Der vielleicht am besten geschützte und am wenigsten einsehbare Bereich in unserer heutigen Gesellschaft sind Firmen, Unternehmen oder Betriebe. All deine künstlerischen Arbeiten haben etwas mit dieser Arbeitswelt zu tun. Allerdings gehst du nicht wie z.B. Günter Wallraff inkognito in Fabriken zu Billiglohnarbeitern, um schlechte Arbeitsbedingungen oder Alltagsrassismus zu erforschen, sondern eher in Büros von Unternehmen. Was interessiert dich an dieser Arbeitswelt?
Marianne Flotron ist Künstlerin und stellt international aus. Für ihre Arbeiten erhielt sie u.a. 2003, 2007 sowie 2009 den Swiss Art Award, zudem wird ihre Arbeit vom Niederländischen Mondriaan Fonds unterstützt. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam.Marianne Flotron: Ich denke, dass sich die Mehrheit der in Europa Arbeitenden in einem Büro aufhält. Viele verbringen wohl mehr Zeit und Gedanken in der Umgebung des Unternehmens als in der Familie oder der Politik. Weil ich mich dafür interessiere, wie Systeme und Umgebungen Menschen beeinflussen, ist das Büro bzw. das Unternehmen für mich wichtig. Logischerweise hat das, was in den Unternehmen geschieht – d.h. Gepflogenheiten, Umgangsformen, Freiheiten, Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten etc. – mehr Einfluss auf die Gedankenwelt, oder besser: auf die Verhaltenswelt der Menschen, als das Umfeld der Politik. Und diese Gepflogenheiten können sehr variabel mit anderen Umgebungen in Beziehung treten und z.T. sogar ideologisch miteinander in Konflikt geraten. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Politik wird idealerweise diskutiert, im Unternehmen hingegen idealerweise akzeptiert. Könnte das nicht einer der Gründe sein, warum wir die Wirtschaft als allumfassende Macht akzeptieren?
Das ist ein wichtiger Punkt. Unser Alltagsverhalten und unser politisches Bewusstsein werden wesentlich durch Verhaltenskonditionierung „im Büro“ bestimmt. In der Arbeitswelt werden wir sozusagen auf Opportunismus getrimmt. Vielleicht könnten wir das anhand einer deiner Arbeiten vertiefen? 2011 bist du mit Theaterleuten in ein Unternehmen gegangen, um mit den Angestellten ein Stück über ihre Arbeit zu machen. Wie hat das funktioniert?
Für die Arbeit Work ging ich mit der Technik des Theaters der Unterdrückten (Theatre of the Oppressed) in ein Holländisches Versicherungsunternehmen. Das Theater der Unterdrückten wurde von Augusto Boal konzipiert, um zum einen auf Unterdrückung aufmerksam zu machen, aber vor allem auch um Mittel mitzugeben, die der Unterdrückung entgegenwirken und Widerstand ermöglichen. Es ist in den 1960er Jahren unter der Militärdiktatur in Brasilien entstanden.

Videostill aus Marianne Flotrons Arbeit „Work“ – „The Play“ (2011) (WORK ist produziert von der Kunsthalle Bern and Philippe Pirotte, unterstützt vom Mondriaan Foundation Amsterdam, Carola und Guenther Ertle- Ketterer Bern, Rijksakademie van beeldende kunsten, Amsterdam.)
Das Theater der Unterdrückten versucht normalerweise, politisch Unterdrückten die Praktiken ihrer Konditionierung und Disziplinierung bewusst zu machen. In deiner Arbeit „Work“, die man gerade in Zürich an der Manifesta sehen kann, trifft das Theater der Unterdrückten auf Büroangestellte in einer demokratischen Gesellschaft…
Der Arbeit liegt derselbe Gedanke zugrunde, den wir eingangs besprochen haben: In Europa definieren wir uns mehrheitlich über die Arbeit. Somit definieren wir uns eigentlich nicht durch ein demokratisches System, sondern durch ein äußerst kosteneffizientes und undemokratisches System. Ich wollte mit dieser Arbeit den Gedanken einer Demokratisierung der Arbeitswelt anstoßen, aber vor allem auch aufzeigen, inwiefern die kapitalistische Ökonomie Verhaltens- und Denkweisen der Mitarbeiter beeinflusst. In Europa befassen sich die Gruppen des Theaters der Unterdrückten sonst vor allem mit Menschen, die schlecht mit unserem System klarkommen wie z.B. Obdachlose oder schwer erziehbare Kinder. Meine Kritik daran ist, dass es oft darum geht, diese Menschen dann wieder an ein System anzupassen. Mir ging es eher darum, das System selbst zu betrachten. Wie soll ein System aussehen, an das wir die Obdachlosen anpassen wollen?

