Biopolitik lässt sich in einem engen Sinne definieren als die politische Gestaltung der Frage, welches menschliche Leben vom Staat geschützt und welchem der Schutz entzogen wird. Gegenwärtig befinden sich diesbezüglich vor allem zwei Themen auf der Agenda: Die Regelung der Transplantationsmedizin und der Umgang mit der Covid 19-Pandemie. Die beiden Themen scheinen weit auseinander zu liegen. Aber aus den Erfahrungen mit der Transplantationsmedizin lässt sich etwas für die Analyse der Pandemie-Politik lernen, wenn beide unter dem Blickwinkel der Biopolitik betrachten werden.
Eine zweckdienliche Todesbestimmung
Im September 2021 beschloss mit dem Ständerat auch die 2. Kammer des Schweizer Parlaments nach kurzer Diskussion eine markante Verschiebung im Umgang mit sterbenden Personen: Künftig soll bei Sterbenden, für die kein expliziter Einspruch nachweisbar ist, nach Diagnose des irreversiblen Funktionsausfalls des gesamten Gehirns sämtliche Organe zu Transplantationszwecken entnommen werden können. So genau steht das allerdings nicht im Gesetzestext; denn laut Gesetz (auch in seiner bisherigen Fassung) sind diese Menschen schon tot – auch wenn sie mit apparativer Unterstützung noch atmen, kleinere Wunden noch heilen, sie während der Organentnahme sich womöglich bewegen, wenn sie jung sind, noch wachsen und pubertäre Veränderungen in ihrem Körper vorgehen. Dass Tote auf Verletzungen reagieren und gar pubertieren können, scheint ein Widerspruch; aber der ist, so hat die Politik praktisch aller Länder sich überzeugen wollen, nur ein Schein. Denn, siehe die deutsche Bundesärztekammer in ihrer noch heute gültigen Wegleitung zur Organtransplantation: „Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“ Wer das merkwürdig findet, wird routinemässig auf den höheren Rang wissenschaftlicher Erkenntnisse verwiesen, vor der die Anschauung der Laien und ihre rein emotionalen Widerstände zu schweigen hätten. Hört auf die Vernunft, lautet der Appell, nicht auf euren Bauch.
Vernunft und Wissenschaft, an die man dabei appelliert, setzen Zweckdienlichkeit an oberste Stelle: Weil es leichter zu rechtfertigen scheint, Toten Organe zu entnehmen als Lebenden, und seien sie an der Schwelle des Todes, erklärt man Lebendige, die für diese Zwecke dienlich scheinen, zu Toten. Die Geschichte des Hirntodkonzepts lässt daran keinen Zweifel.
Vom Tod zum Hirntod
Das Hirntodkonzept entstand vor gut fünfzig Jahren, als zwei medizinisch-technische Entwicklungen zusammenkamen: Erstens ermöglichte es die Intensivmedizin, schwer Hirnverletzte, deren Spontanatmung ausgefallen war, über längere Zeit zu stabilisieren; zweitens standen operative Techniken und medikamentöse Therapien bereit, um zentrale, lebenswichtige Organe zu transplantieren. Das ikonische Ereignis war die erste Herztransplantation, durchgeführt 1967 von Christiaan Barnard in Südafrika. Für die Transplantation muss ein Herz aus einem Körper mit aktivem Blutkreislauf entnommen werden – einem Körper also, der nach herkömmlicher Vorstellung noch lebt. In Japan kam es deswegen nach der ersten Herztransplantation zu einem Mordprozess. Die noch junge Erfahrung auf den Intensivstationen mit Hirnverletzten im tiefen Koma schien einen Weg aus dem Dilemma zu eröffnen: denn bei ihnen fehlten zentrale Lebenszeichen wie die spontane Bewegung oder die Reaktion auf Umweltreize; sie schienen, mit einem englischen Ausdruck, „dead to the world“. So definierte ein von der Harvard-Universität 1968 eingesetztes Ad-hoc-Komitee vier Kriterien für die Interpretation und Diagnose dieses todesgleichen Zustands: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe, sowie (4) zur Bestätigung der fehlenden Hirnaktivität ein flaches Elektroenzephalogramm (EEG). Es zeige sich an den fraglichen Fällen die Notwendigkeit der Gehirntätigkeit für das Leben: der irreversible Funktionsausfall des Gehirns bedeute nicht nur das Ende der Erlebnis-, Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit, sondern das Ende des Lebens. Das Vorliegen dieser Kriterien rechtfertigte nach Meinung des Komitees daher, den Tod festzustellen. Das würde es ermöglichen, die kostenintensiven Massnahmen zur Lebenserhaltung ohne weitere Abwägungen zu beenden und auch lebenswichtige Organe der Betroffenen zur Transplantation zu entnehmen. Das Komitee deklarierte ganz offen, dass seine Überlegungen utilitaristisch motiviert waren: Es ging darum, von der Gemeinschaft überflüssige Kosten abzuwenden und durch die Transplantationen anderes Leben zu retten. Darüber hinaus nahm es rhetorisch eine entscheidende Weichenstellung vor, indem es ältere Todesvorstellungen angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin für „obsolet“ erklärte. Dieses Beispiel machte schnell Schule. In der Folge entstand ein Diskurs, in dem regelmässig Vernunft und Wissenschaft mit Akzeptanz des Hirntodkonzepts gleichgesetzt und Widerspruch dagegen als bloß emotionale Reaktion abgewertet wurde.
