Putins Atomdrohung löste im Westen ganz unterschiedliche Reaktionen aus: Angst, Kopfschütteln und neue Bekenntnisse zum „nuklearen Tabu“. Ein Blick in die Geschichte der Atomdrohungen seit 1953 zeigt, wie die aktuelle Situation einzuschätzen ist.

  • Constantin M. März

    Constantin M. März ist Zeithistoriker und derzeit am DFG-Graduiertenkolleg 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ an der Universität Duisburg-Essen tätig. Er arbeitet an einem Dissertationsprojekt über thermonukleare Zukunftsbilder in den USA des Kalten Krieges.

Die russi­sche Inva­sion in die Ukraine im Früh­jahr 2022 und die daraus resul­tie­rende inter­na­tio­nale Krise haben auch zur Rück­kehr eines Gespenstes geführt, das seit dem Ende des Kalten Krieges lange Jahre vergessen schien: die Möglich­keit eines Atom­krieges. Auf die öffent­li­chen Drohungen und Andeu­tungen des Kremls zur Nutzung nuklearer Waffen­sys­teme reagierte der Westen mit scharfen Warnungen; es entstand eine (rheto­ri­sche) Dynamik, die Anfang Oktober in der Äuße­rung von US-Präsident Joe Biden gipfelte: „We’ve not faced the pros­pect of Arma­geddon since Kennedy in the Cuban missile crisis.“ Dass „das Undenk­bare“ (Herman Kahn, 1922-1983) – also der reale Einsatz von Kern­waffen – wieder so promi­nent Einzug in den poli­ti­schen und den öffent­li­chen Raum halten würde, war vor Beginn des russi­schen Angriffs­krieges kaum absehbar gewesen. Doch als wie realis­tisch ist „das Undenk­bare“ heute einzuschätzen?

Poli­ti­sche Praktik der Atomkriegsdrohung

Als zu Beginn des Jahres 1953 der Konflikt um die korea­ni­sche Halb­insel längst im Stel­lungs­krieg erstarrt war und Verhand­lungen fest­ge­fahren schienen, ließ der neue US-Präsident Dwight D. Eisen­hower die chine­si­sche Führung über diplo­ma­ti­sche Kanäle wissen, dass die USA in Kürze Ziele inner­halb Chinas mit Kern­waffen bombar­dieren würden. Verhin­dern ließe sich das nur, wenn die asia­ti­schen Kommu­nisten am Verhand­lungs­tisch endlich zu weiteren Konzes­sionen bereit wären. Eisen­ho­wers atomare Drohung war, so zumin­dest die Deutung der Betei­ligten auf US-Seite, durchaus erfolg­reich. In den zuvor strit­tigen Punkten (wie etwa der Austausch von Kriegs­ge­fan­genen) wurde eine Über­ein­kunft erzielt, und einer der blutigsten Kriege des 20. Jahr­hun­derts endete mit dem Waffen­still­stand von Panmunjeom.

Diese Episode stellt – nach dem tatsäch­li­chen Einsatz von zwei Atom­bomben 1945 in Japan – einen der (wenigen) Präze­denz­fälle dar, in denen durch die expli­zite Drohung mit atomaren Mitteln ein dezi­diertes politisch-militärisches Ziel erreicht wurde. Dazu zählen, mit Abstri­chen, die Iran-Krise 1946 und die Jugoslawien-Krise 1948, als Josef Stalin auch durch den Hinweis auf das atomare Poten­tial der USA von einer terri­to­rialen Expan­sion abge­halten wurde. Es ist aller­dings kein Zufall, dass diese histo­ri­schen Exempel in die Zeit des US-amerikanischen atomaren Mono­pols oder De-Facto-Monopols (wie im Fall von Korea) fallen. Denn je länger die Bombe exis­tierte, desto schwie­riger und unren­ta­bler wurde das Drohen mit ihr. Sech­zehn Jahre nach dem Ende des Korea­krieges versuchte die Regie­rung von Richard Nixon mit seiner von ihm so genannten „Madman-Theory“ den Sowjets und Nord­vietnam zu signa­li­sieren, dass er wirk­lich ALLES tun würde, um den Krieg in Vietnam zu beenden – den Einsatz von Atom­bomben nicht ausge­nommen. Da es Nixon aber aufgrund von außen- und innen­po­li­ti­schen Faktoren unmög­lich war, öffent­lich und direkt mit einem atomaren Einsatz gegen Ziele im Herr­schafts­be­reich Hanois zu drohen, durch­schaute der Gegner den Bluff und die tech­no­lo­gi­sche Über­macht im nuklearen Bereich gegen eine „viert­klas­sige Macht“ (Henry Kissinger) wie Nord­vietnam blieb voll­kommen nutzlos.

