
Drei bis vier Millionen Deutsche haben im Januar 2023 bei der sechsteiligen ARD-Serie „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“ einen schauerlichen Rückblick auf die bundesdeutsche Frühgeschichte werfen können. Ältere wurden an das Klima lastenden Schweigens über die NS-Vergangenheit erinnert, mit deren Repräsentanten in Gestalt von Lehrern, Richtern, Pfarrern, Professoren und Polizisten auch Nachgeborene noch konfrontiert waren. Jüngere entdeckten eine fremde Republik, in der eine satte Minderheit, nämlich vier von zehn Westdeutschen, ungerührt einen Einparteien- und Führerstaat bevorzugte, den Zweiten Weltkrieg durch Verrat verloren wähnte und Jüd:innen als seltsame bis gefährliche Kreaturen ansah, während das autoritäre Erbe flugs mit einem Drops Wirtschaftswunder versüßte wurde.
Nazi-Jagden, Geheimdienst-Komplotts, Familien-Schmonzetten
Schauerlich war die exzellent besetzte Miniserie nicht allein ihres Inhaltes wegen, sondern auch, weil sie als Agententhriller inszeniert war: Um einen wahren Kern herum wurden überstilisierte Nazi-Jagden, Geheimdienst-Komplotts und Familien-Schmonzetten gestrickt. Historisch standen die Antagonisten Otto John, 1950 bis 1954 Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), und Reinhard Gehlen, Chef der nach ihm benannten Organisation und des daraus hervorgegangenen Bundesnachrichtendienstes (BND) im Mittelpunkt. Fiktiv drehte sich die Serie um das Drama der Familie Schmitt und um den individuellen Abrechnungsversuch eines Verfassungsschützers mit dem untergetauchten Alois Brunner, der wiederum als realer SS-Hauptsturmführer und rechte Hand Adolf Eichmanns den Holocaust organisiert hatte und mit Hilfe brauner Seilschaften das Land unbestraft gen Damaskus verlassen konnte – wohlgemerkt unter der schützenden Hand Reinhard Gehlens.
Die zur Serie gehörende 45-Minuten-Dokumentation „Alte Freunde, neue Feinde“ verdeutlichte den historischen Gehalt der Auseinandersetzung zwischen Gehlen und John. Die beiden Dienste und ihre Protagonisten standen für eine zentrale Weichenstellung der Bonner Republik: John, der zum Widerstand des 20. Juli gehört hatte und nach London geflohen war, wollte den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten in den Institutionen der jungen, ungefestigten Republik eindämmen und hielt an der Wiedervereinigung fest, während Gehlen Nazi-Personal in seine Organisation schleuste und sie unter US-amerikanischer Protektion zu Vorkämpfern des Kalten Krieges machte, womit die deutsche Teilung besiegelt war. Was in diesem Film noch einmal schmerzhaft klar wird: Widerständler wie John (und Aufklärer wie Fritz Bauer) waren in diesem ungleichen Kampf unerwünschte Fremdkörper und potenzielle Verräter.

Filmstill: „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“
Mehr als rheinischer Klüngel: rechte Seilschaften in der frühen BRD
Dass der Kontrast zwischen dem (naiven) Gutmenschen John und dem (brutal effizienten) Finsterling Gehlen in Wahrheit nicht so stark war, wird in der Serie eher atmosphärisch deutlich; historisch belegt ist, dass auch das BfV von ehemaligen Nazis durchsetzt war. Gestapo und furchtbare Beamte konnten also nicht nur in „Pullach“ ihr Unwesen treiben, wo sich der BND eingeigelt hatte und die Rolle eines ‚tiefen Staates‘ beanspruchte – in stetiger Konkurrenz zum Inlandsgeheimdienst, der dem Namen nach die Verfassung vor Radikalen schützte. Beide Dienste waren realiter Instrumente der ideologischen Aufrüstung gegen den Bolschewismus und Vektoren der Wiederbewaffnung. Die Untergrundarmee, deren Aufbau in der Serie unter dem Decknamen „Scipio“ verfolgt wird, ist ein fiktiver Operations-Name realer paramilitärischer Stay-behind–Organisationen, die den 1945 verlorenen Kampf an der Ostfront gegebenenfalls wiederaufnehmen sollten.
Die Aufnahme der BRD in die NATO und der Aufbau der Bundeswehr lenkte solche Aktivitäten in legale Kanäle. Damit hatte Otto John seinen Kampf um ein entnazifiziertes, demilitarisiertes und wiedervereintes Deutschland verloren, das er als den Auftrag des 2o. Juli 1944 ansah. John verstand sich nicht nur als Motor der an Haupt und Gliedern gescheiterten Entnazifizierung. Mit Hans Globke und Theodor Oberländer blieben wichtige NS-Funktionäre im engen Umfeld von Bundeskanzler Konrad Adenauer tätig; die Aufrüstung beider deutscher Staaten in ihren „Verteidigungsbündnissen“ ging rasch voran.
