Vor wenigen Tagen starb der Architekturtheoretiker Charles Jencks, der 1977 der modernen Architektur den offiziellen Totenschein ausgestellt und die Rede von der „postmodernen Architektur“ begründet hatte. Obwohl ihrerseits nun schon längst wieder totgesagt, hat Jencks' „Postmoderne“ das Gesicht der Städte weltweit verändert.

Runde Fenster, zentral­sym­me­trisch auf einer Fassade plat­ziert, die wie Blend­werk wirkt und über­dies mit verschie­den­far­bigem Stein deko­riert ist, dazu Giebel, gar Säulen oder sons­tige Elemente längst vergan­gener Baustile, die in tech­no­lo­gisch modernste Gebäude inte­griert oder viel­mehr auf ihre tragenden Struk­turen aufge­setzt werden: Das Spek­trum von gebauter Umwelt, die sich auf diese Weise von der Archi­tektur der „klas­si­schen“ Moderne distan­ziert oder zu distan­zieren versucht, ist breit – und omnipräsent.

Sainsbury-Wing der National Gallery in London, Robert Venturi, Denise Scott Brown (1991), Quelle: vsba.com

Es reicht von schä­bigen Gewer­be­bauten mit türkis­far­bigen, romben­artig auf den Spitz gestellten Fens­ter­chen irgendwo in der Provinz bis hin zu archi­tek­to­ni­schen Meis­ter­werken wie dem „Sainsbury-Wing“ der National Gallery in Londen, erbaut von Robert Venturi und Denise Scott Brown 1991, wo korin­thi­sche Säulen als Zitat des klas­si­zis­ti­schen Zitats auf dem Altbau der National Gallery oder auch ein paar wie zufällig hinge­streute, nur im Beton als Relief ange­deu­tete „tradi­tio­nelle“ Fenster neben „modernen“, klar geschnit­tenen Öffnungen den Gebäu­de­körper strukturieren.

Obwohl die Theo­re­tiker der post­mo­dernen Archi­tektur mit einem solchen Mix aus Zeichen und Zitaten den Anspruch verbanden, Archi­tektur auf diese Weise wieder verständ­lich zu machen, stellt sich jetzt, mit doch schon einigen Jahren Abstand die Frage, wie sie verstanden werden kann.

Der Toten­schein

Die „nach-moderne“ Archi­tektur entsteht, wie der Begriff der Post­mo­derne über­haupt, in Ausein­an­der­set­zung mit und in Abset­zung von der „klas­si­schen“ Moderne, die im Feld der Archi­tektur exem­pla­risch von Le Corbu­sier, Mies van der Rohe und Walter Gropius formu­liert – und gebaut – wurde. Le Corbu­sier verstand sich als Erbe und Voll­ender des modernen Zeit­al­ters strenger, auf Mathe­matik gestützter und an geome­tri­schen Idealen ausge­rich­teter Ratio­na­lität. Mit Blick auf das für ihn allge­mein­gül­tige Modell der „Maschine“ und geprägt von deren zeit­ge­nös­si­scher Form als Fliess­band in den Auto­mo­bil­fa­briken von Henry Ford, forderte er 1922 nicht nur „Häuser im Seri­enbau“, sondern auch die Entwick­lung der „geis­tigen Voraus­set­zungen für das Bewohnen von Seri­en­häu­sern“. 15m2 pro Person und die Einheit­lich­keit der Baukörper als rein funk­tio­nale, kubi­sche Formen, die an den Postu­laten hygie­ni­scher Beleuch­tung und Durch­lüf­tung ausge­richtet waren: Mehr als dies sollte Archi­tektur nicht mehr ins Auge fassen.

Auch Walter Gropius, 1919 Begründer des Bauhauses in Weimer, postu­lierte „die Befreiung der Baukunst vom Wust des Deko­ra­tiven“ und „die Besin­nung auf die Funk­tion.“ Davon leitete sich die Forde­rung nach der „Stan­dar­di­sie­rung“ des Bauens und der gebauten Formen ab, da „die Wieder­ho­lung glei­cher Formen für gleiche Zwecke einen beru­hi­genden, zivi­li­sie­renden Einfluss auf den Menschen“ ausübe. Die Hoch­häuser, die Mies van der Rohe vor allem in den USA errich­tete, verwirk­lichten mit der recht­eckigen Form ihrer riesigen Baukörper und ihren scheinbar rein funk­tio­nalen „Fens­ter­bän­dern“ eine, wie Le Corbu­sier postu­liert hatte, inge­nieur­mäs­sige Reduk­tion der archi­tek­to­ni­schen Gestal­tung auf maxi­male Effi­zienz bei mini­malen Kosten. Sie waren gebaute Mani­fes­ta­tionen dieses Programms und Vorbild für unzäh­lige Archi­tekten oder auch einfach Gene­ral­planer und Bauherren weltweit.

