Zürich ist zum Tatort geworden. Nach Bern (1990-2001) und Luzern (2011-2019) ist nun die grösste Stadt der Schweiz Schauplatz der zwei Fernsehkrimis, die SRF jährlich produziert. Nicht nur weil schon der Serientitel den Ort der Kriminalität betont, ist der Lokalbezug prägend für die Serie. Es gehört für viele Zuschauer:innen zum Vergnügen der Tatort-Rezeption, aus dem Alltag oder von Städtereisen bekannte Orte auf dem Fernsehbildschirm wiederzuerkennen.
Interessiert man sich für filmische Repräsentation städtischer Räume, ist die Serie eine gute Quelle. Sie zeigt viel über Standortmarketing, eröffnet aber auch kulturanalytische Zugänge zur „Stadtindividualität“ (Rolf Lindner), dem jeweiligen Habitus, dem Imaginären oder den Texturen der Stadträume. Populäre Stadtbilder und -texte sind Teil der gesellschaftlichen Produktion des urbanen Raums, der immer auch ein symbolisch-repräsentativer und narrativer ist. Tatort-Folgen schreiben ebenso an dem mit, was Henri Lefebvre den ‚vorgestellten‘ Raum (espace conçu) der Städte nannte, als auch am ‚gelebten‘ Raum (espace vecu). Was für ein Zürich zeigt also der neue Tatort?
„1980 – huere lang her“
Die erste Zürich-Folge der Tatort-Reihe, ausgestrahlt im Herbst 2020, sucht Anschluss an die Spezifik ihres Schauplatzes. Bereits der Titel – Züri brännt – verspricht mehr als touristische Schauwerte und schreibt sich in einen lokalen Erinnerungszyklus sowie in den ‚Urtext‘ des Selbstverständnisses des modernen Zürichs ein. Damit will der Tatort am gesellschaftlichen Diskurs um die sogenannten Jugendunruhen teilnehmen, die sich in Anschluss an die Opernhauskrawalle von Mai 1980 entzündeten. Er lässt die beiden Kommissarinnen Ott und Grandjean in einem unaufgeklärten Mordfall aus der Vergangenheit ermitteln. Dabei spielt er die Debatte, wie es für dramatische Formate üblich ist, entlang verschiedener Subjektpositionen durch und bedient sich einer typischen Figurenaufstellung, wenn es um die mediale Aushandlung des Nachlebens jugendkulturellen Aufruhrs geht: die Treugebliebenen, die Abtrünnigen und die Gegner:innen.
Da ist zunächst Peter Herzog, Leiter der Abteilung Leib und Leben der Zürcher Kantonspolizei: 1980 als junger Polizist an verschiedenen Razzien beteiligt, 2020 vor allem darum bemüht, wenige Monate vor der Rente die letzten Schäflein ins Trockene zu bringen. Am Ende des Films wird er als mehrfacher, wenngleich nicht überführter, Mörder direkt aus der Serie geschrieben. Zugleich ist er Geisterbeschwörer; dazu später mehr.
Dann ist da die „Punk-Lady“ Barbara Dietschi, als Sängerin einer Post-Punk-Band der Bewegung treu geblieben und immer noch in der Lage, die Rote Fabrik mit einem Cover von Mani Matters „Dene wos guet geit“ mit sehr vielen, sehr jungen Menschen zu füllen. Gegenübergestellt wird ihr die Figur des Opportunisten Simon Untersander, Chefredaktor des Neuen Zürcher Anzeigers, ein ehemals ganz besonders radikaler Revolutionär, der unterdessen eine erfolgreiche bürgerliche Karriere gemacht hat.
Die letzte wichtige Figur, die es aus der Vergangenheit lebend in die Gegenwart geschafft hat, ist Charly Locher, bester Freund von Kommissarin Tessa Ott aus gemeinsamen Zeiten in einem besetzten Haus. Als ehemals Heroinsüchtiger stellt er die Verbindung zum sogenannten Platzspitzmilieu dar. Der Platzspitz, ein Park beim Zürcher Hauptbahnhof, war von 1986 bis 1992 Treffpunkt von Drogenabhängigen aus ganz Europa. Die Verbindung von Geschichte und Gegenwart erstreckt sich auch auf den Fall, der einen aktuellen Leichenfund mit einem Cold Case verbindet, der daraufhin – Zürich brennt eben immer noch – wieder neue Funken wirft. Die Figuren selbst mögen sich aber gar nicht so gerne an ihre Jugend zurückerinnern. Peter Herzog hat als Täter natürlich sehr gute Gründe für Gedächtnislücken, Simon Untersander hat als opportunistischer Journalist sowieso ein strategisches Verhältnis zum Erinnern, und beim hochbetagten Polizeikommandanten a.D. Max Alpiger ist es unklar, ob er sich nicht mehr erinnern kann oder will. 1980 ist, so Barbara Dietschi, eben „huere lang her“.
