In den frühen 1960er Jahren reiste ein Laienprediger namens Paul Schäfer mit rund dreihundert Menschen aus Nordrheinwestfalen nach Chile aus und gründete dort eine Siedlungsgemeinschaft, die sich unter seiner Leitung zu einer regelrechten Festung entwickelte. Über fünf Jahrzehnte hinweg verübte die Gruppe systematische Verbrechen, darunter sexualisierte Gewalt an Minderjährigen, schwere interne Misshandlungen von Gruppenmitgliedern sowie externe Verbrechen in Zusammenarbeit mit dem Militär und Geheimdiensten während der chilenischen Diktatur unter Augusto Pinochets Militärjunta (1973-1990).
Gewalt im Zeichen christlichen Heils

Das bewachte Haupttor zur Colonia Dignidad, Quelle: planet-wissen.de
Die Mitglieder wurden unter dem Deckmantel christlicher Heilsversprechen ihrer Freiheit beraubt, nach Geschlechtern und Alter getrennt untergebracht, willkürlicher Gewalt ausgesetzt und ohne Bezahlung zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen. In der Colonia Dignidad wurden außerdem chilenische politische Gefangene entführt, eingesperrt, verhört, gefoltert und ermordet. Heute wird angenommen, dass sich Spuren von mindestens hundert so genannten „Verschwundenen“ auf dem Siedlungsgelände verlieren. Darüber hinaus kam es noch in den 1990er Jahren zu struktureller sexualisierter Gewalt an chilenischen Kindern aus der Umgebung der Siedlung im Rahmen ihrer Aufenthalte im so genannten „Intensivinternat“ der seit Ende der 1980er Jahre in „Villa Baviera“ (bayerisches Dorf) umgetauften Siedlung
Der Skandal um die Colonia Dignidad wurde nicht nur durch die Schwere der begangenen Verbrechen an den eigenen Mitgliedern und in Kooperation mit der Militärdiktatur unter Pinochet geprägt, sondern auch durch die Rolle des Auswärtigen Amtes, das wiederholt für große Kritik und mediales Aufsehen sorgte. Während des Bestehens der Siedlungsgemeinschaft wandten sich beispielsweise einige Menschen, die aus der Colonia Dignidad geflohen waren, an die Botschaft um Hilfe. Doch statt Unterstützung zu erhalten, wurden einige von ihnen zurück zu ihren Peinigern geschickt. Diese Vorfälle warfen schwerwiegende Fragen zur moralischen Mitverantwortung der deutschen Diplomatie auf und führten schließlich zu einer öffentlichen Debatte über das Handeln des Auswärtigen Amtes.
Verschleppte Aufarbeitung
Das Ende der totalitär geführten Siedlungsgemeinschaft wurde gewissermaßen durch den Mut eines kleinen chilenischen Jungen eingeläutet, der die erlittene sexualisierte Gewalt durch Paul Schäfer während seines Aufenthaltes in dem oben genannten „Intensivinternat“ seiner Mutter mitteilte. Der kleine Cristóbal Parada hatte heimlich einen Zettel aus der Siedlung geschmuggelt, auf dem er die von Schäfer begangenen Taten in Worte fasste. Diese Information führte schließlich zu weiteren Ermittlungen gegen Schäfer und letztendlich zu dessen Verhaftung im Jahr 2005 in Argentinien. Dorthin war er bereits 1997 geflohen. Im Zuge der Ermittlungen wurden neben Paul Schäfer einige seiner engen Verbündeten zu Haftstrafen verurteilt. Manche der Täter:innen konnten jedoch nach Deutschland fliehen, wo sie bis heute in Sicherheit leben, da es kein Auslieferungsabkommen zwischen Chile und Deutschland gibt. Die Ermittlungen der deutschen Justizbehörden haben bisher zu keiner Verurteilung geführt, was von Organisationen wie dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) immer wieder als Straflosigkeit bezeichnet wird.