Das Pruitt-Igoe-Wohngebiet in St. Louis mit 2.800 Sozi­al­woh­nungen bei der Spren­gung 1972, Archi­tekt: Minoru Yama­saki, .Quelle: dailymail.co.uk

Diese Archi­tektur reali­sierte sich nach dem Zweiten Welt­krieg bis in die 1960er Jahre nicht nur in den Plat­ten­bauten Osteu­ropas, sondern auch im durchaus glän­zen­deren „Inter­na­tional Style“ unzäh­liger Büro­ge­bäude, Hotels und privater Wohn­häuser des Westens, schliess­lich aber auch im Seri­enbau von gesichts­losen Wohn­silos und „Projects“ (wie die Sozi­al­bauten in den USA heissen). In den 1970er Jahren hatte diese Bau- und Denk­form ihren Zenit über­schritten. Es war die Spren­gung einer ganzen Serie von solchen viel­stö­ckigen, herun­ter­ge­kom­menen Wohn­blocks des Pruitt Igoe Housing Project in St. Louis, Missouri, am 15. Juli 1972 um halb vier Uhr nach­mit­tags, die Charles Jencks als „Todes­stunde“ der modernen Archi­tektur bezeich­nete; den entspre­chenden Toten­schein stellte er der Moderne 1977 in seinem Buch The Language of Post-Modern Archi­tec­ture aus.

Archi­tektur als Sprache

Schon dieser Titel war überaus signi­fi­kant: Archi­tektur hat eine „Sprache“, sie „kommu­ni­ziert“, wie Jencks sagte, sie verwendet „Meta­phern“, bildet mit ihren „Wörtern“ „Sätze“, folgt einer „Syntax“, besitzt eine „Semantik“ – ebenso, wie die Gram­matik und die Bedeu­tungs­re­geln der gepro­chenen oder geschrie­benen Sprache. Jencks war nicht der erste, der auf diese Weise über Archi­tektur sprach. Dass Archi­tektur „zeichen­haft“ sein kann, dass sie Bedeu­tungen trans­por­tiert und einem bestimmten Stil (also Syntax und Semantik, so to speak) folgt, war im Grunde ein alter Hut. Die Pointe aller­dings war, dass genau das von den Heroen der Modernen Archi­tektur bestritten worden war. Das Ideal Le Corbu­siers – verwirk­licht bis in seinen eigenen Künst­ler­namen hinein – war die Konstruk­tion von Kuben, die streng „funk­tional“ sein sollten und eben keinem Stil mehr folgten. „‚Stile‘ sind Lüge“, hatte der Meister 1922 deklariert.

Jencks „Thematic House“ in London, Kensington, das von ihm in Zusam­men­ar­beit mit Terry Farrell und Michael Graves entworfen wurde, Quelle: museandmaker.com

Die Kritik an dieser Sicht­weise wurde wahr­schein­lich zuerst 1967 vom briti­schen Archi­tek­tur­theo­re­tiker Alan Colquhoun formu­liert. Er bezog sich auf den Struk­tu­ra­lismus von Claude Lévy-Strauss und argu­men­tierte, dass alle mensch­liche Tätig­keit und damit eben auch Archi­tektur immer schon von Zeichen und Bedeu­tungen bestimmt sei, die „immer schon“ da sind und die „Tradi­tion“ einer bestimmten Bedeu­tung, einer bestimmten Art des Spre­chens und Kommu­ni­zie­rens vorgeben (was nicht heisst, dass sie nicht auch verän­dert werden könnten). Colquhoun sah im „Funk­tio­na­lismus“ der Moderne ein schlichtes Miss­ver­ständnis: Er trete zwar als „bio-technischer Deter­mi­nismus“ auf – was sich darauf bezog, dass Le Corbu­sier seine archi­tek­to­ni­schen Propor­tionen und Funk­tionen vom mensch­li­chen Körper ablei­tete –, aber in Wahr­heit sei eben keine Form je „rein funk­tional“, sondern immer schon Teil einer Tradi­tion und inso­fern kulturell.

