Die Colonia Dignidad und ihre Verbrechen finden wieder Aufmerksamkeit. Doch die Erinnerungspolitik, die sich allein auf die Vergangenheit richtet, riskiert, das Leiden in der Gegenwart vergessen zu machen.

  • Meike Dreckmann-Nielen

    Meike Dreckmann-Nielen lebt und arbeitet als Public Historian und Projektmanagerin in Berlin. In ihrer Doktorarbeit erforschte sie den Umgang der ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad mit ihrer eigenen Geschichte am historischen Ort der Verbrechen ("Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft" 2022 im Transcript-Verlag).

In den frühen 1960er Jahren reiste ein Laien­pre­diger namens Paul Schäfer mit rund drei­hun­dert Menschen aus Nord­rhein­west­falen nach Chile aus und grün­dete dort eine Sied­lungs­ge­mein­schaft, die sich unter seiner Leitung zu einer regel­rechten Festung entwi­ckelte. Über fünf Jahr­zehnte hinweg verübte die Gruppe syste­ma­ti­sche Verbre­chen, darunter sexua­li­sierte Gewalt an Minder­jäh­rigen, schwere interne Miss­hand­lungen von Grup­pen­mit­glie­dern sowie externe Verbre­chen in Zusam­men­ar­beit mit dem Militär und Geheim­diensten während der chile­ni­schen Diktatur unter Augusto Pino­chets Mili­tär­junta (1973-1990).

Gewalt im Zeichen christ­li­chen Heils

Das bewachte Haupttor zur Colonia Dignidad, Quelle: planet-wissen.de

Die Mitglieder wurden unter dem Deck­mantel christ­li­cher Heils­ver­spre­chen ihrer Frei­heit beraubt, nach Geschlech­tern und Alter getrennt unter­ge­bracht, will­kür­li­cher Gewalt ausge­setzt und ohne Bezah­lung zu schwerer körper­li­cher Arbeit gezwungen. In der Colonia Dignidad wurden außerdem chile­ni­sche poli­ti­sche Gefan­gene entführt, einge­sperrt, verhört, gefol­tert und ermordet. Heute wird ange­nommen, dass sich Spuren von mindes­tens hundert so genannten „Verschwun­denen“ auf dem Sied­lungs­ge­lände verlieren. Darüber hinaus kam es noch in den 1990er Jahren zu struk­tu­reller sexua­li­sierter Gewalt an chile­ni­schen Kindern aus der Umge­bung der Sied­lung im Rahmen ihrer Aufent­halte im so genannten „Inten­siv­in­ternat“ der seit Ende der 1980er Jahre in „Villa Baviera“ (baye­ri­sches Dorf) umge­tauften Siedlung

Der Skandal um die Colonia Dignidad wurde nicht nur durch die Schwere der began­genen Verbre­chen an den eigenen Mitglie­dern und in Koope­ra­tion mit der Mili­tär­dik­tatur unter Pino­chet geprägt, sondern auch durch die Rolle des Auswär­tigen Amtes, das wieder­holt für große Kritik und mediales Aufsehen sorgte. Während des Bestehens der Sied­lungs­ge­mein­schaft wandten sich beispiels­weise einige Menschen, die aus der Colonia Dignidad geflohen waren, an die Botschaft um Hilfe. Doch statt Unter­stüt­zung zu erhalten, wurden einige von ihnen zurück zu ihren Peini­gern geschickt. Diese Vorfälle warfen schwer­wie­gende Fragen zur mora­li­schen Mitver­ant­wor­tung der deut­schen Diplo­matie auf und führten schließ­lich zu einer öffent­li­chen Debatte über das Handeln des Auswär­tigen Amtes. 

Verschleppte Aufar­bei­tung

Das Ende der tota­litär geführten Sied­lungs­ge­mein­schaft wurde gewis­ser­maßen durch den Mut eines kleinen chile­ni­schen Jungen einge­läutet, der die erlit­tene sexua­li­sierte Gewalt durch Paul Schäfer während seines Aufent­haltes in dem oben genannten „Inten­siv­in­ternat“ seiner Mutter mitteilte. Der kleine Cris­tóbal Parada hatte heim­lich einen Zettel aus der Sied­lung geschmug­gelt, auf dem er die von Schäfer began­genen Taten in Worte fasste. Diese Infor­ma­tion führte schließ­lich zu weiteren Ermitt­lungen gegen Schäfer und letzt­end­lich zu dessen Verhaf­tung im Jahr 2005 in Argen­ti­nien. Dorthin war er bereits 1997 geflohen. Im Zuge der Ermitt­lungen wurden neben Paul Schäfer einige seiner engen Verbün­deten zu Haft­strafen verur­teilt. Manche der Täter:innen konnten jedoch nach Deutsch­land fliehen, wo sie bis heute in Sicher­heit leben, da es kein Auslie­fe­rungs­ab­kommen zwischen Chile und Deutsch­land gibt. Die Ermitt­lungen der deut­schen Justiz­be­hörden haben bisher zu keiner Verur­tei­lung geführt, was von Orga­ni­sa­tionen wie dem Euro­pean Center for Consti­tu­tional and Human Rights (ECCHR) immer wieder als Straf­lo­sig­keit bezeichnet wird. 