Die Neubestimmung des Lebens – trotz widersprüchlicher Evidenzen
Die medizinische Erfahrung der folgenden Jahre förderte jedoch irritierende Evidenzen zutage. Es zeigte sich, dass als „hirntot“ Diagnostizierte sich spontan bewegten, bei Operationen zur Organentnahme auf das Ansetzen des Skalpells reagierten, und sogar Föten im Körper hirntoter Patientinnen heranwachsen konnten. Derartige Vorkommnisse widersprachen offensichtlich den Gründen, die das Harvard-Komitee für die Gleichsetzung von irreversiblem, tiefen Koma und Tod vorgebracht hatte. Nach der traditionellen Vorstellung von wissenschaftlicher Empirie hätte dies dazu führen müssen, das Konzept zu verwerfen. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen erklärte man die fraglichen Erscheinungen für irrelevant: Die erwähnten Phänomene seien keine Lebenszeichen, weil sie ohne Beteiligung des Gehirns erfolgten – eine klare petitio principii. Der nie korrigierte Rückgriff auf diesen Fehlschluss zeigt: Der „Hirntod“ ist kein wissenschaftliches diagnostisches Kriterium für das, was man bisher unter Tod verstand. Er ist eine neue Definition des Todes.
Diese neue Definition wirkt auch auf das Verständnis zurück, was menschliches Leben ist. Mit dem Hirntodkonzept wird das funktionierende Gehirn zu seinem essenziellen Kriterium erklärt. Der restliche Körper, auch wo er Zeichen integrierter organischer Tätigkeit aufweist, zählt nicht mehr. Die von Lebensgewohnheiten, Status, Beruf, emotionalen Erfahrungen, sozialem Umgang und ähnlichem geprägte Ausbildung seiner Struktur gilt als irrelevant. Sein Charakter als lebendiger Ausdruck und Bild der Person wird ignoriert. Es ist nicht per se abzulehnen, dass sich die Wissenschaft einen neuen Begriff vom Tod oder vom menschlichen Leben macht und diesen in die Gesellschaft trägt. Wissenschaftliche Redlichkeit gebietet es aber, dass die Verschiebung des Begriffs nicht verschleiert wird, wie durch die Behauptung, es gehe hier nur um ein diagnostisches Kriterium. Dass Gesellschaften und Politik diese sophistische Wendung mitmachen, zeigt, wie sehr sie sich auf einen rein pragmatischen Umgang mit existenziellen Fragen eingelassen haben.
Leitend ist der Gedanke der Nützlichkeit, die Wahrheit ist bestenfalls zweitrangig: Wo der lebendige menschliche Körper nicht mehr etwas leistet, und sei es als Ort der Erfüllung von Wünschen oder Bedürfnissen, die einer mit ihm verbundenen Person angerechnet werden, soll er zumindest als Ersatzteillager verwertet werden. Das formuliert die aktuelle Neufassung des Transplantationsgesetzes als allgemeinen Anspruch und deklariert es damit zum Ausdruck öffentlicher Vernunft. Als postliberaler Staat erlaubt die Schweiz den Widerspruch, der aber damit als unerwünschte Ausnahme deklariert ist. Das Hirntodkonzept erleichtert diese Ausweitung der Ansprüche der Gesellschaft auf Organe im noch lebenden Körper mit der Suggestion, diese Körper seien schon tot.
Biopolitik um den Preis der Wahrheit
Die Wissenschaft beteiligt sich an einer Biopolitik, die auf maximale Verwertung des menschlichen Lebens ausgerichtet ist. Der Begriff „Biopolitik“ wurde ursprünglich von Michel Foucault ins Spiel gebracht, um die eigentümliche Verbindung von Lebenswissenschaft und Politik in modernen Staaten zu bezeichnen: Biopolitik macht die natürlichen Prozesse am menschlichen Leben zum Gegenstand politischen Handelns – von Nahrungsmittelgesetzen bis zur Geburtenpolitik und Eugenik. Sie geht mit dem Versprechen einher, dass der Staat das Leben der Bevölkerung schützt, erweitert aber auch die Eingriffe des Staates in basale Vorgänge und Handlungen. Sie werden abgestützt durch die Kooperation von Politik und Naturwissenschaft. Die Kombination von staatlicher Fürsorge und wissenschaftlicher Fundierung legitimiert diskursiv die Ausweitung der Macht des Staates bis auf elementare Lebensvorgänge. Die Frage, wer in diesem Diskurs welche Möglichkeiten hat, seine Interessen vorzubringen und durchzusetzen, gehört zum kritischen Kern des Begriffs Biopolitik.