Marianne Flotron, „Work“ – „Hector’s Comment“ (2011)
Wie habt ihr mit den Angestellten gearbeitet?
Ich lud Hector Aristizabal ein – jemand, der diese Technik sehr gut beherrscht –, um mit den Angestellten der Firma zu arbeiten. Die Idee war es, ein „Forum“-Theaterstück zu erstellen und dann aufzuführen. Die Technik des Forum-Theaterstückes besteht darin, ein kurzes Stück zu inszenieren, welches Probleme oder Schwierigkeiten einer Gemeinschaft darstellt, in diesem Fall der Firma. Das Stück wird dann vor dem Rest der Gemeinschaft aufgeführt. Es wird einmal gespielt, und danach wird es wiederholt – mit der Aufforderung an die Zuschauer, einzugreifen. Sobald ein Zuschauer nicht einverstanden ist mit dem, was im Stück geschieht, darf sie/er unterbrechen und selber auf die Bühne gehen, um eine Alternative zu spielen. Die Arbeit bestand also darin, ein Stück zu konzipieren, welches die Probleme der Arbeitnehmer enthält und sie auffordert, über Alternativen nachzudenken.

Marianne Flotron, „Work“ – „Hector’s Comment“ (2011)
Bei der Firma handelt es sich um ein Unternehmen, das keine festgelegten Arbeitszeiten hat, vielmehr sind die Mitarbeiter – zeitlich – selbst verantwortlich für die Erledigung der Arbeit. Hector Aristizabal und du führen Gespräche mit den Mitarbeitern, um herauszufinden, ob sie Schwierigkeiten mit dieser Idee von Arbeit haben. Aristizabal sagt, wir stellen Fragen, die sich niemand selbst stellt. Bei den Gesprächen mit den Angestellten hat man den Eindruck, man befinde sich in einer neoliberalalen Diktatur bzw. selbst schon in einem Theater. Die Mitarbeiter beten die Firmenideologie herunter: Selbstverantwortung ist Freiheit, diese Freiheit macht uns glücklich, wer damit nicht glücklich ist, ist selbst schuld… D.h. die einzelnen suchen in neoliberaler Manier die Schuld immer bei sich, nie beim System. Sie richten ihre Aggressionen immer gegen sich, nie gegen die Firma. Im Resultat landet man bei Depression und Selbstmord, nicht bei Widerstand. Aristizabal resümiert, die Angestellten seien nicht nur unterdrückt, vielmehr realisieren sie noch nicht einmal, dass sie es sind…
Dass jeder die Schuld bei sich und nicht beim System sucht, ist für mich einer der zentralen Punkte. Wir sind selber zuständig für unseren Erfolg. Zu sagen, dass wir unterdrückt sind, kommt einem Versagen gleich. Und darum wird darüber nicht gesprochen, was Unterdrückung wiederum möglich macht. In Work ist das überall ersichtlich. Zum Beispiel, wenn eine Angestellte im Stück die vom Vorgesetzten gesteckten Ziele nicht erreicht und sich immer mehr in ihre Arbeit vergräbt. Sie hinterfragt nicht die Ziele oder die Firma, sondern nur sich selber. Interessanterweise sagte ein Vorgesetzter uns so nebenbei, dass die Ziele immer zu hoch gesteckt sind. In unseren Gesprächen mit den MitarbeiterInnen haben wir immer wieder betont, dass es uns nicht speziell um diese eine Firma geht, sondern um das Thema Arbeit im Allgemeinen. Die Arbeitnehmer sprachen aber durchweg nur davon, wie unglaublich toll ihre Arbeit ist, wie toll es ist, für diese Firma zu arbeiten – und vor allem auch, wie toll diese Form von Arbeit ist. Sie gaben uns, wie du sagst, die Firmenideologie wieder, die übrigens in jeder freien Ecke der Firma auf einem Plakat steht: Freiheit, Verantwortung und Vertrauen. Die Arbeitnehmer sprachen sogar gerne davon. Diese Schlagwörter werden angeboten und so lange gebraucht, bis sie zu „Mantras“ werden, die man jederzeit automatisch wiedergeben kann. Bei dem Wort Freiheit versteht man recht schnell, dass es um die Freiheit geht, selber zu entscheiden, wann und wo man arbeitet. Es geht also um eine recht restriktive Bedeutung, die nicht viel mit Freiheit zu tun hat. Das Wort wird aber so oft gebraucht, dass man die enge Konnotation zu vergessen beginnt. Beim Begriff Vertrauen ist schon schwieriger zu verstehen, was er in diesem Kontext bedeuten soll. Ich wollte sehen, was das beinhaltet, wenn die Abteilung Human Resources (HR) dieses Wort einsetzt und damit arbeitet.