Geister aus dem Archiv
Der Film verlässt sich also nicht auf die Erinnerungen seiner Figuren, sondern legt sein ganzes Vertrauen in populäre und institutionelle Archive. Kommissarin Isabelle Grandjean, vorher in Den Haag mit dem Aufklären von Kriegsverbrechen beschäftigt, formuliert die Skepsis des Films gegenüber der (Zeit-)Zeug:innenschaft: „Das Archiv ist unser Gedächtnis“. Die Jugendbewegung um 1980 ist noch viel stärker als die Bewegungen von 1968 auch eine Videobewegung gewesen, die selbst an ihrem eigenen Archiv mitgewirkt hat.
Der Film inszeniert ausgiebig die verschiedenen Materialitäten der Aufzeichnungstechnologien. Er nutzt extradiegetische Einspielungen von Archivmaterial, das Bilder und O-Töne der Zeit einbringt. Tessa Ott findet eine VHS-Kassette mit für die Ermittlungen hilfreichen Filmaufnahmen von 1980. Das Zimmer von Tessa Otts Jugendfreud Charly ist ein Archiv der Gegenkultur: Im Hintergrund hängt ein Plakat der für die Schweizer Musik der Zeit wichtigen Compilation Swiss Wave The Album (1980), Fritz Zorns Roman Mars (1977) steht im Bücherregal. Ein vergilbtes Einsatzprotokoll der Razzia vom 24. Dezember 1980 spielt eine wichtige Rolle in der Aufklärung des Falls.

Still aus dem Tatort „Züri brännt“
Das Interesse an den medientechnischen Materialitäten der Vergangenheit schliesst an einen aktuellen Trend an, wie er keinesfalls ausschliesslich und als erstes, aber wohl am prominentesten von der Netflix-Serie Stranger Things dargestellt wird. Darin ist nicht bloss die vom Medium aufgezeichnete Vergangenheit Gegenstand der Nostalgie, sondern die Medien selbst werden zu Objekten, an die sich Erinnerungen knüpfen können. In dieser „Technostalgia“ (Tim van der Heijden) werden die „Medien der Erinnerung“ zu „erinnerten Medien“.
Doch bringen die Medien der Vergangenheit nicht nur wohlig-nostalgische Erinnerungen wieder, sondern auch Unheimliches. Seit Jacques Derrida das Puncept ‚Hauntology‘ in die kulturtheoretische Diskussion eingeführt hat, weiss man, dass unerledigte Dinge aus der Vergangenheit als Geister in der Gegenwart zurückkommen werden. Das ist auch beim Zürcher Tatort nicht anders, in dem gleich zwei Gespenster umgehen: Da ist die Leiche des todkranken Aussteiges Akuma, dessen wahre Identität bis kurz vor Ende des Films verborgen bleibt. Akuma, eigentlich der ehemalige Polizist Hans Peter Koller, hat 1980 zusammen mit dem Polizei-Täter Peter Herzog bei einer Razzia die Polizistin Eva Baumann ermordet, die unter dem Namen Ava Koch in die Jugendbewegung eingeschleust wurde und irgendwann die Seiten wechselte.
Evas, von der Familie unverändert belassenes, Jugendzimmer ist ein jugendkulturelles Archiv der späten 1970er Jahre: Als Indiz für ihren vor Familie wie Arbeitgeber verheimlichten Wandel ist noch eine Kassette der Band TNT im Rekorder eingelegt. Kommissarin Tessa Ott drückt auf Play und die Musik von früher stört die Ruhe des archivierten Raums. Von da an erscheint Eva/Ava verschiedenen Figuren als – Achtung: besonders subtile Symbolik schlangenzüngiger oder blutüberströmter Geist. Das ist die populäre Hauntology des Cold Case-Narrativs: Archive sind keine Ruhestätten der Mordopfer, sondern ihre Spukorte.
Blauer Traum
Trotz ihrer Liebe zum Archiv kann man der Folge keine Nostalgie vorwerfen – höchstens eine unbewusste Sehnsucht nach klaren politischen Frontlinien, denn ausgerechnet die beiden Figuren, die die Grenze zwischen Punk und Polizei überschreiten, tauchen nur als (Un-)Tote im Film auf: „Polizischtin und Punk. … En ungsunde Konflikt“, sagt Kommissarin Tessa Ott an einer Stelle über Eva/Ava, meint damit aber auch ein bisschen sich selbst.
Die ästhetische Frontlinie, die der Film zur „analogue nostalgia“ (Laura Marks) der Archivmaterialien aufmacht, könnte hingegen kaum grösser sein. Suggeriert das Intro noch Kontinuität zu Zürichdarstellungen der Zeit – auch Christian Schochs Reisender Krieger und Züri brännt (beide 1981) eröffnen mit einer Fahrt über die Rosengartenstrasse zur Hardbrücke –, steht die Körnigkeit der dokumentarischen und pseudo-dokumentarischen Aufnahmen der super scharfen, digitalen HD-Ästhetik des restlichen Films unverbunden gegenüber.