Robert Venturi und Denis Scott Brown, die Colquhoun in ihrem extrem einfluss­rei­chen Buch Lear­ning from Las Vegas von 1977 eben­falls zitierten, zeigten dann ausfüh­lich – und durchaus genüss­lich –, dass die Modernen nicht einfach die Funk­tion, sondern viel genauer noch den Stil von Fabrik­bauten immi­tierten und damit genauso einer kultu­rellen Form folgten wie irgend ein Archi­tekt des Klas­si­zismus oder des Neo-Barock des 19. Jahrhunderts.

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Die Nega­tion dieser „symbo­li­schen“ Zeichen­funk­tion der Archi­tektur hat nach Venturi und Scott Brown den Effekt, dass der nur schein­bare Funk­tio­na­lismus eben nicht „beru­hi­gend“ wirke, wie Gropius meinte. Wie auch Charles Jencks immer wieder sagte, wirke er viel­mehr „elitär“: als Stil einer inter­na­tio­nalen Elite, der von der breiten Bevöl­ke­rung nicht mehr „gelesen“ bzw. verstanden werden könne. Oder viel­mehr: Er werde genau als das verstanden, was seine Glas­pa­läste und „bruta­lis­ti­schen“ Beton-Funktionsbauten in Wahr­heit seien: eben schlicht „Meta­phern“ für die kalte Macht der Banken und staat­li­chen Verwal­tungen, die sich hinter ihren Fassaden verberge.

Im Zeichen der Postmoderne

Doch was sollte nun die Alter­na­tive sein, und woher sollte sie kommen? Ein wich­tiges Stich­wort ist schon gefallen: „Tradi­tion“. Sowohl Venturi und Denis Scott Brown als mit grossem Nach­druck auch Charles Jencks haben betont, dass post­mo­derne Gebäude eine Viel­zahl von Elementen aus der archi­tek­to­ni­schen Tradi­tion seit der grie­chi­schen und römi­schen Antike bis zu den „Neo“-Stilen des 19. Jahr­hun­derts enthalten und zitieren sollen, um auf diese Weise, gera­dezu mit einem bewussten Über­an­gebot von Zeichen, eine breite und viel­fäl­tige „Lesbar­keit“ gebauter Formen zu ermög­li­chen: „Der Archi­tekt“, so Jencks, „muss sein Gebäude über­co­dieren [over­code] und dabei den Über­fluss von popu­lären Zeichen und Meta­phern verwenden“.

Zur Erläu­te­rung führte Jencks einen beson­ders spre­chenden Vergleich vor: Auf der einen Seite des Vergleichs steht das „House III“ von Peter Eisenman aus dem Jahr 1971, das dieser aus einer streng geome­tri­schen, von der Würfel­form ausge­henden formalen Recherche heraus entwi­ckelte.  Auf der anderen Seite ein „hand­made house“ von Hippies an der kali­for­ni­schen West­küste eben­falls aus den frühen 1970er Jahren. Während der kalte, elitäre Bau Eisen­mans nur „für ihn“, wie Jenck betonte, seinen eigenen, sehr intel­lek­tullen Gestal­tungs­pro­zess reflek­tiere – „wie verlo­ckend, wie banal“, höhnte Jencks –, basiere die Holz­kon­struk­tion des hand­made house auf einer tradi­tio­nellen Technik, verwende tradi­tio­nelle Mate­rialen und kombi­niere vorge­fun­dene Elemente wie Fenster und Türen in einer ready-made-Weise. Dies gebe einem solchen Haus „a richer reson­nance of meaning“, eine reichere, viel­fäl­tiger Palette von Bedeu­tung und Sinn für seine Bewohner*innen und Betrachter*innen.

Innen­an­sicht von Jencks „Thematic House“ in London, Quelle: museandmaker.com

Mit diesem „erfreu­li­chen Spiel der Bedeu­tungs­stif­tung“, diesem Spiel mit verschie­denen, einander über­la­gernden Bedeu­tungen, sollte nicht nur der Funk­tio­na­lismus der Moderne zurück­ge­wiesen werden. Viel­mehr ging es auch dezi­diert darum, Hoch- und Popkultur, high and low, mit Lust zu mischen, und zwar explizit ohne Angst vor schlechtem Geschmack, ja gar vor dem „Häss­li­chen“. Es ist wohl kein Zufall, dass David Bowie zur glei­chen Zeit bewusst zwischen Trash und Kunst schwankte oder, einige Jahre zuvor schon, Andy Warhol Suppen­dosen gemalt hatte – oder eben Denis Scott Brown und Robert Venturi die zeichen­hafte, dabei aber überaus popu­läre trash-Archi­tektur von Las Vegas feierten.