Die Kuba-Krise von 1962 kann letzt­lich eben­falls als ein histo­ri­sches Exempel für atomare Drohungen gelesen werden, da die (indi­rekte) atomare Drohung John F. Kennedys den voll­stän­digen Abzug der sowje­ti­schen Atom­ra­keten aus Kuba erzwang. Diese „13 Tage im Oktober“ (Bernd Greiner) führten block­über­grei­fend zur Über­zeu­gung, dass ein zukünf­tiger nuklearer Krieg zwischen den Macht­blö­cken um jeden Preis vermieden werden muss. „Kuba“ veran­kerte auf Seiten der Sowjet­union aber auch die Über­zeu­gung, dass eine atomare Erpress­bar­keit wie 1962 und der damit einher­ge­hende Gesichts­ver­lust niemals mehr möglich sein dürften. In den folgenden zwei Jahr­zehnten inves­tierte der kommu­nis­ti­sche Staat daher immense Summen in seine nukleare Aufrüs­tung und erreichte in Folge etwa Anfang/Mitte der 1970er Jahre die nukleare Parität mit den Verei­nigten Staaten. Für die konven­tio­nelle Kriegs­füh­rung der Sowjet­union hatte das aber kaum Konse­quenzen: Der Krieg in Afgha­ni­stan gegen die isla­mi­schen Mudscha­heddin und ihre Verbün­deten (1979-1989) war in jeder denk­baren Hinsicht voll­kommen unge­eignet, atomare Droh­mittel ziel­füh­rend einzu­setzen – und es sind trotz der sowje­ti­schen Nieder­lage auch keine entspre­chenden Drohungen bekannt.

Das ther­mo­nu­kleare Tabu

Hiro­shima und Naga­saki blieben trotz aller Befürch­tungen isolierte histo­ri­sche Episoden und wurden nicht zu Präze­denz­fällen für die Nukle­a­ri­sie­rung des Krieges. Dies mag für uns im Nach­hinein rational erwartbar erscheinen, aber diese Entwick­lung war für die Zeit­ge­nossen keines­falls so deter­mi­niert, wie auch ein exem­pla­ri­scher Blick in die Gedan­ken­welt der US-amerikanischen Think Tank-Kultur und Kriegs­fu­tu­ristik veran­schau­licht. Zwei Jahre vor der Kuba-Krise veröf­fent­lichte der US-amerikanische „defense intellec­tual“ und RAND-Mitarbeiter Thomas Schel­ling – RAND war der Think Tank der US Air Force – seine Denk­schrift „The Stra­tegy of Conflict“ (1960). Anknüp­fend an die Spiel­theorie thema­ti­sierte Schel­ling weniger spezi­fi­sche Hand­lungs­op­tionen für den Fall einer tatsäch­li­chen nuklearen Ausein­an­der­set­zung, sondern stellte viel­mehr die Nutzung von Vernichtungs- und Drohpoten­zialen in den Mittel­punkt seiner Überlegungen.

Schel­ling verstand Konflikte an sich als „Aushand­lungs­pro­zesse“, und dies galt seiner Meinung nach auch für den Krieg als deren extremster Spielart. Dementspre­chend sei auch Krieg prin­zi­piell beein­flussbar und damit begrenzbar, da die Kriegs­par­teien immer vor der Über­schrei­tung bestimmter mensch­li­cher oder mate­ri­eller Kosten­grenzen zurück­schreckten; die Atom­bombe modi­fi­ziere diese Regel ledig­lich quan­ti­tativ, so Schel­ling. Die Über­schrei­tung der nuklearen Schwelle müsse daher keines­falls der Apoka­lypse Tür und Tor öffnen, denn es gäbe nicht nur „den Atom­krieg“, sondern unzäh­lige und durchaus kalku­lier­bare Formen der Nutzung atomarer Mittel. Indem Schel­ling ebenso wie sein RAND-Kollege Herman Kahn einen (auch) ther­mo­nu­klear geführten Konflikt im Grund­satz ledig­lich als eine weitere Vari­ante des Austau­sches zwischen­mensch­li­cher Gewalt verstand, warb er dafür, die Bombe im Rahmen des Konzeptes „limited war“ als rational einsetz­bares Gewalt­mittel anzu­sehen und diese Ansicht dem Gegner auch entspre­chend zu kommu­ni­zieren. Hierzu müsse man nicht zuletzt ihrem eschatologisch-sakralen Nimbus als Endzeit-Waffe bewusst entge­gen­wirken; die tech­ni­sche Weiter­ent­wick­lung wie auch mögli­cher­weise ein poli­ti­scher Lern­pro­zess dürften die Unter­schei­dung zwischen atomar und nicht-atomar kaum auf ewige Zeiten aufrecht­erhalten lassen.

