Jair Bolsonaro hat 2018 mit einem schmutzigen Wahlkampf die Präsidentschaft gewonnen und dann wie keiner vor ihm den Staat demontiert. 2022 verlor er knapp gegen Lula, und jetzt darf er sich per Gerichtsbeschluss keiner weiteren Wahl mehr stellen. Ist damit der Bolsonarismo erledigt?

  • João Feres Júnior

    João Feres Júnior ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für soziale und politische Studien (IESP) an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro (UERJ). Derzeit arbeitet und veröffentlicht er in den Bereichen politisches Verhalten, Kommunikation und Politik, parlamentarisches Verhalten, politische Theorie, Affirmative Action und Rassenbeziehungen.

Der Sieg des Rechtsaußen-Politikers Jair Bolso­naro bei den Präsi­dent­schafts­wahlen 2018 hatte seiner­zeit die meisten poli­ti­schen Kommen­ta­toren der brasi­lia­ni­schen Politik über­rascht. Bolso­naro gewann die Wahl, obwohl er für eine winzige Partei, die Partido Social Liberal (PSL), antrat, die ihm nur Sekunden Werbung­zeit im Freien Wahl­pro­gramm brachte und fast keine legale Wahl­kampf­struktur bieten konnte. Sein Sieg war nur möglich, weil sich Bolso­n­aros Kampagne auf ein Netz­werk aus Geschäfts­leuten, evan­ge­li­kalen Kirchen und orga­ni­sierten rechten und rechts­extremen Gruppen stützten konnte, und eine Wahl­kampf­stra­tegie verfolgte, die auf sozialen Medien und Messaging-Diensten beruhte, vor allem Face­book und WhatsApp.

Schmut­ziger Wahlkampf

Da die Kampagne mangels Zugang zu umfas­senden Daten­banken nicht die Micro­tar­ge­ting-Tech­niken anwenden konnte, die Cambridge Analy­tica berühmt gemacht haben, setzte sie auf eine Kommu­ni­ka­ti­ons­stra­tegie, bei der die Nutze­rinnen und Nutzer ständig und wahllos mit Propa­ganda bombar­diert werden. Dazu gehörten viele Falsch­nach­richten, so zum Beispiel die Behaup­tung, die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche PT-Regierung verfolge Bildungs­pro­gramme, mit denen Kindern Homo­se­xua­lität beigebracht werden soll; dass der PT-Kandidat Fernando Haddad die Lega­li­sie­rung von Pädo­philie vertei­digt habe; oder dass die Ergeb­nisse der elek­tro­ni­schen Wahl­urnen syste­ma­tisch zugunsten der Linken mani­pu­liert worden seien und die PT den Kommu­nismus in Brasi­lien einführen würde, und vieles mehr.

Während die Nega­tiv­kam­pagne der Bolsonaro-Anhänger:innen auf Fake News basierte, konzen­trierte sich ihre Posi­tiv­kam­pagne darauf, ihn als Außen­seiter darzu­stellen, der schon immer am Rande des poli­ti­schen Systems gestanden hatte, auch wenn er tatsäch­lich sechs Amts­zeiten in Folge als Abge­ord­neter im Kongress saß, bevor er mit mehr als 55 % der Stimmen die Präsi­dent­schaft gewann. Das Außenseiter-Image klang jedoch wie Musik in den Ohren einer Wähler­schaft, die von der Politik extrem enttäuscht war. Vier Jahre lang wurde in den Medien über den Lava Jato-Skandal berichtet, der bei den Wählern den Eindruck erweckte, dass alle Poli­tiker korrupt sind und Präsi­dent Lula da Silva und seine Partido dos Trabal­ha­dores (PT) die poli­ti­sche Korrup­tion in Brasi­lien anführen. Eines der Ergeb­nisse der Opera­tion Lava Jato war die Anklage und Inhaf­tie­rung von Lula. Seine Verur­tei­lung wurde zwar später vom Obersten Gerichtshof aufge­hoben, aber 2018 wurde sie genutzt, um ihn an der erneuten Kandi­datur für das Präsi­den­tenamt zu hindern. Das trug erheb­lich zum Sieg von Bolso­naro bei, der als konser­va­tiver Außen­seiter hoch­sti­li­siert, die Korrup­tion nun konse­quent aus der Regie­rung verbannen wollte – die Ähnlich­keit mit der von Donald Trump so oft verwen­deten Meta­pher vom „Trocken­legen des Sumpfes“ ist dabei kein Zufall.

