Auf der Internetseite des belarussischen Pen-Zentrums wandte sich Swetlana Alexijewitsch, Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin, Anfang September an die Öffentlichkeit und an ihre russischen Kolleg:innen. Zu dem Zeitpunkt war sie die einzige, die vom Koordinierungsrat der Demokratiebewegung noch übriggeblieben war: „Alle anderen sind entweder im Gefängnis oder werden ins Ausland verschleppt. Heute haben sie den letzten festgenommen, Maksim Znak.“ In ihrem Brief schrieb sie auch, dass bereits Unbekannte an ihrer Tür läuteten. Kurze Zeit später klingelten dann mehrere EU-Botschafter:innen an ihrer Tür, sie kamen, um ihre mögliche Festnahme zu verhindern.
Alexijewitsch wandte sich am Schluss des Briefes an ihre russischen Kolleg:innen: „Ich möchte auch an die russische Intelligenzija appellieren, nennen wir es einen alten Brauch. Warum sagt Ihr nichts? Wir hören nur selten Stimmen der Unterstützung. Warum schweigt Ihr, wenn Ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk niedergetrampelt wird?“

Svetlana Alexijewitsch, Quelle: gordunua.com
Auch wenn sich Alexijewitschs Frage an die russischen Kolleg:innen richtet, ist sie doch viel mehr als nur eine Angelegenheit zwischen zwei benachbarten Staaten, die von skrupellosen Autokraten regiert werden. Sie berührt nicht nur die Frage von Solidarität mit dem Widerstand von anderen. „Warum schweigt Ihr?“ – verweist subtil auch auf das Schweigen der russischen Kolleg:innen gegenüber ihrer eigenen Regierung. Auch wenn Alexijewitsch das nicht explizit formuliert, wird es in Russland genau so verstanden. Das zumindest zeigen die Antworten, die schon nach kurzer Zeit auf Facebook und in Zeitungen kursierten. Sie kommen von bedeutenden russischen Autor:innen, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen, Übersetzer:innen, – u.a. von Olga Sedakowa, Lew Rubinstein und Ljudmila Ulitskaja.
Die fatale Immunität
Es ist Ljudmila Ulitskaja, die einen unangenehmen Grund des Schweigens in ihrem Brief anspricht. Der Widerstand der anderen macht die eigene Kapitulation sichtbar. Sie schreibt, dass es zu den Erfahrungen sowjetischer Menschen, die den größten Teil inmitten „schamloser Propaganda“ verbracht haben, gehöre, sich eine „gute Immunität“ zugelegt zu haben. Sie schreibt:
Überraschenderweise reagierten die belarussischen Bürger sensibler auf die Unmoral und Schamlosigkeit der Regierung, und das Gefühl der Selbstachtung überwog die Trägheit, Angst und soziale Lähmung, in der der gesamte postsowjetische Raum zumeist lebt.

Ljudmila Ulitskaja, Quelle: moskvichmag.ru
Ulitskajas Bemerkung erlaubt eine interessante Unterscheidung zwischen einem Widerstand durch Selbstachtung und einer Widerstandsfähigkeit, die sie Immunität nennt. Diese Immunität untergräbt die Selbstachtung, weil sie es ermöglicht, die ständige Erniedrigung und Repression auszuhalten. Wenn sich die Widerstandskraft gegen den Widerstand richtet, wird sie zu einer Komplizin des repressiven Regimes. Ulitskaja schreibt: „Im Mittelpunkt dieses Protests, so scheint mir, steht das Selbstwertgefühl von Menschen, die die Macht eines zügellosen, ungebildeten Mannes nicht länger hinnehmen wollen.“
Was Ulitskaja hier anspricht, ist mitnichten nur eine Frage für Russen oder Weißrussen. Vielmehr kann man die Frage auch sehr allgemein stellen: Welche Folgen hat es für die Achtung vor sich selbst, wenn man sich von notorischen Lügnern, von unfähigen, gefährlichen Politikern regieren lässt? Versucht man, damit zurechtzukommen? Es zu leugnen? Geht man auf die Strasse? Wartet man ab? Um welchen Preis?
Fremde Revolution als eigene Zukunft
Dass sich Alexijewitsch an ihre russischen Kolleg:innen wendet, lässt sich nicht nur als Appell oder als Aufforderung lesen, sondern auch als Empowerment: Denn die belarussische Revolution könnte zum Vorbild für die russische Zukunft werden. Ulitskaja schreibt: „Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell für unsere nahe Zukunft. Und das Modell ist gut.“ Anders formuliert es die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Olga Sedakowa: „In Russland sehen wir das nicht. Wir können nur hoffen, dass wir es noch nicht sehen.“

Olga Sedakowa, Quelle: pravmir.ru
Und genau das ist es, wovor die russische Regierung selbst wohl am meisten Angst hat. Deshalb versucht sie – wie bekannt – die Protestierenden entweder als „Verrückte“ oder „bezahlte ausländische Agenten“ zu diskreditieren, wie es die Übersetzerin Natalia Mavlevich in ihrem Brief an Alexijewitsch ausdrückt.
Auf der anderen Seite aber steht auch die Angst der Antwortenden, dass es genau umgekehrt kommen könnte: dass die russische Gegenwart zur Zukunft von Belarus wird, dass der Widerstand auch mit russischer Hilfe gewaltsam beendet werden könnte. Sedakowa teilt diese Furcht mit, wenn sie schreibt:
Der Gedanke, dass sich unsere Macht mit diesem Regime für ein Bündnis entscheidet, macht mir Angst. Es wird nur die Form der Unterstützung diskutiert: direkt militärisch oder gewohnheitsmäßig hybrid, ohne Erkennungsmerkmale. Diese Entscheidungen werden im Geheimen getroffen. Niemand wird sich unsere Meinung zu diesem Thema anhören.
Die Revolution hat ein weibliches Gesicht
In Anspielung auf „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, ein Buch, für das Alexijewitsch zwischen 1978 und 1985 Soldatinnen der Roten Armee interviewte, die in der Sowjetunion nicht Teil der staatlichen Erinnerung geworden waren, schreibt der russische konzeptualistische Dichter Lew Rubinstein, die Revolution in Belarus habe ein „weibliches Gesicht“.

Lew Rubinstein, Quelle: facebook
Damit ist nicht nur gemeint, dass die Frauen der Revolution ihr Gesicht geben, indem sie sichtbar für alle auf die Straße gehen, vielmehr sei es auch das Wie ihres Demonstrierens, das diese Revolution ausmache: „Hunderte und Tausende von beeindruckenden, unglaublich schönen, freien und dennoch zornigen Frauen- und Mädchengesichtern […] zeugen von „Freiheit, Würde, kreativer Freude und entschlossener Zärtlichkeit“. Und auch Sedakowa schreibt an Alexijewitsch:
Dies ist eine Bewegung von unglaublicher geistiger Schönheit. Es ist, als wären die Menschen verzaubert und sagen ,Nein!‘ zu Gemeinheit, Grausamkeit, Lügen, gewohnheitsmäßiger Erniedrigung und sind bereit für dieses menschliche ,Nein‘.
Olga Šparaga, Philosophin am European College of Liberal Arts und ebenfalls Mitglied des Koordinationsrats, weist in ihren Statements noch auf ein anderes „Nein“ hin. Von Beginn der Proteste an habe man darauf geachtet, sich den Diskurs nicht stehlen und verdrehen zu lassen. „Das ist keine nationale Revolution“, sagt sie, vielmehr geht es „um die Ablösung eines diktatorischen Regimes. […] Es ist eine postnationale Revolution.“
Wie in den Bürgerrechtsbewegungen Osteuropas vor 1989 sind die Schlüsselbegriffe der Proteste „Verfassung“ und „Recht“. Dieser affirmative Bezug zum Recht wird im Westen oft missverstanden, denn dort hat gerade die Kritik an der Gesetzgebung eine lange bürgerrechtliche Tradition. Während z.B. in den USA die Afroamerikaner gegen die gesetzlich vorgeschriebene Rassendiskriminierung, also gegen das Gesetz, opponierten, gingen die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen seit den 1960er Jahren für die Einhaltung der Gesetze auf die Straße. Sie wollten zeigen, dass es der Staat selbst ist, der kriminell ist, der gegen die eigenen Gesetze verstößt. Ihre Affirmation war eine subversive Geste und gerade nicht das Ja des Esels, der die Zustände einfach abnickt.
Dem belarussischen Koordinationsrat geht es ebenfalls um Rechtsstaatlichkeit und Protest in diesem Sinne. Šparaga betont dies, weil sie weiß, dass von Seiten der belarussischen und der russischen Regierung nicht nur behauptet wird, der Widerstand werde vom Westen bezahlt und gesteuert, sondern auch dass es sich dabei um nationalistische bzw. faschistische Gruppierungen handle. Oder wie es der Journalist der Novaya gazeta Kirill Martynow in seinem Antwortbrief formuliert: „2014 gelang es Russland, die Ukrainer zu täuschen und zu verwirren, indem es sie als Komplizen des Faschismus hinstellte.“
Auch gegen Alexijewitschs Brief wurde sofort im Sinne der russischen Regierung angeschrieben, u.a. vom Politologen Sergej Markow: „Wir glauben nicht, dass Alexijewitsch selbst für die Freiheit und gegen die Diktatur ist. Wir glauben, dass Alexijewitsch eine Diktatur unterstützt, wenn diese Diktatur gegen Russland ist. Ein Beispiel dafür sehen wir in Alexijewitschs Position gegenüber den Prozessen in der Ukraine.“
Dieser Antwortbrief könnte aus einem Lehrbuch für Desinformation stammen: Zuerst wird Kritik und Widerstand gegen eine autokratische Politik nationalisiert und als „Russophobie“ gekennzeichnet, dabei wird Kritik an der belarussischen Führung mit einer Kritik an Russland gleichgesetzt, zusätzlich wird Widerstand gegen die Diktatur als Unterstützung von Diktatur umgedeutet, hier die „ukrainische Diktatur“, und schließlich wird die Autorin selbst – im Namen der gesamten russischen Nation – diskreditiert: „Wir halten Alexijewitsch nicht für eine bedeutende Schriftstellerin. Wir betrachten die Verleihung des Literaturnobelpreises an sie als reine Politik. Wir glauben, dass sie diesen und andere Preise vor allem für ihre Russophobie erhalten hat.“
Diese Art von Propaganda, so Journalist Martynov, erweise sich in Belarus jedoch inzwischen als wirkungslos. Oder anders gedacht, die Demonstrant:innen tragen ihre Immunität gegenüber Propaganda und Desinformation offen auf die Strasse. Das ist nicht mehr die fatale Resilienz gegenüber der Gewalt des Regimes, die Widerstand verhindert, sondern Widerstandskraft für Widerstand.
Das letzte Wort möchte ich noch einmal Ljudmila Ulitskaja überlassen, die an Swetlana Alexijewitsch am Schluss ihres Briefes schreibt:
Ich sende Ihnen meine herzlichen Grüße, ich wünsche Ihnen Gesundheit und Kraft, ich wünsche Ihnen, dass Sie in einem Land leben, das frei von dummer und ekelerregender Macht ist. Und mir selbst, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.