Anlässlich der Anhörung im Jahr 1988: Angehörige protestieren in Bonn gegen Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad. Quelle: deutschlandfunkkultur.de
In den letzten Jahren hat die geschichtskulturelle Auseinandersetzung mit der Geschichte der Colonia Dignidad einen regelrechten Boom erlebt. Obwohl es bereits in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre dokumentarische Annäherungen an das Thema Colonia Dignidad gab, erlangte es erst durch den Spielfilm „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ des deutschen Regisseurs Florian Gallenberger große internationale Bekanntheit.
Die prominente Besetzung der Hauptrollen mit Weltstars wie Emma Watson und Daniel Brühl verlieh der Produktion und damit dem Thema Colonia Dignidad weitere Aufmerksamkeit. Selbst Frank-Walter Steinmeier, damals Bundesaußenminister, bezeichnete den Film in einer Rede im Jahr 2016 als „künstlerischen Anstoß“ für die Aufarbeitung der moralischen Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes in der Geschichte der Colonia Dignidad.
Denn in der obersten Bundesbehörde, so Steinmeier, sei den Mitarbeiter:innen die „Orientierung“ verloren gegangen und sie haben vor allem dort „weggeschaut“, wo Menschen Hilfe gebraucht hätten. Auf dieses öffentliche Bekenntnis des damaligen Ministers folgten einige Maßnahmen, die sich der Aufarbeitung der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen widmen sollten.
Im Rahmen der Rede kündigte Steinmeier etwa an, die Schutzfrist für die Akten im Politischen Archiv um zehn Jahre zu verkürzen, sodass sie der Wissenschaft und den Medien für die Erforschung der Geschichte von Colonia Dignidad zur Verfügung stehen. Zusätzlich beschloss er, das Thema als Unterrichtseinheit in die Ausbildung von angehenden Diplomat:innen einzuführen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, aus diesem Fall zu lernen.
Im Jahr 2017 beschlossen Bundestag und Bundesregierung schließlich einige weitere Aufarbeitungsmaßnahmen. Darunter etwa einmalige Hilfszahlungen für die Betroffenen aus der Colonia Dignidad, ein Pflegefond im Alter, sowie den Aufbau eines umfassenden Oral History-Archivs und die Planung eines Gedenkortes mit Dokumentationszentrum.
Dies ist nur ein Beispiel für die geschichtskulturellen Auseinandersetzungen mit der Colonia Dignidad in den vergangenen Jahren und zeigt den möglichen Einfluss von Kultur auf Geschichtspolitik. Allerdings ist die dunkle Geschichte der Colonia Dignidad noch lange nicht historisch, juristisch, wissenschaftlich oder politisch ausreichend aufgearbeitet. Im Gegenteil – Betroffene von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, Angehörige von Opfern, Menschenrechtsaktivist:innen, Medienvertreter:innen und Wissenschaftler:innen beklagen eine frühzeitige Historisierung des Themas. Viele leiden noch heute unter den schweren Menschenrechtsverbrechen, die ihnen in oder durch die Colonia Dignidad widerfahren sind. Sie kritisieren, dass der Blick auf die Vergangenheit das Leid in der Gegenwart überschattet und durch eine fetischisierte Fokussierung auf die grausamen Verbrechen der Vergangenheit erneut allein gelassen werden mit den Folgen ihrer Erfahrungen in der Colonia Dignidad.
Ein deutsches Erbe
Am historischen Ort in Chile befindet sich heute ein Tourismuszentrum mit Events, Hotellerie und Gastronomie mit bayerischem Marketingkonzept, das unter dem Namen „Villa Baviera“ beworben wird. Für diese Umgestaltung, die ein Teil der heute noch etwa achzig Siedler:innen nach dem Tod Schäfers im Jahr 2010 schrittweise aufgebaut haben, ernten sie seither Kritik. So wurde beispielsweise im ehemaligen „Zippelsaal“, dem einstigen Versammlungssaal und Tatort jahrelanger Demütigungen und Prügelexzesse durch Paul Schäfer und Verbündete, ein Restaurant errichtet, in dem bayerische Speisen wie Schweinshaxe und Sauerkraut auf der Speisekarte stehen und Feiern ausgerichtet werden.