Die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung des Bolsonarismus

Einmal gewählt, wurde der Bolso­na­rismus insti­tu­tio­na­li­siert. Während die Kommu­ni­ka­tion mit den Wähle­rinnen und Wählern während des Wahl­kampfs haupt­säch­lich über undurch­sich­tige und teil­weise auch ille­gale Kanäle erfolgte, wie z. B. ad hoc einge­rich­tete WhatsApp-Gruppen zur Verbrei­tung von Fehl­in­for­ma­tionen, falsche Facebook- und Instagram-Seiten, Internet-Bots und illegal finan­zierte Content-Farmen, wurden Bolso­naro und seine Gruppe nun im Zentrum der Macht des Landes instal­liert. Der Präsi­dent selbst nahm eine Haltung ähnlich der von Donald Trump ein, indem er perma­nent Wahl­kampf für seine eigene Wähler­schaft veran­stal­tete, ohne sich darum zu bemühen, die gesamte brasi­lia­ni­sche Bevöl­ke­rung zu vertreten. Die Kommu­ni­ka­ti­ons­struktur des Bolso­na­rismus hat sich nach der erfolg­rei­chen Wahl ange­passt. Durch die Beset­zung von Posi­tionen in der Exeku­tive und in den Legis­la­tiv­büros der verschie­denen Abge­ord­neten und Sena­toren, die mit Bolso­naro verbündet sind, wurde eine Art „Kabi­nett des Hasses“ einge­richtet – eine Schat­ten­ein­rich­tung, die in hohem Maße auf die Aussagen und Hand­lungen des Präsi­denten abge­stimmte Narra­tive in sozialen Netz­werken und Nach­rich­ten­diensten produziert.

Präsi­dent Bolso­naro zählte auch weiterhin auf die Unter­stüt­zung der meisten evan­ge­li­kalen Kirchen mit ihren Kommu­ni­ka­ti­ons­ma­schinen, die eine Kombi­na­tion von sozialen Netz­werken und tradi­tio­nelle Medien mit WhatsApp- und Telegram-Gruppen sowie der Kanzel boten. Zu den tradi­tio­nellen Kommu­ni­ka­ti­ons­ka­nälen, die Bolso­n­aros rechts­extreme Regie­rung unter­stützen, gehört neben TV Record der Univer­sellen Kirche des König­reichs Gottes, einer 1977 in Rio de Janeiro gegrün­deten Pfingst­kirche, vor allem der zweit­größte brasi­lia­ni­sche Fern­seh­sender SBT sowie das Fern­seh­netz­werk Rede TV, ferner die Kabel­ka­näle Jovem Pan und CNN-Brasilien sowie mehrere regio­nale Radio- und Fern­seh­sender. Und zudem konnte Bolso­naro auch auf die Unter­stüt­zung orga­ni­sierter rechter Bewe­gungen und Gruppen zählen, die dazu beitrugen, seine – oft völlig falschen – Narra­tive zu verbreiten.

Bolso­naro nutzte auch die COVID-19-Pandemie, um seine Wähler­schaft zu radi­ka­li­sieren, indem er öffent­lich erklärte, dass es sich bei der Krank­heit nur um eine leichte Grippe handele, das Virus in einem Labor in China entstanden sei, die Behand­lung mit Hydro­xychlo­ro­quin die Krank­heit heile, Impf­stoffe unwirksam seien und einige zudem HIV  über­tragen. Er erklärte eben­falls, dass Masken eine Anste­ckung nicht verhin­derten, soziale Distan­zie­rung die schlech­teste Präven­ti­ons­maß­nahme sei, da höhere Infek­ti­ons­raten in der Bevöl­ke­rung die Herden­im­mu­nität förderten und vieles mehr.

