
Wie oft in Krisenzeiten blühte in den 1870er Jahren im Deutschen Kaiserreich der Judenhass. Während damals die angeblich unlauteren Geschäftspraktiken und Börsenspekulationen von Juden für die wirtschaftliche Depression verantwortlich gemacht wurden, klagt man Juden heute als „globalistische“ Verschwörer und Antreiber einer Klima- und Impfdiktatur an. Im November 1879 unterstellte der Historiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke in den konservativen Preußischen Jahrbüchern den deutschen Juden, eine „nationale Sonderexistenz“ anzustreben. Sein Fazit „Die Juden sind unser Unglück!“ ist ein Beweis, wie tief der Antisemitismus in den intellektuellen und akademischen Eliten verbreitet war. Treitschkes von völkisch-antisemitischen Parteien begierig aufgegriffenes und als Motto des nationalsozialistschen Stürmer verwendete Verdikt löste eine Debatte aus, die als „Berliner Antisemitismusstreit“ in die Geschichte einging; namentlich der renommierte Althistoriker Theodor Mommsen stellte sich Treitschke entgegen.
Treitschke ist erneut Gegenstand eines Antisemitismusstreits in Berlin. Im dortigen Rheingauviertel ist eine Straße nach dem borrussischen Reaktionär benannt, dessen Beiträge zur Geschichtswissenschaft trotz schneidender Kritik immer noch als Klassiker gewürdigt werden. Auch in Städten wie München wohnt man noch in der Treitschke-Straße, dort haben sich mittlerweile Bürgerinitiativen für eine Umbenennung gebildet, und zwar zugunsten des von Treitschke persönlich attackierten jüdischen Theologen Heinrich Graetz, Verfasser einer mehrbändigen „Geschichte der Juden“. Im Stuttgarter Vorort Sillenbuch billigte 2010 der Verwaltungsausschuss einstimmig die Umwidmung in Fritz-Bauer-Straße, benannt nach dem in Stuttgart geborenen Generalstaatsanwalt und Anklagevertreter im Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965. In Berlin war eine ähnliche Initiative 2013 am Widerstand der Bezirksverwaltung Steglitz gescheitert – und am Unwillen der Bewohner und Geschäftsleute, die mit preußischen Professoren nicht viel anfangen können, aber Ausweispapiere, Briefköpfe und Visitenkarten nicht ändern wollten.
290 Namen
Der Streit könnte in Berlin jetzt wieder aufflammen und dann auch deutsche Größen wie Martin Luther und Richard Wagner betreffen. Der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn hat den Leipziger Politologen Felix Sassmannshausen mit einer Studie beauftragt, die im Anschluss an die Debatte um kolonialistische Relikte weitere Straßen und Plätze identifizieren soll, deren Namen „nach heutigem Demokratieverständnis negativ belastet sind und die Beibehaltung nachhaltig dem Ansehen Berlins schaden würde“. Auf der Liste finden sich 290 Namen von Straßen und Plätzen in Berlin (von insgesamt 10 500), überwiegend benannt nach Angehörigen des Hauses Hohenzollern, weiteren Theologen (wie der anfängliche Antisemit und spätere Widerständler Martin Niemöller) und Künstlern wie unter anderen Richard Strauss. Sassmannshausen empfiehlt drei Kategorien: sofortige Umbenennung, (digitale) Kontextualisierung, weitere Prüfung.

Quelle: ab-berlin-immobilien.de
Daraus ergibt sich ein interessantes Problem der Praxisrelevanz historischer Forschung für das Leben. Soll Martin Luther weiterhin als der protestantische Kirchenreformer gewürdigt, dürfen Wagner-Opern noch aufgeführt, Verdienste eines Pastor Niemöller für die Friedensbewegung gewürdigt und der Attentäter des 20. Juli, Schenk Graf von Stauffenberg jährlich gefeiert werden, aber keine Straßen nach ihnen benannt bleiben, weil sie unbestreitbar Juden abwertende Äußerungen getan haben? Gibt es auch eine Berührungsschuld bei Konrad Adenauer, dem Vorgesetzten von Hans Globke, der ein maßgeblicher Kommentator der Nürnberger NS-Rassegesetze war? Ist die Umwidmung einer Straße Vorspiel einer umfassenderen Relativierung ihrer Werke, also einer Entehrung, die nicht mehr zwischen Person und Werk unterscheidet, sondern die Person fürs Werk nimmt? Sassmannshausen empfahl auch die Streichung von Straßen, die nach Wagner-Opern (Rienzi, Tannhäuser, Walküre) benannt sind.
Dazu gehen die Meinungen erwartungsgemäß weit auseinander. Für den Historiker Hubertus Knabe wäre Umbenennen ein „totalitärer“ Akt, der ihn an einschlägige Diktaturpraktiken in Deutschland erinnert; Remko Leemhuis hingegen, der Direktor des American Jewish Committee in Berlin sähe darin „eine Möglichkeit, über den Umgang mit der Geschichte neu und auf Höhe der Zeit nachzudenken. Das Reflektieren über Vergangenes gibt es seit Menschengedenken und sollte doch gerade in einer liberalen Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein.“ Er schlägt vor, in Zweifelsfällen darüber zu streiten, ob die Namenstafeln hängen bleiben und einen erläuternden Zusatz erhalten, der die jeweilige antisemitische Verstrickung hervorhebt. Man könnte der Straße auch einen zweiten Namen anfügen, der Opfer antisemitischer Diskriminierung und Gewalt würdigt.
Nützen Umbenennungen?
Der ungewollte Effekt einer unkommentierten Umwidmung könnte nicht etwa ein größeres Geschichtsbewusstsein sein, sondern eher eine damnatio memoriae unterstützen, die mit dem symbolischen Akt der Streichung ungewollt einen Schlussstrich unter eine Vergangenheit zieht – die vom Namen her vergehen soll, aber eben nicht dadurch vergeht, dass ihre Akteure in zwei, drei Generationen keiner mehr kennt, wenn sie eventuell auch in Schulbüchern und Bibliotheken zur Vermeidung unguter Gefühle aussortiert worden sind. Passanten würde der historische Judenhass eines Martin Luther und der Antisemitismus eines Richard Wagner mit Zusätzen stets besser gegenwärtig bleiben, wenn sie die Bibel aufschlagen und „Rheingold“ anschauen.