Große Hinweisschilder am Straßenrand versuchen Touristen in die Villa Baviera zu locken. Quelle: deutschlandradiokultur.de
Insbesondere die Familienangehörigen von politischen Oppositionellen, die während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad „verschwanden“, empfinden es als unangemessen und verstörend, dass auf dem Gelände fröhliche Feste gefeiert werden, während die Gräber ihrer Angehörigen bis heute nicht vollständig lokalisiert und identifiziert werden konnten. Für diese Familien stellt die Ungewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen eine schmerzliche Realität dar, die durch die Umgestaltung und die festlichen Aktivitäten an den ehemaligen Tatorten der Verbrechen weiter betont wird. Die Familien beklagen eine fehlende Anerkennung und Würdigung der Opfer sowie einen Mangel an Respekt und Gedenken an ihre verstorbenen Angehörigen, die in der Colonia Dignidad ihr Leben verloren haben.
Die Betreiber:innen dieses deutschen Tourismuskonzeptes fühlen sich zu Unrecht kritisiert. Sie sehen in der Umgestaltung des einstigen Ortes der Verbrechen ihre Chance, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, während sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Es gibt also unterschiedliche Perspektiven und Meinungen innerhalb der Gemeinschaft der ehemaligen Bewohner:innen und weiteren Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen durch die Colonia Dignidad hinsichtlich der Umgestaltung und Nutzung des Ortes.
Um diese unterschiedlichen Positionen und Narrative miteinander in produktiven Austausch zu bringen, arbeiten Gedenkstättenexpert:innen unter der Leitung der Historikerin Elke Gryglewski seit einigen Jahren im Rahmen von Dialogveranstaltungen am gegenseitigen Verständnis bei den Betroffenen. Es ist ihnen gelungen, die sehr unterschiedlichen Personen miteinander ins Gespräch zu bringen und schließlich in einer vom Auswärtigen Amt berufenen bilateralen Kommission ein Konzept für eine Gedenkstätte zu entwickeln, das sowohl Dokumentation, Gedenken als auch Demokratiebildung vereint. Im Jahr 2022 wurde das zuständige Expert:innenteam vom Auswärtigen Amt aus unbekannten Gründen abberufen, obwohl das fertige Konzept vorliegt und alle Betroffenen seit Jahren auf die Umsetzung warten.
Gedenktafeln an den einzelnen Gebäuden auf dem Siedlungsgelände, wie sie zuletzt geplant wurden, markieren schon mal einen ersten Schritt hin zu einem angemessenen Gedenken an diesem historischen Ort der Verbrechen. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass diese Gedenktafeln einen Abschluss der Auseinandersetzung mit dem Thema und damit einen Schlussstrich unter dem dunklen Kapitel der Colonia Dignidad einläuten. Eine lebendige Erinnerungskultur erfordert eine lebendige Gedenkstätte, die Raum für Dokumentation, die Auseinandersetzung mit demokratischen Werten und ein würdevolles Gedenken der Opfer ermöglicht. Das Siedlungsgelände liegt abgelegen von umliegenden Dörfern und Infrastruktur in den Wäldern. Wenn der Ort nicht langfristig als Gedenkstätte umgestaltet wird, besteht die Gefahr, dass er mit der aktuellen Generation von Betreiber:innen in Vergessenheit gerät und einschläft. Dies würde bedeuten, dass nicht nur die Straflosigkeit der Täter:innen aufgrund von Alterungsprozessen, sondern auch das Vergessen der Opfer fortbestehen würde. Eine Geschichte von solch dunklem Ausmaß, die so viele Opfer gefordert hat, darf nicht sich selbst überlassen werden. Diejenigen, die Verantwortung tragen, müssen handeln, um sicherzustellen, dass wir als Gesellschaft nicht vergessen, sondern aus unseren Taten lernen, um solche Strukturen frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen.