Der Sieg des Rechtsaußen-Politikers Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hatte seinerzeit die meisten politischen Kommentatoren der brasilianischen Politik überrascht. Bolsonaro gewann die Wahl, obwohl er für eine winzige Partei, die Partido Social Liberal (PSL), antrat, die ihm nur Sekunden Werbungzeit im Freien Wahlprogramm brachte und fast keine legale Wahlkampfstruktur bieten konnte. Sein Sieg war nur möglich, weil sich Bolsonaros Kampagne auf ein Netzwerk aus Geschäftsleuten, evangelikalen Kirchen und organisierten rechten und rechtsextremen Gruppen stützten konnte, und eine Wahlkampfstrategie verfolgte, die auf sozialen Medien und Messaging-Diensten beruhte, vor allem Facebook und WhatsApp.
Schmutziger Wahlkampf
Da die Kampagne mangels Zugang zu umfassenden Datenbanken nicht die Microtargeting-Techniken anwenden konnte, die Cambridge Analytica berühmt gemacht haben, setzte sie auf eine Kommunikationsstrategie, bei der die Nutzerinnen und Nutzer ständig und wahllos mit Propaganda bombardiert werden. Dazu gehörten viele Falschnachrichten, so zum Beispiel die Behauptung, die sozialdemokratische PT-Regierung verfolge Bildungsprogramme, mit denen Kindern Homosexualität beigebracht werden soll; dass der PT-Kandidat Fernando Haddad die Legalisierung von Pädophilie verteidigt habe; oder dass die Ergebnisse der elektronischen Wahlurnen systematisch zugunsten der Linken manipuliert worden seien und die PT den Kommunismus in Brasilien einführen würde, und vieles mehr.
Während die Negativkampagne der Bolsonaro-Anhänger:innen auf Fake News basierte, konzentrierte sich ihre Positivkampagne darauf, ihn als Außenseiter darzustellen, der schon immer am Rande des politischen Systems gestanden hatte, auch wenn er tatsächlich sechs Amtszeiten in Folge als Abgeordneter im Kongress saß, bevor er mit mehr als 55 % der Stimmen die Präsidentschaft gewann. Das Außenseiter-Image klang jedoch wie Musik in den Ohren einer Wählerschaft, die von der Politik extrem enttäuscht war. Vier Jahre lang wurde in den Medien über den Lava Jato-Skandal berichtet, der bei den Wählern den Eindruck erweckte, dass alle Politiker korrupt sind und Präsident Lula da Silva und seine Partido dos Trabalhadores (PT) die politische Korruption in Brasilien anführen. Eines der Ergebnisse der Operation Lava Jato war die Anklage und Inhaftierung von Lula. Seine Verurteilung wurde zwar später vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, aber 2018 wurde sie genutzt, um ihn an der erneuten Kandidatur für das Präsidentenamt zu hindern. Das trug erheblich zum Sieg von Bolsonaro bei, der als konservativer Außenseiter hochstilisiert, die Korruption nun konsequent aus der Regierung verbannen wollte – die Ähnlichkeit mit der von Donald Trump so oft verwendeten Metapher vom „Trockenlegen des Sumpfes“ ist dabei kein Zufall.
Die Institutionalisierung des Bolsonarismus
Einmal gewählt, wurde der Bolsonarismus institutionalisiert. Während die Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern während des Wahlkampfs hauptsächlich über undurchsichtige und teilweise auch illegale Kanäle erfolgte, wie z. B. ad hoc eingerichtete WhatsApp-Gruppen zur Verbreitung von Fehlinformationen, falsche Facebook- und Instagram-Seiten, Internet-Bots und illegal finanzierte Content-Farmen, wurden Bolsonaro und seine Gruppe nun im Zentrum der Macht des Landes installiert. Der Präsident selbst nahm eine Haltung ähnlich der von Donald Trump ein, indem er permanent Wahlkampf für seine eigene Wählerschaft veranstaltete, ohne sich darum zu bemühen, die gesamte brasilianische Bevölkerung zu vertreten. Die Kommunikationsstruktur des Bolsonarismus hat sich nach der erfolgreichen Wahl angepasst. Durch die Besetzung von Positionen in der Exekutive und in den Legislativbüros der verschiedenen Abgeordneten und Senatoren, die mit Bolsonaro verbündet sind, wurde eine Art „Kabinett des Hasses“ eingerichtet – eine Schatteneinrichtung, die in hohem Maße auf die Aussagen und Handlungen des Präsidenten abgestimmte Narrative in sozialen Netzwerken und Nachrichtendiensten produziert.
Präsident Bolsonaro zählte auch weiterhin auf die Unterstützung der meisten evangelikalen Kirchen mit ihren Kommunikationsmaschinen, die eine Kombination von sozialen Netzwerken und traditionelle Medien mit WhatsApp- und Telegram-Gruppen sowie der Kanzel boten. Zu den traditionellen Kommunikationskanälen, die Bolsonaros rechtsextreme Regierung unterstützen, gehört neben TV Record der Universellen Kirche des Königreichs Gottes, einer 1977 in Rio de Janeiro gegründeten Pfingstkirche, vor allem der zweitgrößte brasilianische Fernsehsender SBT sowie das Fernsehnetzwerk Rede TV, ferner die Kabelkanäle Jovem Pan und CNN-Brasilien sowie mehrere regionale Radio- und Fernsehsender. Und zudem konnte Bolsonaro auch auf die Unterstützung organisierter rechter Bewegungen und Gruppen zählen, die dazu beitrugen, seine – oft völlig falschen – Narrative zu verbreiten.
Bolsonaro nutzte auch die COVID-19-Pandemie, um seine Wählerschaft zu radikalisieren, indem er öffentlich erklärte, dass es sich bei der Krankheit nur um eine leichte Grippe handele, das Virus in einem Labor in China entstanden sei, die Behandlung mit Hydroxychloroquin die Krankheit heile, Impfstoffe unwirksam seien und einige zudem HIV übertragen. Er erklärte ebenfalls, dass Masken eine Ansteckung nicht verhinderten, soziale Distanzierung die schlechteste Präventionsmaßnahme sei, da höhere Infektionsraten in der Bevölkerung die Herdenimmunität förderten und vieles mehr.
Demontage des Staates
Mit diesem Kommunikationskonzept gelang es Bolsonaro, sich vier Jahre lang an der Regierung halten und gleichzeitig den größten Abbau vorantreiben, den der brasilianische Staat je in seiner Geschichte erlebt hat. Gelder für Sozialprogramme, öffentliche Einrichtungen, politische Maßnahmen und Regulierungsmechanismen wurde gestrichen, öffentliches und staatliches Vermögen im Rahmen der Möglichkeiten des Präsidenten und seiner Mitarbeiter – die zum Glück für das brasilianische Volk nicht überragend waren – verschleudert.
Die Beziehungen zur Legislative, die für jeden Präsidenten im demokratischen System Brasiliens unerlässlich sind, strafte Bolsonaro zunächst mit Verachtung, denn das Verhandlungsspiel, das die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative kennzeichnet, passt nicht zur Figur eines Außenseiters, der seine Karriere dem Angriff auf politische Parteien und institutionelle Politik gewidmet hat. Diese Strategie änderte er jedoch schnell, als er erkannte, dass das Fehlen eines legislativen Schutzschildes ihn für ein Amtsenthebungsverfahren in der Abgeordnetenkammer angreifbar machen würde. Ein solches wiederum hätte aufgrund der zahlreichen Rechtsverstöße, die während seiner Amtszeit begangen wurden, eine große Chance auf Erfolg. Zu den Rechtsverstößen gehört die Entgegennahme illegaler Wahlkampfspenden, die private Aneignung von Schmuckgeschenken im Wert von sechs Millionen Dollar von einem saudischen Prinzen und die Förderung des Völkermords an den Yanomami, einer indigenen Bevölkerungsgruppe im Amazonasgebiet, durch den Entzug des staatlichen Schutzes für ihre Gemeinden, wodurch sie dem gewaltsamen Angriff illegaler Bergleute und Viehzüchter ausgesetzt waren.
Daher schloss Bolsonaro einen Deal mit der größten konservativen Fraktion in der brasilianischen Legislative, dem Centrão, der ihn bis zum Ende seiner Amtszeit vor einem Amtsenthebungsverfahren schützte. Diese Vereinbarung war für Brasilien kostspielig. Anders als frühere Präsidenten, die legislative Unterstützungsblöcke bildeten, indem sie Kabinettsposten aushandelten, um ihre politische Agenda zu ermöglichen – wie es in parlamentarischen Regimen üblich ist –, hatte Bolsonaro nicht wirklich eine Agenda oder ein positives politisches Projekt für das Land. Und die Konservativen trugen das mit.
Das (offizielle) Ende des Bolsonarismus
Unabhängig davon, wie viel Unterstützung Bolsonaro im politischen System, in der Wirtschaft und in den evangelikalen Kirchen gewonnen hat, egal, wie intensiv er seine gesamte Kommunikationsmaschinerie bei der Wahl 2022 eingesetzt hatte, und trotz aller illegalen Maßnahmen, die er ergriffen hat, um einen erneuten Sieg zu sichern, wurde er von Luis Inácio Lula da Silva von der PT mit knappem Vorsprung besiegt. Allerdings zeigt dieses Wahlergebnis auch: Trotz einer katastrophalen Regierung, die den Tod von mehr als 700.000 Brasilianerinnen und Brasilianern durch COVID-19 begünstigt, das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt und die ärmsten Bevölkerungsschichten in völliger Hilflosigkeit zurückgelassen hat, stand Bolsonaro kurz davor, eine zweite Amtszeit als brasilianischer Präsident zu erlangen. Und selbst nach seiner Niederlage trug Bolsonaro noch dazu bei, dass eine große Zahl von Politikern gewählt wurde. Allein seine Partei, die PL, stellte 99 Bundesabgeordnete – die größte Partei im Abgeordnetenhaus – und 13 Senatoren, ganz zu schweigen von den vielen anderen siegreichen Kandidaten anderer rechter Parteien, die mit Bolsonaro verbunden waren. Mit anderen Worten: Obwohl die Bolsonaristas keine parlamentarische Mehrheit bilden, sind sie immer noch ziemlich stark und lautstark.
Wir haben es also heute mit dem Bolsonarismus zu tun, einer Bewegung mit enormer sozialer Reichweite, der es gelungen ist, viele Abgeordnete zu stellen, die zugleich aber von einem geschwächten Leader geführt wird, der intellektuell und politisch unfähig ist und von Anschuldigungen und Prozessen bedroht ist. Dabei zeigt sich, dass Bolsonaros Anhängerschaft, obwohl sie überwiegend konservativ ist, nicht unbedingt faschistisch oder antidemokratisch ist. Die Anhängerinnen und Anhänger befinden sich aber in einer regelrechten Gefangenschaft in einer Kommunikationssphäre, die sie ständig mit falschen Informationen füttert. Auch die Politiker, die von der Verbindung mit Bolsonaro profitiert haben, sind zwar rechts, aber nicht alle von ihnen sind antidemokratisch und radikal gegen das Establishment eingestellt. Im Gegenteil, die parlamentarische Rechte in Brasilien ist traditionell pragmatisch und nicht sehr ideologisch.
Bolsonaros Verurteilung – das Ende des „Bolsonarismo“?
Am Freitag, den 30. Juli 2023 wurde Bolsonaro vom Obersten Wahlgericht – dessen einziger Zweck es ist, die Regulierung der brasilianischen Wahlen zu überwachen – für einen Zeitraum von acht Jahren für unwählbar erklärt. Das Mehrheitsvotum von Minister Benedito Gonçalves verurteilt Bolsonaro für seine „gewalttätigen und falschen“ Reden, in denen er das brasilianische Wahlsystem und die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses angegriffen hatte. Der Verlust der Wählbarkeit für acht Jahre bedeutet jedoch nicht, dass Bolsonaro nicht an Wahlkampagnen zur Unterstützung anderer Kandidatinnen und Kandidaten teilnehmen kann. Aber er selbst wird bis 2030, wenn er 76 Jahre alt sein wird, für kein gewähltes Amt kandidieren können.
Trotz der niederschmetternden Nachricht reagierte Bolsonaro nicht heftig, wahrscheinlich weil er unter enormem Druck steht, da er in 15 weiteren Fällen wegen Wahlvergehen und einer Vielzahl anderer zivil- und strafrechtlicher Verfahren angeklagt ist. Auch seine treue Anhängerschaft war nicht bereit, wie in früheren Zeiten auf die Straße zu gehen und zu protestieren.
Kurz gesagt: Das Schicksal des Bolsonarismus liegt jetzt eher in den Händen der demokratischen Kräfte, die gegen Bolsonaro gestimmt haben, als in denen von Bolsonaro und seinen Anhängern. Es bedarf einer dauerhaften Abstimmung zwischen verschiedenen politischen Akteuren, damit die kommunikative Macht der extremen Rechten weiter eingeschränkt wird, entweder indem die Verantwortlichen für die begangenen antidemokratischen Taten strafrechtlich verfolgt werden oder indem Gruppen, die mit Bolsonaro verbündet sind, wie Geschäftsleute und evangelikale Pastoren, für eine Agenda der Unterstützung demokratischer Institutionen gewonnen werden. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber es gibt keine Alternative.