In einer dramatischen Übersprungreaktion, die im letzten Teil der Serie nur angedeutet wird, setzte John sich im November 1954 nach Ost-Berlin ab; bis heute ist ungeklärt, ob er freiwillig gegangen oder, wie er selbst behauptet, Opfer einer Entführung war. Sich im zweiten deutschen Staat für die Wiedervereinigung stark zu machen, machte ihn zum nützlichen Diener der SED, die unter dem Deckmantel des Antifaschismus und Antiimperialismus ihren eigenen Kampf gegen die Westorientierung führte (und ebenso selbstverständlich Ex-Nazis beschäftigte und Jüdinnen und Juden diskriminierte). Im Westen wurde diese Eskapade nicht verstanden; John wurde – nach seiner freiwilligen Rückkehr nach West-Berlin – von einstigen NS-Richtern wegen Landesverrat verurteilt und eingesperrt. Reinhard Gehlen soll den Sturz seines Rivalen mit den sardonischen Worten „Einmal Verräter – immer Verräter“ kommentiert haben – will sagen: Wer ein Attentat auf Adolf Hitler geplant hatte, machte sich auch mit kommunistischen Erzfeinden gemein.
Zeitgeschichte im Format der Familientragödie
Zeitgeschichte im Fernsehen ist stets eine eigentümliche Veranstaltung. Die trockene Dokumentation einer Geheimdienstrivalität würde kaum Zuschauer:innen anziehen, aber ihre Projektion in ein Familiendrama lenkt von der historischen Komplexität ab. Viele Doku-Fiktionen sind eine Montage aus Spielfilmhandlung, Zeitzeugen- und Experten-Statements sowie Archivmaterial. Die Serie „Bonn“ verzichtete auf diese Einbettung und näherte sich damit „Babylon Berlin“, dem unterdessen auch weltweit attraktiven Format, bei dem historische Prozesse höchstens noch atmosphärisch vermittelt und in einen Generaltenor von Angst, Gefahr und Verschwörung eingetaucht sind. Das Serienformat verstärkt die Brüche und Anachronismen: So in der Spielhandlung, die bei „Bonn“ kriminalistisch zugespitzt ist (der Ausgang der Geschichte, der zeitgeschichtlich doch vollkommen klar ist, bleibt im Film „spannend“), oder bei den Akteuren (die „Guten“, die „Bösen“ und die „Undurchsichtigen“), die Sätze aussprechen, die zum Zeitpunkt der frühen 1950er Jahre noch unsagbar waren, wie „Ich will keine Gebärmaschine sein“. So artikuliert sich die Zentralfigur der „Bonn“-Serie, eine Proto-Feministin, deren tragische Erfahrungen durch ein Beziehungs-Happyend gemildert werden – kaum ein gelungener dramaturgischer Kniff, um eine von Männern geprägte Nachkriegszeit aus Frauensicht zu rekapitulieren.
Das Serienformat kann die Bedenken noch verstärken, die schon gegen das „Histotainment“ älteren Stils, besonders im Blick auf Guido Knopps „ZDF-History“ und seine Aufbereitungen der NS-Geschichte, vorgebracht worden sind und schon ganze Historikertagungen beschäftigt haben. Einerseits wird historische Wirklichkeit stark stilisiert, personalisiert und zum Teil banalisiert bzw. überdramatisiert, andererseits werden Stoffe einem Publikum nahegebracht, das man für eher geschichtsfern und bildungsavers einstuft und das mit bilder- und ereignisarmen zeitgeschichtlichen Darstellungen angeblich nichts anfangen kann.
Geschichtsklitterung
Aber rechtfertigt der mehr oder weniger große Lerneffekt Geschichtsklitterungen? Diese Ambivalenz zeigte sich deutlich in den gemischten Kritiken der „Bonn“-Serie. NDR Kultur meldete begeistert, die Serie führe „geradewegs in die Abgründe der Vorzeigefamilien, Wohlstandsfassaden und braunen Seilschaften jener Jahre des Netzwerkens der Altfaschisten, das Waschen der Hände in Unschuld und das gegenseitige Ausstellen von Persilscheinen: Selten ist es fiktional so auf den Punkt gebracht worden wie in diesem Hybrid aus Old-Style und High-End-Serie.“ Ähnlich die Berliner Zeitung: „Die Verbindung von Spionage-Thriller und Familiendrama ist auf elegante Weise gelungen und bleibt so spannend wie abwechslungsreich. ‚Bonn‘ erzählt viel über das Fundament, auf dem die Bundesrepublik in jenen Jahren errichtet wurde – und längst nicht alles war damals bekanntlich ‚wunderbar‘“. Die Süddeutsche Zeitung brachte hingegen einen Totalverriss: „Es ist halt Pech, dass nichts davon stimmt, die Zeitsignale (Rock ‚n‘ Roll, James Bond) so wenig wie die Brunner-Geschichte.“ ‚Geschichte im Fernsehen‘ bleibt ein Mischwesen, das weder bei der Historikerzunft noch unter Dokumentarfilmern beliebt und anerkannt ist und dessen Wirkung oder pädagogischer Nutzen umstritten sind. Ein guter Test wäre die Auswertung der Serie durch einen Leistungskurs Geschichte, der sich gerade mit der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland befasst.