Es ist im Nach­hinein durchaus erstaun­lich, wie falsch Schel­ling hier lag. Denn nicht nur in den Jahr­zehnten nach der Veröf­fent­li­chung von „The Stra­tegy of Conflict“, sondern auch bis in unsere Gegen­wart hinein kam es nach Hiro­shima und Naga­saki zu keinem weiteren Einsatz dieser Waffen­sys­teme, und schon die Drohung mit solchen Mitteln galt immer mehr als anrü­chig, komplett amora­lisch oder gar wahn­sinnig. Statt­dessen trium­phierte ein Konzept, das die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Nina Tannen­wald das „nukleare Tabu“ nennt. Dies bezeichnet die inter­na­tio­nale Norm, den Erst­ein­satz von Kern­waffen als ekla­tante Grenz­über­schrei­tung anzu­sehen, die durch nichts zu recht­fer­tigen sei. Es herrscht in dieser Hinsicht eine globale atomare Prohi­bi­tion, die bis zu diesem Tag (unge­schrie­benes) Gesetz zu sein scheint.

Dieses „Tabu“ geht nach Tannen­wald auf eine Viel­zahl von Faktoren zurück, aber heraus­ra­gend waren und sind hierbei der poli­ti­sche Druck sowohl durch Frie­dens­ak­ti­vismus wie auch durch nicht-nukleare Staaten, zudem die Furcht vor einer Eska­la­tion sowie ethisch-moralische Hemm­nisse auf Seiten der jewei­ligen Entschei­dungs­träger. Dazu wirkten sich auch Aspekte aus wie die Komple­xität nuklearer Tech­no­logie, auf inter­na­tio­naler Ebene der Aufstieg huma­ni­tärer Normen und schließ­lich die Tatsache, dass das erste nukleare Monopol (1945-1949) in den Händen einer Demo­kratie lag. Dass während der 1990er und 2000er Jahre (zumin­dest temporär) einer der beiden Kontra­henten verschwand und für kurze Zeit gar die Natur des Ost-West-Gegensatzes obsolet zu werden schien, hat das „nukleare Tabu“ weiter zemen­tiert. Hinzu kam die Tatsache, dass nach dem Ende des Kalten Krieges einige Staaten ihr Atom­waf­fen­pro­gram abbra­chen, oder, wie im Falle der Ukraine, darauf verzich­teten, als eigen­stän­diger Staat zur Atom­macht zu werden.

Come­back der Bombe?

Die Kern­waffen waren das, was von der Sowjet­union nach ihrem Zerfall blieb. Nachdem neben der Ukraine auch Kasach­stan und Belarus die auf ihrem Terri­to­rium statio­nierten Atom­spreng­körper an Russ­land abgaben, war der vormals größte sowje­ti­sche Einzel­staat im Rest­be­sitz jener Waffen­berge. Die äußerst schwie­rige Wirt­schafts­lage Russ­lands in den 1990er Jahren führte dazu, dass Teile der konven­tio­nellen Streit­kräfte außer Dienst gestellt und nicht mehr instand­ge­halten werden konnten oder neue Rüstungs­pro­gramme gleich völlig gestri­chen wurden. Mit den Moder­ni­sie­rungs­an­stren­gungen auf west­li­cher Seite und der dabei inhä­renten mili­tä­ri­schen Weiter­ent­wick­lung von Infor­ma­ti­ons­tech­no­logie konnte das Land schon aus finan­zi­ellen Gründen nicht mithalten. Das atomare Poten­tial wurde in dieser Hinsicht so zum letzten Rest früherer mili­tä­ri­scher Größe, und der Kreml betonte den nuklearen Faktor in seiner Mili­tär­dok­trin deut­lich stärker als viele west­liche Staaten. In den 2010er Jahre wurden große Moder­ni­sie­rungs­pro­gramme auf den Weg gebracht, welche sowohl atomare als auch nicht-atomare Kompo­nenten beinhalteten.