Demon­tage des Staates

Mit diesem Kommu­ni­ka­ti­ons­kon­zept gelang es Bolso­naro, sich vier Jahre lang an der Regie­rung halten und gleich­zeitig den größten Abbau voran­treiben, den der brasi­lia­ni­sche Staat je in seiner Geschichte erlebt hat. Gelder für Sozi­al­pro­gramme, öffent­liche Einrich­tungen, poli­ti­sche Maßnahmen und Regu­lie­rungs­me­cha­nismen wurde gestri­chen, öffent­li­ches und staat­li­ches Vermögen im Rahmen der Möglich­keiten des Präsi­denten und seiner Mitar­beiter – die zum Glück für das brasi­lia­ni­sche Volk nicht über­ra­gend waren – verschleudert.

Die Bezie­hungen zur Legis­la­tive, die für jeden Präsi­denten im demo­kra­ti­schen System Brasi­liens uner­läss­lich sind, strafte Bolso­naro zunächst mit Verach­tung, denn das Verhand­lungs­spiel, das die Bezie­hungen zwischen Exeku­tive und Legis­la­tive kenn­zeichnet, passt nicht zur Figur eines Außen­sei­ters, der seine Karriere dem Angriff auf poli­ti­sche Parteien und insti­tu­tio­nelle Politik gewidmet hat. Diese Stra­tegie änderte er jedoch schnell, als er erkannte, dass das Fehlen eines legis­la­tiven Schutz­schildes ihn für ein Amts­ent­he­bungs­ver­fahren in der Abge­ord­ne­ten­kammer angreifbar machen würde. Ein solches wiederum hätte aufgrund der zahl­rei­chen Rechts­ver­stöße, die während seiner Amts­zeit begangen wurden, eine große Chance auf Erfolg. Zu den Rechts­ver­stößen gehört die Entge­gen­nahme ille­galer Wahl­kampf­spenden, die private Aneig­nung von Schmuck­ge­schenken im Wert von sechs Millionen Dollar von einem saudi­schen Prinzen und die Förde­rung des Völker­mords an den Yanomami, einer indi­genen Bevöl­ke­rungs­gruppe im Amazo­nas­ge­biet, durch den Entzug des staat­li­chen Schutzes für ihre Gemeinden, wodurch sie dem gewalt­samen Angriff ille­galer Berg­leute und Vieh­züchter ausge­setzt waren.

Daher schloss Bolso­naro einen Deal mit der größten konser­va­tiven Frak­tion in der brasi­lia­ni­schen Legis­la­tive, dem Centrão, der ihn bis zum Ende seiner Amts­zeit vor einem Amts­ent­he­bungs­ver­fahren schützte. Diese Verein­ba­rung war für Brasi­lien kost­spielig. Anders als frühere Präsi­denten, die legis­la­tive Unter­stüt­zungs­blöcke bildeten, indem sie Kabi­netts­posten aushan­delten, um ihre poli­ti­sche Agenda zu ermög­li­chen – wie es in parla­men­ta­ri­schen Regimen üblich ist –, hatte Bolso­naro nicht wirk­lich eine Agenda oder ein posi­tives poli­ti­sches Projekt für das Land. Und die Konser­va­tiven trugen das mit.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Das (offi­zi­elle) Ende des Bolsonarismus

Unab­hängig davon, wie viel Unter­stüt­zung Bolso­naro im poli­ti­schen System, in der Wirt­schaft und in den evan­ge­li­kalen Kirchen gewonnen hat, egal, wie intensiv er seine gesamte Kommu­ni­ka­ti­ons­ma­schi­nerie bei der Wahl 2022 einge­setzt hatte, und trotz aller ille­galen Maßnahmen, die er ergriffen hat, um einen erneuten Sieg zu sichern, wurde er von Luis Inácio Lula da Silva von der PT mit knappem Vorsprung besiegt. Aller­dings zeigt dieses Wahl­er­gebnis auch: Trotz einer kata­stro­phalen Regie­rung, die den Tod von mehr als 700.000 Brasi­lia­ne­rinnen und Brasi­lia­nern durch COVID-19 begüns­tigt, das Land in eine tiefe Wirt­schafts­krise gestürzt und die ärmsten Bevöl­ke­rungs­schichten in völliger Hilf­lo­sig­keit zurück­ge­lassen hat, stand Bolso­naro kurz davor, eine zweite Amts­zeit als brasi­lia­ni­scher Präsi­dent zu erlangen. Und selbst nach seiner Nieder­lage trug Bolso­naro noch dazu bei, dass eine große Zahl von Poli­ti­kern gewählt wurde. Allein seine Partei, die PL, stellte 99 Bundes­ab­ge­ord­nete – die größte Partei im Abge­ord­ne­ten­haus – und 13 Sena­toren, ganz zu schweigen von den vielen anderen sieg­rei­chen Kandi­daten anderer rechter Parteien, die mit Bolso­naro verbunden waren. Mit anderen Worten: Obwohl die Bolso­na­ristas keine parla­men­ta­ri­sche Mehr­heit bilden, sind sie immer noch ziem­lich stark und lautstark.