Kritikwürdig ist vor allem, welches Bild Zuschauer:innen vom frühen „Bundesamt für Verfassungsschutz“ mitnehmen dürften. Während der BND und vor allem sein Chef Gehlen ganz und gar dunkelmännerhaft erscheint (und das nicht zu Unrecht!), kommt das Amt von Otto John eher gut davon, vor allem dank seines Credos, die (scheiternde) Entnazifizierung (und nebenbei die verratene Wiedervereinigung) voranzutreiben und die Remilitarisierung Deutschlands im Kalten Krieg abzuwenden. Das klingt in vielen Ohren gut, war aber ganz und gar nicht die dem historischen BfV zugedachte Aufgabe.

Filmstill: „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“
Doch derartige Memes erzeugen bei Nachgeborenen ein freundliches Bild vom Inlandsgeheimdienst, dessen Skandalgeschichte von Beginn an notorisch ist und dessen Prestige erst in den letzten Jahren wieder gestiegen ist. Denn im „Kampf gegen Rechts“, den das BfV erst in den letzten Jahren ins Zentrum gerückt hat (nachdem ihm mit Hans-Georg Maaßen lange ein Jurist vorgestanden hatte, der heute wegen rechtsradikaler Verlautbarungen aus der CDU ausgeschlossen werden soll), wird die demokratiepolitische Problematik dieses im internationalen Vergleich exzeptionellen Dienstes übersehen, nämlich die in Teilen konspirative Überprüfung angeblich verfassungs-feindlicher Gesinnungen im Vorfeld eventueller Straftaten. Diese Konstruktion eines „Gesinnungs-TÜVs“ lässt sich aus der Unsicherheit einer jungen Republik erklären, die mit Unterstützung aus dem BfV zwei extremistische Parteien, die neonazistische „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) 1952 und vier Jahre später die stalinistische KPD verbot. Einer gefestigten Demokratie steht ein solcher Überwachungsverein hingegen nicht mehr gut zu Gesicht.
Problemdienst Verfassungsschutz
Der Verfassungsschutz als selbsternanntes „Frühwarnsystem“ hat sich später so untauglich erwiesen wie zu Beginn der 1950er Jahre. Er hat auch in anderen Fällen mit seinen V-Leuten die rechtsradikale Szene eher gestärkt als geschwächt. Der Kampf gegen die radikale, auch neonazistische Rechte, suggeriert die Serie „Bonn“, sei heute wieder so aktuell und dringlich wie seinerzeit. Das ist gewiss nicht verkehrt, vor allem was das unheilvolle Wirken des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) betrifft, der jedoch ohne die tätige Beihilfe von V(erbindungs)-Leuten des BfV so weder entstanden noch am Leben geblieben wäre. Auch der erhoffte Abschreckungseffekt auf eine konservative Wählerschaft durch die Einstufung der AfD als Verdachts- oder Prüffall ist ausgeblieben. Nicht unterbunden wurde auch die zunehmend dichtere Vernetzung mit neofaschistischen Kreisen, deren sich, wie im Fall der militanten „Reichsbürger“, besser die politische Polizei annehmen sollte.
Dass das BfV im April 2021 anlässlich der Aufmärsche von Coronaleugner:innen den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet hat, war kein Aprilscherz. Mit dem tatsächlichen Legitimitäts- und Repräsentationsverlust der parlamentarischen Republik kann keine Geheimdienstabteilung zu Rande kommen; die Bestreitung des um sich greifenden politischen Nihilismus ist Sache der politischen Parteien und der Bürgergesellschaft – ein Wahrheitsministerium wurde 1945 abgeschafft. Wer die „ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten“ als Delegitimierung des Staates und somit verfassungsfeindlich einstuft, stellt der Demokratie ein Armutszeugnis aus: Als wüsste sie sich mit Antidemokraten nicht mehr argumentativ auseinanderzusetzen.