
1972 hat Friedrich Christian Delius ein großartiges Buch mit dem Titel Unsere Siemens-Welt geschrieben, ein Buch, von dem man damals gar nicht recht wusste, was es denn sein sollte. Das war kein Roman, keine Dokumentation, keine Parodie, keine Satire, sondern eher alles gleichzeitig. Delius hatte eine Festschrift für die Firma Siemens zum 125-jährigen Jubiläum verfasst. Eine Festschrift, um die ihn allerdings niemand gebeten hatte, schon gar nicht Siemens. Seine Idee war es, ein Unternehmen und den Zusammenhang von Kapitalismus und Geschichte zu untersuchen, die Wahl von Siemens geschah eher zufällig.
In seiner Festschrift, so beschreibt er es in seinen Erinnerungen, „rühmt er besinnungslos“ die „Geschichte und Aktivitäten des Konzerns“ und „plaudert“ in seinem „Eifer auch vieles aus“, „was in Festschriften normalerweise verschwiegen wird“ − zum Beispiel die Verbindungen mit dem nationalsozialistischen System und ihre fehlende Aufarbeitung bis dato in der Bundesrepublik. Er schreibt enthusiastisch darüber, wie Siemens z.B. in der „Weimarer Republik Notstandsverordnungen anregte“, „die die Ängste der breiten Masse vergrößerten und diese für das Ideengut der NSDAP empfänglich gemacht haben“, oder er schildert allzu normalisierend, wie Siemens „mehrere Firmen-Lager“ betrieb, „die oft mit KZ’s verwechselt wurden“. Und er beschreibt beschönigend, wie es in diesen Lagern zuging.
So beherbergte das Lager Berlin-Haselhorst etwa 2500 Menschen, darunter Kinder im Alter von 10-14 Jahren, meist Ausländer, zu denen das Siemenssche Aufsichtspersonal jedoch ein ganz erträgliches Verhältnis hatte. Den Häftlingen ging es nicht wesentlich schlechter als bei anderen Firmen, sie verrichteten schwerste Arbeiten und konnten oft nur mit verfaulten Nahrungsmitteln durchgebracht werden. Jeden Monat wurden die jeweils 100 Schwächsten zwecks anderweitiger Verwendung ins KZ Sachsenhausen überführt.
In anderer Leute Köpfe denken
Es ist nicht so, dass Delius die Festschrift ohne Rahmung oder Vorwarnung publiziert hätte. Schon im ersten Textabschnitt, betitelt mit „Zum Geleit“, warnte er die Leserinnen: „Das vorliegende Buch ist weder von der Siemens AG autorisiert noch in ihrer Verantwortung geschrieben. Es handelt sich vielmehr um einen freiwilligen Festbeitrag eines freien Siemensforschers zum 125-jährigen Bestehen dieses Unternehmens.“ Es war der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der später den Begriff ‚Dokumentarsatire‘ vorschlug und Delius’ Sprechen mit dem von Schwejk verglich, der – „begeistert – wörtlich die dümmsten Propagandalosungen“ wiederholt, die er „eben dadurch zerstört“ bzw. ruiniert.
Am Ende des Buches folgt ein Abschnitt: „Bemerkungen zur Methode“, in dem Delius sein Verfahren in Anlehnung an Brecht erklärt: „Das methodische Prinzip dieser Festschrift ist die Nachahmung, die politische und literarische ‚Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken‘ (Brecht).“ Das Denken in den Köpfen anderer hatte schon Walter Benjamin in seinem Essay „Der Autor als Produzent“ (1934) verwendet. Bei Benjamin stand es wie auch bei Brecht für die Fähigkeit zum politischen Denken, für die Fähigkeit, dem anderen sich selbst vorzuführen, d.h. ihm den Spiegel vorzuhalten. Delius zum Beispiel denkt ganz und gar in den Köpfen der Unternehmer, Manager, PR-Berater und Kommunikationsstrategen der Siemens AG mit dem Zweck, „die Sprache der raffinierten Selbstrechtfertigung als Herrschaftstechnik zu durchschauen“.
Es ist aber nicht nur der durch die Politik des Nationalsozialismus erwirtschaftete Profit, den Delius in der Festschrift ‚feiernd‘ kritisiert, sondern auch die umgangene Entnazifizierung nach 1945. Ironisch schreibt Delius:
Die Bewältigung der Vergangenheit lief nicht immer so reibungslos ab. In Berlin hatten die ehemaligen Wehrwirtschaftsführer von Witzleben und Berkert einen besonders schweren Stand. Der eine, weil er Personalchef und Chef der politischen Abwehr im Hause gewesen war. Der andere, weil er sich unvorsichtigerweise bis zum bittren Ende für den ‚totalen Krieg bis zum totalen Sieg‘ eingesetzt hatte und Verbindungsmann zur SS war. Beide wurden 1946 von der entsprechenden Kommission nicht ‚entnazifiziert‘, obschon sie wieder die Verantwortung über eine vieltausendköpfige Belegschaft hatten und sich zur Demokratie bekannten. Als es daraufhin zu Unruhen kam, gelang es ihnen jedoch, an die politische Reife des Betriebsrats zu appellieren und das Heft in der Hand zu behalten.
Es ging Delius also nicht nur darum, Fakten über Wirtschaftsunternehmen und die Naziherrschaft rhetorisch so zu polieren, dass man die Politur sieht, sondern auch darum, die Rhetorik der Aufarbeitung zu kritisieren. Delius parodiert diese Rhetorik, wenn er schreibt, dass der „Appell an die politische Reife“ es ermögliche, „das Heft in der Hand zu behalten“. So kann man lesen, wie es sich anhört, wenn man versucht, den künftigen Diskurs zu bestimmen, in dem es als „politische Reife“ gelten könnte, sich die weitere Entnazifizierung zu ersparen.
Dass Delius dabei nicht nur „Selbstrechtfertigung als Herrschaftstechnik“ erkundet, sondern gerade auch „Darstellung als Herrschaftstechnik“ vorführt, ist in dem Zusammenhang sicherlich kein Zufall. Hannah Arendt schon hatte darauf aufmerksam gemacht (Wahrheit und Lüge in der Politik, 1968), dass es „bekanntlich in Hitler-Deutschland oder in Stalins Russland erheblich gefährlicher“ war, „von Konzentrations- und Vernichtungslagern, deren Existenz kein Geheimnis war, zu reden, als ‚ketzerische‘ Ansichten über die jeweiligen Ideologien – Antisemitismus, Rassismus, Kommunismus – zu hegen und zu äußern.“ Die Kontrolle der Darstellung war in den Diktaturen noch wichtiger als die Kontrolle der Ideologie.
„Selbstrechtfertigung als Herrschaftstechnik“ vor Gericht
Das Buch von Delius zeigt aber auch, dass sowohl das Vorführen solcher Rhetoriken als auch der Kampf gegen die angeblich falsche Darstellung ein heikles Feld ist. Denn das Schönfärben und Runterspielen, das Kontrollieren und Überwachen der (Selbst-)-Darstellung, geht meistens schief. Auch ein kurzer Blick in die Geschichte genügt, um zu erkennen, dass Weißwäscherei in der Regel in Schwarzbüchern endet.
Siemens sah das zunächst noch anders. Jedenfalls stellte die Siemens AG unverzüglich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen das Buch von Delius, reichte schließlich eine Klage beim Landgericht Stuttgart ein und setzte mit einer Berufung beim Oberlandesgericht den Prozess fort. Sie forderte „Unterlassung der Namensnennung im Titel sowie Unterlassung von 19 Einzelbehauptungen, Feststellung der Schadensersatzpflicht und Urteilsveröffentlichung.“ Eine Unterlassung der Namensnennung hätte nebenbei bemerkt zu dem lustigen Titel „Unsere xxxxxxx-Welt“ geführt.
Aus der Perspektive der Antragsteller handelt es sich um eine „verleumderische Schmähschrift über angesehene Persönlichkeiten und Unternehmungen“ und um eine „antikapitalistische Schmähschrift“, die das „Haus Siemens als Prototyp des westdeutschen Kapitalismus zu verteufeln“ sucht. Auch dieser Vorwurf aus der PR-Kammer des Kalten Krieges ist satirereif und noch immer beliebt, etwa wenn versucht wird, Kritik an Naziprofit als boshafte linke Verleumdung abzutun. Delius schreibt in seinen biographischen Skizzen mit dem schönen Titel Als die Bücher noch geholfen haben rückblickend, dass es 1972 nicht nur undenkbar war, dass Konzerne Historiker:innen beauftragten, um ihre Geschichte im Zweiten Weltkrieg offenzulegen, sondern dass diese kritische Offenlegung als „kommunistisch“ galt.
Vor Gericht wurde das Buch in fiktionale und nichtfiktionale Bestandteile zerlegt, weil man es, wie Siemens das anstrebte, nicht als Literatur anerkennen und somit nicht unter den Schutz der Kunstfreiheit stellen wollte. Das führte dazu, dass die Beklagten beweisen sollten, dass die Behauptungen wahr sind. Das Oberlandesgericht Stuttgart resümierte:
Die Beklagten haben bewusst Tatsachenbehauptungen, die nach Art. 5 Abs. 2 GG nur begrenzt zulässig sind, mit nach Art. 5 Abs. 3 GG nicht beschränkbarer Kunst gekoppelt. Im Unterschied zu einem Roman ist es bei der Dokumentarsatire der Beklagten geboten, die einzelnen Aussagen zu prüfen, ob sie denn Tatsachenbehauptungen auf der Ebene der sogenannten realen Wirklichkeit sind…
Die Prüfung ergab, dass von den neunzehn angeblich falschen Fakten, die Siemens’ Expertenteam beklagte, in der ersten Instanz fünf, in der zweiten fünf weitere als wahr entlarvt wurden. Von den restlichen neun strittigen Stellen wurden drei als polemisch übertrieben erkannt, bei drei weiteren wurden ebenfalls zwei als nicht unwahr gekennzeichnet. Die restlichen vier unwahren Stellen stammten allesamt aus historischen Publikationen, die Delius konsultiert hatte und die ihrerseits nie vor Gericht gestellt worden waren. Die angebliche Satire stellte sich also am Ende in den allermeisten Fällen (vier unwahre Punkte, fünf Übertreibungen) als dokumentarisch heraus. Der Gerichtsprozess erwies den Klägern, der Firma Siemens, somit einen Bärendienst.
Das Verfahren endete in einem Vergleich, Delius musste neun Stellen schwärzen, druckte aber fortan in den Neuauflagen das Urteil, in dem die neun Behauptungen aufgelistet waren, mit ab, da Urteile zitiert werden dürfen. Selbst Siemens hatte ja die Publikation des Urteils in der Anklageschrift noch gefordert. Für das Verfahren der ‚subversiven Affirmation‘ bzw. des „Denkens in den Köpfen von anderen“, wie es zu dieser Zeit auch Klaus Staeck mit seinen Plakaten oder Bazon Brock mit seinen Aktionen vollführte, war die Gerichtsverhandlung ein großer Erfolg. Zwar erkannte das Gericht die Festschrift nicht als Satire an, behandelte den Text nicht als Kunst, dies zum Nachteil der Literatur, aber genau dadurch wurden die Fakten geprüft – zum Vorteil der Geschichte. Das Gericht half gewissermaßen dabei, die Festschrift publik zu machen und zu erkennen, dass die Satire oft näher an der Wahrheit ist als die erwünschte Selbstdarstellung.
Unsere xxxxxx-Welt
Hatte die Siemens-AG an eine Welt geglaubt, in der die nochmalige historische Recherche nicht zu „Tatsachenwahrheiten“ führen würde, als sie die Klage einreichte? Hatte sie ihre gewünschte Darstellung mit der Realität verwechselt? Hatten die Verantwortlichen erwartet, das Gericht würde die Fakten als Täuschung einschätzen? Hannah Arendt hat in Wahrheit und Lüge in der Politik geschrieben, dass „Selbsttäuschung immer noch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit“ voraussetzt – oder die „zwischen Tatsachen und Erfindungen“. Ist das Denken aber vollständig „entwirklicht“, so Arendt, dann wird die Unterscheidung nicht mehr getroffen, oder anders gesagt, dann verunmöglicht der Selbstbetrug allmählich auch die Fähigkeit zur Unterscheidung. Das wiederum hat nicht nur Auswirkungen auf die Geschichte, sondern auch auf die Wirklichkeit.
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Jegliche Ähnlichkeit mit Vorgängen in Zürich im Jahre 2021 ist rein zufällig. Niemand ist heute mehr so naiv anzunehmen, dass die Darstellung von Fakten zum Skandal führt, und nicht das Bügeln und Puffern, das Biegen und Verrenken und das Weichspülen. Wie hieß es noch bei Delius satirisch: „2. Weltkrieg: Stolze Leistung in schwieriger Zeit“. Ebenso weiß man aus historischer Erfahrung, dass die Kontrolle der Darstellung genau jene Bücher und Kunstwerke hervorbringt, die sie unbedingt vermeiden will.