Anläss­lich der Anhö­rung im Jahr 1988: Ange­hö­rige protes­tieren in Bonn gegen Menschen­rechts­ver­let­zungen in der Colonia Dignidad. Quelle: deutschlandfunkkultur.de

In den letzten Jahren hat die geschichts­kul­tu­relle Ausein­an­der­set­zung mit der Geschichte der Colonia Dignidad einen regel­rechten Boom erlebt. Obwohl es bereits in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre doku­men­ta­ri­sche Annä­he­rungen an das Thema Colonia Dignidad gab, erlangte es erst durch den Spiel­film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ des deut­schen Regis­seurs Florian Gallen­berger große inter­na­tio­nale Bekanntheit.

Die promi­nente Beset­zung der Haupt­rollen mit Welt­stars wie Emma Watson und Daniel Brühl verlieh der Produk­tion und damit dem Thema Colonia Dignidad weitere Aufmerk­sam­keit. Selbst Frank-Walter Stein­meier, damals Bundes­au­ßen­mi­nister, bezeich­nete den Film in einer Rede im Jahr 2016 als „künst­le­ri­schen Anstoß“ für die Aufar­bei­tung der mora­li­schen Mitver­ant­wor­tung des Auswär­tigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad. 

Denn in der obersten Bundes­be­hörde, so Stein­meier, sei den Mitarbeiter:innen die „Orien­tie­rung“ verloren gegangen und sie haben vor allem dort „wegge­schaut“, wo Menschen Hilfe gebraucht hätten. Auf dieses öffent­liche Bekenntnis des dama­ligen Minis­ters folgten einige Maßnahmen, die sich der Aufar­bei­tung der in der Colonia Dignidad began­genen Verbre­chen widmen sollten.

Im Rahmen der Rede kündigte Stein­meier etwa an, die Schutz­frist für die Akten im Poli­ti­schen Archiv um zehn Jahre zu verkürzen, sodass sie der Wissen­schaft und den Medien für die Erfor­schung der Geschichte von Colonia Dignidad zur Verfü­gung stehen. Zusätz­lich beschloss er, das Thema als Unter­richts­ein­heit in die Ausbil­dung von ange­henden Diplomat:innen einzu­führen, um ihnen die Möglich­keit zu geben, aus diesem Fall zu lernen.

Im Jahr 2017 beschlossen Bundestag und Bundes­re­gie­rung schließ­lich einige weitere Aufar­bei­tungs­maß­nahmen. Darunter etwa einma­lige Hilfs­zah­lungen für die Betrof­fenen aus der Colonia Dignidad, ein Pfle­ge­fond im Alter, sowie den Aufbau eines umfas­senden Oral History-Archivs und die Planung eines Gedenk­ortes mit Dokumentationszentrum. 

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Dies ist nur ein Beispiel für die geschichts­kul­tu­rellen Ausein­an­der­set­zungen mit der Colonia Dignidad in den vergan­genen Jahren und zeigt den mögli­chen Einfluss von Kultur auf Geschichts­po­litik. Aller­dings ist die dunkle Geschichte der Colonia Dignidad noch lange nicht histo­risch, juris­tisch, wissen­schaft­lich oder poli­tisch ausrei­chend aufge­ar­beitet. Im Gegen­teil – Betrof­fene von Menschen­rechts­ver­let­zungen und Verbre­chen, Ange­hö­rige von Opfern, Menschenrechtsaktivist:innen, Medienvertreter:innen und Wissenschaftler:innen beklagen eine früh­zei­tige Histo­ri­sie­rung des Themas. Viele leiden noch heute unter den schweren Menschen­rechts­ver­bre­chen, die ihnen in oder durch die Colonia Dignidad wider­fahren sind. Sie kriti­sieren, dass der Blick auf die Vergan­gen­heit das Leid in der Gegen­wart über­schattet und durch eine feti­schi­sierte Fokus­sie­rung auf die grau­samen Verbre­chen der Vergan­gen­heit erneut allein gelassen werden mit den Folgen ihrer Erfah­rungen in der Colonia Dignidad.

Ein deut­sches Erbe

Am histo­ri­schen Ort in Chile befindet sich heute ein Touris­mus­zen­trum mit Events, Hotel­lerie und Gastro­nomie mit baye­ri­schem Marke­ting­kon­zept, das unter dem Namen „Villa Baviera“ beworben wird. Für diese Umge­stal­tung, die ein Teil der heute noch etwa achzig Siedler:innen nach dem Tod Schä­fers im Jahr 2010 schritt­weise aufge­baut haben, ernten sie seither Kritik. So wurde beispiels­weise im ehema­ligen „Zippel­saal“, dem eins­tigen Versamm­lungs­saal und Tatort jahre­langer Demü­ti­gungen und Prügelex­zesse durch Paul Schäfer und Verbün­dete, ein Restau­rant errichtet, in dem baye­ri­sche Speisen wie Schweins­haxe und Sauer­kraut auf der Spei­se­karte stehen und Feiern ausge­richtet werden. 