Und was meinen sie damit?

Videostill aus: Marianne Flotron, „Utopia“ (2006)
Ich habe die HR-Mitarbeiterin gebeten, mit mir ein Rollenspiel zum Thema Vertrauen zu machen – so wie sie das üblicherweise bei Einstellungsgesprächen macht. Während des Gespräches zeigte sich, dass Vertrauen eigentlich bedeutet, dass der Vorgesetzte alles von mir weiß. Auch und vor allem private Probleme muss ich mit der Firma teilen, ich muss „verletzlich und offen sein, damit die Firma mir Vertrauen schenken kann“. Von Vertrauen wird aber auch gesprochen, wenn es einen Vertrauensbruch seitens des Arbeitnehmers gibt, dieser wird sofort mit Entlassung bestraft. In der Mensa hat es z.B. keine Kassiererinnen. Es wird an einem Automaten bezahlt. Wenn nun Mitarbeiter beobachten, dass jemand nicht bezahlt, wird er sofort entlassen. Dadurch entsteht allerdings eine Art internes Polizei-System, das eigentlich das Gegenteil von Vertrauen ist.
Wenn man deine Videoinstallationen anschaut, weiß man oft nicht, ob man es mit Schauspielern des Forum-Theaters zu tun hat oder mit den Mitarbeitern der Firma. Ich nehme an, dass diese Verunsicherung zu deiner künstlerischen Strategie gehört. Für mich ist sie sehr interessant, weil sie mich dazu zwingt, bei allem, was ich sehe, zu fragen, wo das Theater ist und wer welche Rolle spielt…
Genau, das ist auch eigentlich ein Element, das sich durch meine ganze Arbeit zieht. Durch diese Verunsicherung, durch diesen Zweifel hoffe ich, die Betrachter auf eine andere Ebene zu führen. Indem ich SchauspielerInnen in eine bestehende Situation bringe, versuche ich für die Betrachter eine Distanz zum Geschehen herzustellen. Dieser Zweifel oder Bruch ermöglicht, das Geschehene anders betrachten zu können, zu hinterfragen. Gleichzeitig interessiert mich auch die Frage, und das will ich auch mit meiner Arbeit ausloten, wann lernt man eine Rolle, wann und wie wird sie angeeignet und dann ausgeführt? Wann vergisst man die Rolle, d.h. wann identifizieren wir uns mit der Rolle? Wieweit sind die Verhaltensweisen der MitarbeiterInnen eine Rolle? Rollen werden kreiert, behauptet, unterfüttert und irgendwann gerechtfertigt. Und die Firmen trainieren ja diese Rollen. In dem Sinne treffen die Mitarbeiter-Rollen auf die Schauspieler-Rollen. Diese Verbindungen herzustellen, finde ich interessant.
Aber für dich ist nicht nur diese Verunsicherung, sondern auch die Intervention der Schauspieler wichtig? Denn für dich geht es ja nicht um die Erkenntnis, dass wir alle Theater spielen, wie das Nikolaj Evreinov (schon 1910) und Erwing Goffman (in den 1950er Jahren) untersucht haben, sondern um die Frage, wie man dem einen Theater – dem Firmentheater – mit einem Gegentheater antworten kann.
Ja, die Schauspieler sind bei mir wichtig, weil sie Behauptungen aufstellen können. Ähnliche Behauptungen wie jene, die auch die Firma macht, z.B. dass wählbare Arbeitszeiten Freiheit bedeuten. Eigentlich versuche ich in beinahe allen meinen Arbeiten die Gegebenheiten oder Zustände zu destabilisieren. Ich will sie nicht fiktionalisieren, sondern nur destabilisieren, um die Fiktionalisierung und die Absurditäten, die den Gegebenheiten selbst innewohnen, an die Oberfläche zu bringen. Idealerweise wird dann die Realität für einen Moment als Fiktion wahrgenommen. Ich denke, das erlaubt eine ganz andere Bearbeitung der Realität.