Wir haben es also heute mit dem Bolso­na­rismus zu tun, einer Bewe­gung mit enormer sozialer Reich­weite, der es gelungen ist, viele Abge­ord­nete zu stellen, die zugleich aber von einem geschwächten Leader geführt wird, der intel­lek­tuell und poli­tisch unfähig ist und von Anschul­di­gungen und Prozessen bedroht ist. Dabei zeigt sich, dass Bolso­n­aros Anhän­ger­schaft, obwohl sie über­wie­gend konser­vativ ist, nicht unbe­dingt faschis­tisch oder anti­de­mo­kra­tisch ist. Die Anhän­ge­rinnen und Anhänger befinden sich aber in einer regel­rechten Gefan­gen­schaft in einer Kommu­ni­ka­ti­ons­sphäre, die sie ständig mit falschen Infor­ma­tionen füttert. Auch die Poli­tiker, die von der Verbin­dung mit Bolso­naro profi­tiert haben, sind zwar rechts, aber nicht alle von ihnen sind anti­de­mo­kra­tisch und radikal gegen das Estab­lish­ment einge­stellt. Im Gegen­teil, die parla­men­ta­ri­sche Rechte in Brasi­lien ist tradi­tio­nell prag­ma­tisch und nicht sehr ideologisch.

Bolso­n­aros Verur­tei­lung – das Ende des „Bolso­na­rismo“?

Am Freitag, den 30. Juli 2023 wurde Bolso­naro vom Obersten Wahl­ge­richt – dessen einziger Zweck es ist, die Regu­lie­rung der brasi­lia­ni­schen Wahlen zu über­wa­chen – für einen Zeit­raum von acht Jahren für unwählbar erklärt. Das Mehr­heits­votum von Minister Benedito Gonçalves verur­teilt Bolso­naro für seine „gewalt­tä­tigen und falschen“ Reden, in denen er das brasi­lia­ni­sche Wahl­system und die Glaub­wür­dig­keit des Wahl­pro­zesses ange­griffen hatte. Der Verlust der Wähl­bar­keit für acht Jahre bedeutet jedoch nicht, dass Bolso­naro nicht an Wahl­kam­pa­gnen zur Unter­stüt­zung anderer Kandi­da­tinnen und Kandi­daten teil­nehmen kann. Aber er selbst wird bis 2030, wenn er 76 Jahre alt sein wird, für kein gewähltes Amt kandi­dieren können.

Trotz der nieder­schmet­ternden Nach­richt reagierte Bolso­naro nicht heftig, wahr­schein­lich weil er unter enormem Druck steht, da er in 15 weiteren Fällen wegen Wahl­ver­gehen und einer Viel­zahl anderer zivil- und straf­recht­li­cher Verfahren ange­klagt ist. Auch seine treue Anhän­ger­schaft war nicht bereit, wie in früheren Zeiten auf die Straße zu gehen und zu protestieren.

Kurz gesagt: Das Schicksal des Bolso­na­rismus liegt jetzt eher in den Händen der demo­kra­ti­schen Kräfte, die gegen Bolso­naro gestimmt haben, als in denen von Bolso­naro und seinen Anhän­gern. Es bedarf einer dauer­haften Abstim­mung zwischen verschie­denen poli­ti­schen Akteuren, damit die kommu­ni­ka­tive Macht der extremen Rechten weiter einge­schränkt wird, entweder indem die Verant­wort­li­chen für die began­genen anti­de­mo­kra­ti­schen Taten straf­recht­lich verfolgt werden oder indem Gruppen, die mit Bolso­naro verbündet sind, wie Geschäfts­leute und evan­ge­li­kale Pastoren, für eine Agenda der Unter­stüt­zung demo­kra­ti­scher Insti­tu­tionen gewonnen werden. Das ist eine schwie­rige Aufgabe, aber es gibt keine Alternative.