Philipp Sarasin hat vor einiger Zeit in diesem Magazin vor der unbedachten Verwendung des Begriffs gewarnt, gerade auch im Zusammenhang der COVID-Pandemie. Doch die Festlegung auf das Hirntodkonzept im Transplantationsgesetz, erst recht im Verein mit der Einführung der Explantation aus hirntoten Körpern als Regelfall, erfüllt die von ihm selbst angeführte, engere Definition von Biopolitik: es geht um eine politische Festlegung, welche menschlichen Körper als lebendige Menschen zählen dürfen und unter welchen Bedingungen lebendige oder lebensfähige Organe aus Menschen entnommen werden dürfen, um anderen Menschen das Weiterleben zu ermöglichen, kurz: „was leben soll und was sterben kann“ (oder muss).
Die Regelung der Transplantationsmedizin nicht einfach als bioethische, sondern als biopolitische Frage anzusehen, ermöglicht einen besseren Blick auf das Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik in diesem Fall. Denn die besagte politische Festlegung wird im Namen der Wissenschaft getroffen. Die Berufung auf die Wissenschaft markiert die Gegenposition als irrational. Sie dient dazu, die inhaltliche Auseinandersetzung zu beenden. Sie ist aber irreführend, ausser Wissenschaft ist nur der Name für bestimmte Forschungsinstitutionen und ihre Tätigkeiten, egal was diese tun.
Der Fall des Hirntods hat damit eine Entwicklung vorgezeichnet, die sich im politischen Diskurs zur Pandemie wiederfindet. Auch hier geht es um die Frage «was leben soll und was sterben kann», und nicht etwa um den bestmöglichen Schutz aller gefährdeten Gruppen. Auch hier wurden im Namen der Wissenschaft Massnahmen der Diskussion entzogen, die einzelne Teile der Bevölkerung gerade nicht schützen, sondern gefährden: das betrifft in den Lockdowns etwa jene, deren Lohnarbeit „systemrelevant“, aber schlecht bezahlt ist und den Arbeitenden kaum Schutz gewährt. Sie mussten einerseits durchweg zur Arbeit vor Ort erscheinen und sind andererseits ausserhalb der Arbeitszeit in beengten Wohnungen zusammengedrängt. Man setzte sie so einem höheren Ansteckungsrisiko aus, bei gleichzeitig grösserer Gefahr schwerer Krankheitsverläufe. Noch mehr galt dies für prekär Beschäftigte, Wohnungslose und Sans Papiers, denen zudem der Erwerb des Lebensnotwendigen erschwert wurde. Ähnliche paradoxe Auswirkungen hat die Zertifikatspflicht, da Geimpfte ansteckend sein können, aber so behandelt werden, als wären sie es nicht. Die Corona-Politik in der Schweiz wie in Deutschland schützt also Leben und Gemütsruhe der «professional-managerial class», die aus komfortableren Wohnverhältnissen zuhause arbeiten kann, und nicht die Schwachen in der Gesellschaft.
Jürgen Habermas hat kürzlich in einer geradezu infam vagen Formulierung insinuiert, man müsse „Corona-Leugner“ sein, um Massnahmen wie den Lockdown oder das Corona-Zertifikat als Zugangsbedingung zum gesellschaftlichen Leben als „Auswuchs einer Biopolitik zu verurteilen“ –ein starkes Stück vom Erfinder des herrschaftsfreien Diskurses und des Begriffs kommunikativer Vernunft. Damit diffamiert er nämlich nicht nur kritische Rückfragen zu den fraglichen Massnahmen und ihren politischen Hintergründen, sondern gleich auch noch das analytische Instrument, mit dem sich das Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft unter dem Aspekt der Machtverhältnisse und Diskursformationen analysieren lässt. Wo, wie bei der Transplantationsmedizin oder einer Pandemie, die Frage „wer leben soll und wer sterben kann“ politisches Thema wird, müssen aber gerade die Machtkonstellation des Diskurses, die Rollen von Wissenschaft und Politik und die Verteilung von Nutzen und Schaden in der Gesellschaft ausgeleuchtet werden, anstatt in wohlfeiler Abstraktion darüber hinwegzugleiten.