Große Hinweis­schilder am Stra­ßen­rand versu­chen Touristen in die Villa Baviera zu locken. Quelle: deutschlandradiokultur.de

Insbe­son­dere die Fami­li­en­an­ge­hö­rigen von poli­ti­schen Oppo­si­tio­nellen, die während der Mili­tär­dik­tatur in der Colonia Dignidad „verschwanden“, empfinden es als unan­ge­messen und verstö­rend, dass auf dem Gelände fröh­liche Feste gefeiert werden, während die Gräber ihrer Ange­hö­rigen bis heute nicht voll­ständig loka­li­siert und iden­ti­fi­ziert werden konnten. Für diese Fami­lien stellt die Unge­wiss­heit über den Verbleib ihrer Ange­hö­rigen eine schmerz­liche Realität dar, die durch die Umge­stal­tung und die fest­li­chen Akti­vi­täten an den ehema­ligen Tatorten der Verbre­chen weiter betont wird. Die Fami­lien beklagen eine fehlende Aner­ken­nung und Würdi­gung der Opfer sowie einen Mangel an Respekt und Gedenken an ihre verstor­benen Ange­hö­rigen, die in der Colonia Dignidad ihr Leben verloren haben.

Die Betreiber:innen dieses deut­schen Touris­mus­kon­zeptes fühlen sich zu Unrecht kriti­siert. Sie sehen in der Umge­stal­tung des eins­tigen Ortes der Verbre­chen ihre Chance, den eigenen Lebens­un­ter­halt zu sichern, während sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Es gibt also unter­schied­liche Perspek­tiven und Meinungen inner­halb der Gemein­schaft der ehema­ligen Bewohner:innen und weiteren Betrof­fenen von Menschen­rechts­ver­let­zungen durch die Colonia Dignidad hinsicht­lich der Umge­stal­tung und Nutzung des Ortes.

Um diese unter­schied­li­chen Posi­tionen und Narra­tive mitein­ander in produk­tiven Austausch zu bringen, arbeiten Gedenkstättenexpert:innen unter der Leitung der Histo­ri­kerin Elke Gryglewski seit einigen Jahren im Rahmen von Dialog­ver­an­stal­tungen am gegen­sei­tigen Verständnis bei den Betrof­fenen. Es ist ihnen gelungen, die sehr unter­schied­li­chen Personen mitein­ander ins Gespräch zu bringen und schließ­lich in einer vom Auswär­tigen Amt beru­fenen bila­te­ralen Kommis­sion ein Konzept für eine Gedenk­stätte zu entwi­ckeln, das sowohl Doku­men­ta­tion, Gedenken als auch Demo­kra­tie­bil­dung vereint. Im Jahr 2022 wurde das zustän­dige Expert:innenteam vom Auswär­tigen Amt aus unbe­kannten Gründen abbe­rufen, obwohl das fertige Konzept vorliegt und alle Betrof­fenen seit Jahren auf die Umset­zung warten. 

Gedenk­ta­feln an den einzelnen Gebäuden auf dem Sied­lungs­ge­lände, wie sie zuletzt geplant wurden, markieren schon mal einen ersten Schritt hin zu einem ange­mes­senen Gedenken an diesem histo­ri­schen Ort der Verbre­chen. Aller­dings besteht auch die Gefahr, dass diese Gedenk­ta­feln einen Abschluss der Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema und damit einen Schluss­strich unter dem dunklen Kapitel der Colonia Dignidad einläuten. Eine leben­dige Erin­ne­rungs­kultur erfor­dert eine leben­dige Gedenk­stätte, die Raum für Doku­men­ta­tion, die Ausein­an­der­set­zung mit demo­kra­ti­schen Werten und ein würde­volles Gedenken der Opfer ermög­licht. Das Sied­lungs­ge­lände liegt abge­legen von umlie­genden Dörfern und Infra­struktur in den Wäldern. Wenn der Ort nicht lang­fristig als Gedenk­stätte umge­staltet wird, besteht die Gefahr, dass er mit der aktu­ellen Gene­ra­tion von Betreiber:innen in Verges­sen­heit gerät und einschläft. Dies würde bedeuten, dass nicht nur die Straf­lo­sig­keit der Täter:innen aufgrund von Alte­rungs­pro­zessen, sondern auch das Vergessen der Opfer fort­be­stehen würde. Eine Geschichte von solch dunklem Ausmaß, die so viele Opfer gefor­dert hat, darf nicht sich selbst über­lassen werden. Dieje­nigen, die Verant­wor­tung tragen, müssen handeln, um sicher­zu­stellen, dass wir als Gesell­schaft nicht vergessen, sondern aus unseren Taten lernen, um solche Struk­turen früh­zeitig zu erkennen und zu bekämpfen.