehalten wurde. Es ist allerdings kein Zufall, dass diese historischen Exempel in die Zeit des US-amerikanischen atomaren Monopols oder De-Facto-Monopols (wie im Fall von Korea) fallen. Denn je länger die Bombe existierte, desto schwieriger und unrentabler wurde das Drohen mit ihr. Sechzehn Jahre nach dem Ende des Koreakrieges versuchte die Regierung von Richard Nixon mit seiner von ihm so genannten „Madman-Theory“ den Sowjets und Nordvietnam zu signalisieren, dass er wirklich ALLES tun würde, um den Krieg in Vietnam zu beenden – den Einsatz von Atombomben nicht ausgenommen. Da es Nixon aber aufgrund von außen- und innenpolitischen Faktoren unmöglich war, öffentlich und direkt mit einem atomaren Einsatz gegen Ziele im Herrschaftsbereich Hanois zu drohen, durchschaute der Gegner den Bluff und die technologische Übermacht im nuklearen Bereich gegen eine „viertklassige Macht“ (Henry Kissinger) wie Nordvietnam blieb vollkommen nutzlos.
Die Kuba-Krise von 1962 kann letztlich ebenfalls als ein historisches Exempel für atomare Drohungen gelesen werden, da die (indirekte) atomare Drohung John F. Kennedys den vollständigen Abzug der sowjetischen Atomraketen aus Kuba erzwang. Diese „13 Tage im Oktober“ (Bernd Greiner) führten blockübergreifend zur Überzeugung, dass ein zukünftiger nuklearer Krieg zwischen den Machtblöcken um jeden Preis vermieden werden muss. „Kuba“ verankerte auf Seiten der Sowjetunion aber auch die Überzeugung, dass eine atomare Erpressbarkeit wie 1962 und der damit einhergehende Gesichtsverlust niemals mehr möglich sein dürften. In den folgenden zwei Jahrzehnten investierte der kommunistische Staat daher immense Summen in seine nukleare Aufrüstung und erreichte in Folge etwa Anfang/Mitte der 1970er Jahre die nukleare Parität mit den Vereinigten Staaten. Für die konventionelle Kriegsführung der Sowjetunion hatte das aber kaum Konsequenzen: Der Krieg in Afghanistan gegen die islamischen Mudschaheddin und ihre Verbündeten (1979-1989) war in jeder denkbaren Hinsicht vollkommen ungeeignet, atomare Drohmittel zielführend einzusetzen – und es sind trotz der sowjetischen Niederlage auch keine entsprechenden Drohungen bekannt.
Das thermonukleare Tabu
Hiroshima und Nagasaki blieben trotz aller Befürchtungen isolierte historische Episoden und wurden nicht zu Präzedenzfällen für die Nuklearisierung des Krieges. Dies mag für uns im Nachhinein rational erwartbar erscheinen, aber diese Entwicklung war für die Zeitgenossen keinesfalls so determiniert, wie auch ein exemplarischer Blick in die Gedankenwelt der US-amerikanischen Think Tank-Kultur und Kriegsfuturistik veranschaulicht. Zwei Jahre vor der Kuba-Krise veröffentlichte der US-amerikanische „defense intellectual“ und RAND-Mitarbeiter Thomas Schelling – RAND war der Think Tank der US Air Force – seine Denkschrift „The Strategy of Conflict“ (1960). Anknüpfend an die Spieltheorie thematisierte Schelling weniger spezifische Handlungsoptionen für den Fall einer tatsächlichen nuklearen Auseinandersetzung, sondern stellte vielmehr die Nutzung von Vernichtungs- und Drohpotenzialen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.
Schelling verstand Konflikte an sich als „Aushandlungsprozesse“, und dies galt seiner Meinung nach auch für den Krieg als deren extremster Spielart. Dementsprechend sei auch Krieg prinzipiell beeinflussbar und damit begrenzbar, da die Kriegsparteien immer vor der Überschreitung bestimmter menschlicher oder materieller Kostengrenzen zurückschreckten; die Atombombe modifiziere diese Regel lediglich quantitativ, so Schelling. Die Überschreitung der nuklearen Schwelle müsse daher keinesfalls der Apokalypse Tür und Tor öffnen, denn es gäbe nicht nur „den Atomkrieg“, sondern unzählige und durchaus kalkulierbare Formen der Nutzung atomarer Mittel. Indem Schelling ebenso wie sein RAND-Kollege Herman Kahn einen (auch) thermonuklear geführten Konflikt im Grundsatz lediglich als eine weitere Variante des Austausches zwischenmenschlicher Gewalt verstand, warb er dafür, die Bombe im Rahmen des Konzeptes „limited war“ als rational einsetzbares Gewaltmittel anzusehen und diese Ansicht dem Gegner auch entsprechend zu kommunizieren. Hierzu müsse man nicht zuletzt ihrem eschatologisch-sakralen Nimbus als Endzeit-Waffe bewusst entgegenwirken; die technische Weiterentwicklung wie auch möglicherweise ein politischer Lernprozess dürften die Unterscheidung zwischen atomar und nicht-atomar kaum auf ewige Zeiten aufrechterhalten lassen.
Es ist im Nachhinein durchaus erstaunlich, wie falsch Schelling hier lag. Denn nicht nur in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von „The Strategy of Conflict“, sondern auch bis in unsere Gegenwart hinein kam es nach Hiroshima und Nagasaki zu keinem weiteren Einsatz dieser Waffensysteme, und schon die Drohung mit solchen Mitteln galt immer mehr als anrüchig, komplett amoralisch oder gar wahnsinnig. Stattdessen triumphierte ein Konzept, das die Politikwissenschaftlerin Nina Tannenwald das „nukleare Tabu“ nennt. Dies bezeichnet die internationale Norm, den Ersteinsatz von Kernwaffen als eklatante Grenzüberschreitung anzusehen, die durch nichts zu rechtfertigen sei. Es herrscht in dieser Hinsicht eine globale atomare Prohibition, die bis zu diesem Tag (ungeschriebenes) Gesetz zu sein scheint.
Dieses „Tabu“ geht nach Tannenwald auf eine Vielzahl von Faktoren zurück, aber herausragend waren und sind hierbei der politische Druck sowohl durch Friedensaktivismus wie auch durch nicht-nukleare Staaten, zudem die Furcht vor einer Eskalation sowie ethisch-moralische Hemmnisse auf Seiten der jeweiligen Entscheidungsträger. Dazu wirkten sich auch Aspekte aus wie die Komplexität nuklearer Technologie, auf internationaler Ebene der Aufstieg humanitärer Normen und schließlich die Tatsache, dass das erste nukleare Monopol (1945-1949) in den Händen einer Demokratie lag. Dass während der 1990er und 2000er Jahre (zumindest temporär) einer der beiden Kontrahenten verschwand und für kurze Zeit gar die Natur des Ost-West-Gegensatzes obsolet zu werden schien, hat das „nukleare Tabu“ weiter zementiert. Hinzu kam die Tatsache, dass nach dem Ende des Kalten Krieges einige Staaten ihr Atomwaffenprogram abbrachen, oder, wie im Falle der Ukraine, darauf verzichteten, als eigenständiger Staat zur Atommacht zu werden.
Comeback der Bombe?
Die Kernwaffen waren das, was von der Sowjetunion nach ihrem Zerfall blieb. Nachdem neben der Ukraine auch Kasachstan und Belarus die auf ihrem Territorium stationierten Atomsprengkörper an Russland abgaben, war der vormals größte sowjetische Einzelstaat im Restbesitz jener Waffenberge. Die äußerst schwierige Wirtschaftslage Russlands in den 1990er Jahren führte dazu, dass Teile der konventionellen Streitkräfte außer Dienst gestellt und nicht mehr instandgehalten werden konnten oder neue Rüstungsprogramme gleich völlig gestrichen wurden. Mit den Modernisierungsanstrengungen auf westlicher Seite und der dabei inhärenten militärischen Weiterentwicklung von Informationstechnologie konnte das Land schon aus finanziellen Gründen nicht mithalten. Das atomare Potential wurde in dieser Hinsicht so zum letzten Rest früherer militärischer Größe, und der Kreml betonte den nuklearen Faktor in seiner Militärdoktrin deutlich stärker als viele westliche Staaten. In den 2010er Jahre wurden große Modernisierungsprogramme auf den Weg gebracht, welche sowohl atomare als auch nicht-atomare Komponenten beinhalteten.