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Der Verlauf des Angriffs­krieges gegen die Ukraine seit Februar 2022 hat aller­dings offen­ge­legt, dass die russi­sche Armee vor große Probleme gestellt wird, wenn sie sich mit einem Gegner konfron­tiert sieht, der über „intel­li­gente“ Waffen­sys­teme und eine moderne, flexible Vernet­zung verfügt. Ohne Zweifel dient die Drohung mit dem atomaren Poten­zial (über das der Westen ebenso verfügt) auch der Ablen­kung von diesem Miss­erfolg in der konven­tio­nellen Kriegs­füh­rung. Russ­land hatte mit dem Angriff auf die Ukraine bereits mehrere inter­na­tio­nale Tabus gebro­chen und dementspre­chend auch weniger Hemmungen, noch mehr ideelle Grenzen in Frage zu stellen. Es ist aller­dings mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit ausge­schlossen, dass Vladimir Putin die nukleare Grenze in einem zum jetzigen Zeit­punkt weiterhin regio­nalen Krieg über­schreiten würde. In dieser Hinsicht sind die jüngsten Drohungen eines Einsatzes takti­scher Nukle­ar­waffen auch mehr als ein Symptom der Schwäche zu deuten. Wie stark das „nukleare Tabu“ weiterhin wirkt, lässt sich auch daran fest­ma­chen, dass die Verei­nigten Staaten öffent­lich kommu­ni­ziert haben, sie würden den Einsatz solcher Mittel im Falle des Tabu-Bruchs durch Russ­land mit konven­tio­nellen Waffen­sys­temen vergelten.

Die poli­ti­sche Praktik der Atom­dro­hung war schon auf die Gesamt­zeit des Kalten Krieges bezogen keines­falls ein Selbst­läufer. Es handelte sich statt­dessen um eine geopo­li­ti­sche Taktik, die fast immer hoch­ris­kant und äußerst selten prak­ti­kabel war, sowie oftmals auf den/die Drohenden negativ zurück­fiel. Genauso wenig wie damals Nixon in Vietnam kann Russ­land heute einfach ein Atom-Ultimatum stellen und die Ukraine zur bedin­gungs­losen Aufgabe zwingen. Dies wäre ein derartig radi­kaler Norm­ver­stoß gegen die inter­na­tio­nale Ordnung, dass die west­li­chen Staaten, aber auch Putins asia­ti­sche Partner ein solches Vorgehen niemals akzep­tieren würden. Höchst­wahr­schein­lich wäre ein west­li­ches Gegen­ul­ti­matum die Folge und alles, was danach folgen könnte, muss hier nicht ausge­führt werden. Die Lehre aus dem Kalten Krieg war auch, dass keine Seite je wirk­lich zur Über­zeu­gung gelangte, aus einem Atom­krieg irgend­eine Form von Gewinn zu ziehen. An dieser Wahr­heit hat sich auch dreißig Jahre nach dem Ende der System­kon­fron­ta­tion und des Kommu­nismus nichts geän­dert. Viel spricht dafür, dass die russi­sche Führung mit den in jüngster Zeit geäu­ßerten Drohungen statt­dessen drei andere Zwecke verfolgt. Erstens dienen sie der Selbst­dar­stel­lung vor der heimi­schen Bevöl­ke­rung und der inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit als trotz des deso­laten Kriegs­ver­laufs mili­tä­risch weiterhin potentem Hegemon. Zwei­tens sollen sie in Anknüp­fung an gesell­schaft­liche Dyna­miken im Westen Unsi­cher­heit und Angst hervor­rufen. Möglich ist hierbei durchaus, dass die Atom-Angst früherer Jahr­zehnte als histo­ri­sche Blau­pause dienen soll, um einige Stärken der west­li­chen Gesell­schaft – ihre Offen­heit und Parti­zi­pa­ti­ons­fä­hig­keit – gegen diese einzu­setzen. Drit­tens sollen sie den Westen vor einem direkten und konven­tio­nellen Eintritt in den Krieg auf Seiten der Ukraine abhalten.

Ein Rest Vernunft

Es mag bedrü­ckend erscheinen, dass auf inter­na­tio­naler Ebene über­haupt wieder über eine atomare Konfron­ta­tion gespro­chen wird, aber der Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges zeigt, dass sich auch im Ange­sicht anderer, früherer Krisen und Kriege ein letzter Rest Vernunft gehalten hat und es niemals zu einem Atom­krieg kam, obwohl die Gefahr dazu in den Jahren zwischen 1947 bis 1991 quan­ti­tativ wie quali­tativ höher war als heute. Das kann dabei durchaus manchmal mehr an Angst als an Vernunft gelegen haben. Atom­waffen können nämlich durchaus als poli­ti­sche Werk­zeuge taugen – aller­dings nicht zur offen­siven Drohung, sondern zur defen­siven Abschre­ckung.  Die Reak­tion der west­li­chen Regie­rungen auf die russi­schen Atom-Drohungen ist in diesem Sinne durchaus klug zu nennen. Joe Biden hat das Bekenntnis zum „nuklearen Tabu“ erneuert und vor den univer­sell destruk­tiven Auswir­kungen eines atomaren Kontroll­ver­lustes gewarnt, dabei aber unmiss­ver­ständ­lich klar gemacht, dass man sich nicht erpressen lassen wird.