„Post­mo­dern“ ist demnach dieses Pastiche, dieses Zitieren und Kombi­nieren von Zeichen und Stilen, aber auch, nicht zu über­sehen, die Abkehr vom modernen Glauben an die nach dem Muster indus­tri­eller Ratio­na­lität gestalt­bare Zukunft und markiert folg­lich die Rück­wen­dung in die Requi­si­ten­kammer, zum Fundus der Vergan­gen­heit. Was diese Haltung von einer konser­va­tiven, ja reak­tio­nären Geste unter­scheidet, ist genau dieses Kombi­nieren und Zitieren, das auf der Über­zeu­gung basiert, dass es kein einheit­li­ches, stabi­lies Ganzes mehr geben könne, an das jeder Konser­va­tive noch glaubt und zu dem jeder Reak­tionär seit den Tagen der ersten Reak­tion auf die Fran­zö­si­sche Revo­lu­tion wieder zurück­kehren möchte: eine stabile Ordnung der Herrschaft.

Die Gebäude, die Jencks feierte – und auch sein eigenes Wohn­haus in London – schwelgten zwar gewis­ser­massen in den Zeichen des Vergan­genen, aber nicht in der Vergan­gen­heit, und sie beschworen schon gar keine stabile Ordnung. Viel­mehr bezog Jencks sich zum Beispiel auf das hybride Bauwerk der Gebrüder Pass­a­relli in Mailand, das drei verschie­dene Stile und „Funk­tionen“ verei­nigt, und nannte es in posi­tiver Konno­ta­tion und program­ma­tisch „schi­zo­phren“ (ich weiss nicht, ob in Anklang an den Anti-Oedipus von Deleuze und Guat­tari von 1973 oder nicht).

Maggie’s Centers und der Garden of Speculation

Charles Jencks war nicht nur Archi­tek­tur­theo­re­tiker. In Erin­ne­rung an seine jahre­lang an Krebs erkrankte und an der Krank­heit auch verstor­bene zweite Frau Maggie Keswick, grün­dete er eine Stif­tung zum Bau und Betrieb von Hospizen für Krebs­kranke – und lud seine berühmten Archi­tek­ten­freunde wie Norman Foster, Frank Geery oder Rem Kohl­haas und viele andere dazu ein, je ein solches „Centre“ zu bauen. Und in einer eigent­li­chen zweiten Karriere schliess­lich wurde Jencks, der ursprüng­lich in Harvard engli­sche Lite­ratur studiert hatte, dann auch noch zum Land­schafts­ar­chi­tekten, der eine Reihe von spek­ta­ku­lären Garten­an­lagen in England und Schott­land realisierte.

Charles Jencks (21. Juni 1939 –13. Oktober 2019), Quelle: wikipedia

Es war wohl kein Zufall für einen Post­mo­dernen, dass er sie unter das Thema der „kosmi­schen Speku­la­tion“ stellte und mit der Frage nach der Stel­lung des Menschen im „Kosmos“ verband. Genauso wie Le Corbu­sier bei allem Funk­tio­na­lismus recht unver­mit­telt auf den „Geist“ und die Frei­heit des Künst­lers beharrte (was so etwas wie ein Gegen­ge­wicht, einen Ausgleich gegen die Denkungsart des Inge­nieurs bilden sollte), bildeten für Jencks als Theo­re­tiker der Post­mo­derne, der die Ganzheits- und Funk­ti­ons­phan­tasmen der Moderne atta­kierte, mögli­cher­weise – ich speku­liere – der „Kosmos“ und die Einbet­tung des Menschen ins „Universum“ einen solchen Ausgleich, eine solche Kompen­sa­tion. Er wäre damit jeden­falls nicht alleine gewesen. Und es wäre dies auch ein Hinweis darauf, wie schwer die Post­mo­derne es hatte und hat, ihre eigene Brüchig­keit und Nicht-Ganzheit aus- und durchzuhalten.