Der Verlauf des Angriffskrieges gegen die Ukraine seit Februar 2022 hat allerdings offengelegt, dass die russische Armee vor große Probleme gestellt wird, wenn sie sich mit einem Gegner konfrontiert sieht, der über „intelligente“ Waffensysteme und eine moderne, flexible Vernetzung verfügt. Ohne Zweifel dient die Drohung mit dem atomaren Potenzial (über das der Westen ebenso verfügt) auch der Ablenkung von diesem Misserfolg in der konventionellen Kriegsführung. Russland hatte mit dem Angriff auf die Ukraine bereits mehrere internationale Tabus gebrochen und dementsprechend auch weniger Hemmungen, noch mehr ideelle Grenzen in Frage zu stellen. Es ist allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Vladimir Putin die nukleare Grenze in einem zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin regionalen Krieg überschreiten würde. In dieser Hinsicht sind die jüngsten Drohungen eines Einsatzes taktischer Nuklearwaffen auch mehr als ein Symptom der Schwäche zu deuten. Wie stark das „nukleare Tabu“ weiterhin wirkt, lässt sich auch daran festmachen, dass die Vereinigten Staaten öffentlich kommuniziert haben, sie würden den Einsatz solcher Mittel im Falle des Tabu-Bruchs durch Russland mit konventionellen Waffensystemen vergelten.
Die politische Praktik der Atomdrohung war schon auf die Gesamtzeit des Kalten Krieges bezogen keinesfalls ein Selbstläufer. Es handelte sich stattdessen um eine geopolitische Taktik, die fast immer hochriskant und äußerst selten praktikabel war, sowie oftmals auf den/die Drohenden negativ zurückfiel. Genauso wenig wie damals Nixon in Vietnam kann Russland heute einfach ein Atom-Ultimatum stellen und die Ukraine zur bedingungslosen Aufgabe zwingen. Dies wäre ein derartig radikaler Normverstoß gegen die internationale Ordnung, dass die westlichen Staaten, aber auch Putins asiatische Partner ein solches Vorgehen niemals akzeptieren würden. Höchstwahrscheinlich wäre ein westliches Gegenultimatum die Folge und alles, was danach folgen könnte, muss hier nicht ausgeführt werden. Die Lehre aus dem Kalten Krieg war auch, dass keine Seite je wirklich zur Überzeugung gelangte, aus einem Atomkrieg irgendeine Form von Gewinn zu ziehen. An dieser Wahrheit hat sich auch dreißig Jahre nach dem Ende der Systemkonfrontation und des Kommunismus nichts geändert. Viel spricht dafür, dass die russische Führung mit den in jüngster Zeit geäußerten Drohungen stattdessen drei andere Zwecke verfolgt. Erstens dienen sie der Selbstdarstellung vor der heimischen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit als trotz des desolaten Kriegsverlaufs militärisch weiterhin potentem Hegemon. Zweitens sollen sie in Anknüpfung an gesellschaftliche Dynamiken im Westen Unsicherheit und Angst hervorrufen. Möglich ist hierbei durchaus, dass die Atom-Angst früherer Jahrzehnte als historische Blaupause dienen soll, um einige Stärken der westlichen Gesellschaft – ihre Offenheit und Partizipationsfähigkeit – gegen diese einzusetzen. Drittens sollen sie den Westen vor einem direkten und konventionellen Eintritt in den Krieg auf Seiten der Ukraine abhalten.
Ein Rest Vernunft
Es mag bedrückend erscheinen, dass auf internationaler Ebene überhaupt wieder über eine atomare Konfrontation gesprochen wird, aber der Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges zeigt, dass sich auch im Angesicht anderer, früherer Krisen und Kriege ein letzter Rest Vernunft gehalten hat und es niemals zu einem Atomkrieg kam, obwohl die Gefahr dazu in den Jahren zwischen 1947 bis 1991 quantitativ wie qualitativ höher war als heute. Das kann dabei durchaus manchmal mehr an Angst als an Vernunft gelegen haben. Atomwaffen können nämlich durchaus als politische Werkzeuge taugen – allerdings nicht zur offensiven Drohung, sondern zur defensiven Abschreckung. Die Reaktion der westlichen Regierungen auf die russischen Atom-Drohungen ist in diesem Sinne durchaus klug zu nennen. Joe Biden hat das Bekenntnis zum „nuklearen Tabu“ erneuert und vor den universell destruktiven Auswirkungen eines atomaren Kontrollverlustes gewarnt, dabei aber unmissverständlich klar gemacht, dass man sich nicht erpressen lassen wird.
Hinweisen möchte ich im Zusammenhang mit der Nuklearstrategie der USA noch auf die Diskussion um den taktischen Wert der so genannten Neutronenbombe in den 70er Jahren