Videostill aus: Marianne Flotron, „Fired“ (2007) („Fired“ ist unterstützt von der Rijksakademie van beeldende kunsten, Amsterdam.)
In „Work“ bringt ihr das Theater ins Büro, in „Fired“ macht ihr das Theater sichtbar, das in der Firma schon stattfindet. In „Fired“ filmst du eine Schulung für Manager, bei der diese lernen, wie man jemanden entlässt, ohne das Wort „Entlassung“ zu benutzen. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob das euer Theater ist oder das Theater, das die Firmen veranstalten…
Fired zeigt ein echtes Training, bei dem Manager lernen, Entlassungen vorzunehmen. Und auch hier geht es um das Antrainieren einer Terminologie, um die eigentliche Situation zu verwischen. Fired ist so aufgebaut, dass sich der Betrachter mit dem entlassenen Mitarbeiter identifiziert. Erst am Schluss des Videos wird klar, dass es sich um ein „echtes Training“ handelt und der entlassene Mitarbeiter eigentlich der Trainer ist. Damit wird die Identifikation des Betrachters enttäuscht und man begreift die Absurdität der Situation.
Nimmt die Bedeutung des Rollenspiels in der Arbeitswelt zu, verändert sie sich? Was sind deine Beobachtungen?
Die Firmen gehen sehr weit, wenn sie Verhaltenstrainings einfordern. Sie greifen auf Techniken zurück, die am Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelt worden sind und heute in vielen Bereichen der Psychologie angewendet werden. Der wichtigste Bereich ist das Training der Angestellten: Optimierung. Durch die Rollenspiele, die ganz an der Basis des aneignenden Lernens ansetzen, werden Verhaltensweisen klar beeinflusst und verändert. Das passiert auch durch die Verschiebung des Vokabulars – über die Neukodierung von ‚Freiheit‘ und ‚Vertrauen‘ hatten wir ja schon gesprochen. Man kann umgekehrt auch immer deutlicher beobachten, wie die Businessterminologie im Privatleben übernommen wird. Der Mann einer Mitarbeiterin zum Beispiel beklagte sich, dass sie zu viel Zeit mit ihrer Arbeit verbringe. Sie selbst sagte, sie sei gespalten zwischen der „Verantwortung der Firma gegenüber“ und der „Verantwortung ihrem Mann gegenüber“. Das Privatleben, der Mann, wird plötzlich nach den Massstäben der Firma als Verantwortung wahrgenommen… In weiterführenden Rollenspielen kam auch heraus, dass die Arbeitnehmer sich meistens für die „Verantwortung gegenüber der Firma“ entscheiden: für eine schnelle, effiziente „Lösung des Problems“. Diese Trainings formen aber nicht nur den privaten Arbeitnehmer, sondern auch den Arbeitnehmer als a-politisches Subjekt.
Ja, allerdings. Es ist unheimlich, in einer Gesellschaft zu leben, die auf diese Idee von Freiheit konditioniert wird. Bei deinen Beispielen wird deutlich, dass da kein Widerstand und keine Systemkritik mehr zu erwarten ist, weil der einzelne die Kritik nur an sich selbst adressiert. Bleibt abschliessend die Frage, warum dir die Firmen, in bzw. mit denen du arbeitest, diese Interventionen gestattet haben und wie sie darauf reagierten?
Sie haben zugestimmt, weil sie von ihrer Arbeitskultur überzeugt sind, ja sogar stolz darauf sind, wie es die HR-Mitarbeiterin formulierte. Und diese Arbeitsplätze sind sehr begehrt, z.B. bei Google wird auch so gearbeitet. Was die Konsequenzen dieser Arbeitsweise sind und wie sie unsere Gesellschaft spiegeln und beeinflussen, das beschäftigt die Firmenspitze kaum. Und das ist ja genau das Problem. Nicht das Problem der Firmenspitze natürlich, sondern das der Gesellschaft. Das Gespräch mit den Leuten vom Theater löste bei der Firma und vor allem bei den wenigen Angestellten, mit denen wir arbeiteten, eine Bewusstseinsänderung aus. Die dauerte aber leider nicht sehr lange an, für die Firma war das Nachdenken abgeschlossen, sobald wir weg waren. Ich konnte die Arbeit nur unter der Bedingung machen, dass ich die Firma nicht nenne. Und das war für mich bestens, da es mir ja auch nicht um diese eine Firma geht, sondern um das ganze System. Ich wollte etwas Unsichtbares sichtbar machen.