Sichtbarster Ausdruck dieser Suche nach filmtechnischer Gegenwärtigkeit ist die „animierte Geometrie“ (Matthias Dell) der zahlreichen Drohnenaufnahmen, die Zürich aus der Vertikalen zeigen. Drohnenaufnahmen sind in den letzten Jahren zu einem visuellen Standard geworden: Kaum noch eine Filmproduktion kommt ohne aus. Die stylischen Einstellungen des Zürcher Tatorts (Kamera: Martin Langer) unterscheiden sich aber in der abstrakten Qualität der orthogonalen Aufnahmen von der biederen Standardästhetik des Drohneneinsatzes im Fernsehen und suchen eher Anschluss an die abstrahierende Coolness der Drohnenfotografie.

Still aus dem Tatort „Züri brännt“
Coolness ist sowieso das Stichwort: Das Zürich im Tatort will so richtig cool sein. Ganz deutlich wird dies an der farblichen Gestaltung, die komplett auf Blaugrau und Blaugrün setzt. Diese Stimmung kalter – sprich, cooler – Farben wird in fast allen Einstellungen konsistent durchgezogen: Zürichs Aussenräume spiegeln sich graublau in Glasfassaden, die Innenräume und sogar die Kleidung der Figuren sind konsequent in gedecktem Grünblau bis dunklem Kobaltblau gehalten. Die kühlen Texturen der gentrifizierten, finanzstarken und internationalen Global City setzen sich in den unterkühlten Umgangsweisen der Figuren fort. Leben möchte man in diesem Zürich wirklich nicht.
In seinem unbedingten Willen zur hypercoolen Inszenierung von Zürcher Urbanität ignoriert der Film, dass die Bewegung von 1980 auch eine Auseinandersetzung um Stadt und städtisches Leben war, und das gerade auch mit filmischen Mitteln. Die alternative Video- und Filmproduktion der späten 70er, frühen 80er Jahre zeigte dabei ein feines Sensorium für Stimmungen und Materialitäten des Urbanen. Besonders deutlich wird dies in einem paradigmatischen Zürich-Film der Zeit, nämlich Fredi Murers Klassiker Grauzone (1978), der das als einengend und uniform signifizierte Grau des Schweizer Betons einfängt. Dem entgegen setzten sowohl Murer als auch andere Film- und Videomacher:innen das Grün der Natur, der Idylle.
Das blaue Zürich des Tatorts ist ähnlich uniform und kalt wie das graue Zürich Fredi Murers. Interessanterweise arbeitet die Kamera in Grauzone auch viel mit vertikalen Perspektiven, unter anderem aus dem Oerliker Swissôtel gefilmt. Während Murers Einstellungen in eine filmische Problematisierung von sozialer Kontrolle, Anpassungsdruck und fehlenden Freiräumen eingebettet sind und ihre eigene Verstrickung in das Spannungsverhältnis von Überblick und Überwachung reflektieren, findet Martin Langers Kamera ihr kaltes, blaues Zürich jedoch selbst ziemlich cool. Der kalte, graue Beton ist dem kalten Blau der Global City-Architektur gewichen. Die Grauzone ist zur Blauzone geworden.
Stadt des Wassers
Apropos Blauzone: Der Zürichsee ist häufiger Schauplatz im Film, immer eisig blau unter grauen Wolken. An seinem Ufer wird die erste Leiche gefunden; der Fundort wird in der ersten der ultracoolen Drohnenaufnahmen festgehalten. Eine ähnliche, blaustichige Drohnenaufnahme des Zürichseedamms hängt bei Peter Herzog im Büro, Eva/Ava hat «ein feuchtes Grab am Zürichsee» gefunden und auch Peter Herzogs Leben endet relativ traumatisch am Zürichsee.
Zürich ist eben, das verkündet das Zürcher Stadtmarketing mit reichlich Drohnenaufnahmen vom See, „City of Water“, die Stadt des Wassers. Diente der Zürichsee Ende der 1970er Jahre noch als Gegenraum zur Grauzone – in Murers Film als direkte Anspielung auf die 1935 gehaltene Seepredigt des Friedensaktivisten Max Daetwyler, aber auch als piratische Heterotopie im Videoclip zum «Boat Song» (1978) von Kleenex/LiliPut –, ist er im touristifizierten Blick (John Urry) des Stadtmarketings sowie im Tatort die bruchlose Fortsetzung der Blauzone.
Ihrem Titel entsprechend buchstabiert die Tatort-Folge das Motiv des Brands auf verschiedenen Ebenen durch. Sie beginnt mit einer brennenden Leiche, dazu spielt TNTs „Züri brännt“ (1979); sie endet mit einem brennenden Foto, dazu singt Tessa Ott Mani Matters „I han es Zündhölzli azündt“ (1973): „und die ganze Stadt hät brännt, es het sie niemert gschüetzt“. Die brennende Stadt ist ein etabliertes popkulturelles Motiv. Nur die Stadt des Wassers – Zürich – brennt nicht mehr.