Nazi-Schmierereien auf jüdischem Friedhof; Quelle: tagesspiegel.de
Namensstreitigkeiten und Denkmalsstürze können eine paradoxe Nutzlosigkeit produzieren, wenn der interne, vornehmlich im links-liberalen Milieu ausgetragene Streit, der leicht unversöhnliche Züge annimmt, den aktuellen Antisemitismus (und Rassismus) gar nicht erreicht. Der Berliner Senat bilanzierte für 2021, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin noch einmal deutlich angestiegen ist – mit Körperverletzungen und Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Hasskommentaren, zuletzt animiert durch sogenannte Querdenker und einen unreflektierten Antizionismus. In Deutschland und Europa greift eine antisemitische Deutung der Corona-Pandemie um sich und deklarieren Souveränisten Juden als Treiber des Programms der angeblichen „Umvolkung“. „Jews will not replace us“ lautet der aus den USA importierte Slogan. In Deutschland wurden 2020 rund 2300 antijüdische Straftaten verzeichnet, im folgenden Jahr gab es noch einmal eine Steigerung um 30 Prozent. Jede Maßnahme gegen heutige aktive Judenfeindlichkeit hat Priorität und eine entscheidende Frage ist, ob und wie Betroffene antisemitischer Parolen und Handlungen durch eines der genannten Straßenschilder „großer Deutscher“ beeinträchtigt werden.
Kommt dabei ein angemessen kontextualisierter Straßenname ihrem Wunsch nach dem Wachhalten einer verbrecherischen Vergangenheit nicht eher entgegen? Hubertus Knabe, langjähriger Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, ist im aktuellen Zusammenhang polemisch geworden: „Es sagt eine Menge aus über die politische Kultur der Bundesrepublik, wenn 30 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch massenhaft die Epigonen der kommunistischen Diktatur gewürdigt, die Opfer und der Widerstand hingegen vergessen werden – und sich niemand daran stört.“ Was also: Soll man die Namen Ernst Thälmann und Clara Zetkin abschrauben, die von Martin Luther und Richard Wagner aber nicht? Das wäre zweierlei Maß. Es muss wohl beide ertragen, wer die katastrophale Dimension unserer historischen Vergangenheit im vollen Umfang gegenwärtig halten will. Es gibt übrigens im Berliner Dossier wenigstens einen Fall, der doppelt betroffen wäre: Karl Marx. In seiner frühen Schrift „Zur Judenfrage“ schrieb er, selbst jüdischer Herkunft, so markante Sätze wie „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Sassmannshausen hat Marx zu Recht als Zweifelsfall deklariert, doch in Wien haben 2020 Petenten der Black Lives Matter-Bewegung die unverzügliche Umbenennung des berühmten Karl Marx-Hofes verlangt.
„Bischöflich-Geistlicher-Rat-Josef-Zinnbauer-Straße“

Karl Marx-Allee, 1960er Jahre; Quelle: museumderdinge.de
„Canceln“ oder Kontextualisieren – in Deutschland mit seinen zahlreichen Regimewechseln im 19. und 20. Jahrhundert muss dies schließlich selbst Gegenstand historischer Reflexion werden. Exemplarisch wird der achtfache Namenswechsel ein und derselben Straße im Erfurter Ortsteil Ilversgehofen binnen eines Jahrhunderts genannt: Vor der Eingemeindung hieß sie Hauptstraße, von 1912 bis 1933 Poststraße; 1933 bis 1945 wurde sie systembedingt nach Horst Wessel, 1950 bis 1961 nach Josef Stalin und 1961 bis 1990 nach Karl Marx benannt, in kurzen Interims hieß sie Straße der Guten Hoffnung, Weißenseer Allee und seit 1990 Magdeburger Allee. Anders als in den USA, in Japan und in Teilen Mannheims, wo Straßen nummeriert oder durchbuchstabiert sind und dadurch eine Richtungsorientierung möglich wird, herrscht in den meisten Städten Europas eine dem Orientierungssinn nicht unbedingt entgegenkommende Vielzahl von Straßen- und Platznamen vor. Die Hauptstraße war einmal die wichtigste Straße eines Ortes, nach Bahnhof, Post oder Gewerbearten wurden physische Markierungen angeboten, „Weißensee“ und „Magdeburg“ weisen Richtungen, die „Krumme Straße“ oder „Schöne Aussicht“ versprechen Anschaulichkeit, die sich nicht immer einstellt.
Die später einsetzende Benennung von Straßen und Plätzen nach Personen bildete stabile Dichter-, Künstler-, Musikerviertel und Ingenieurs- und Managerviertel, während die politische Nomenklatur variabel blieb und in der NS-Zeit wie in beiden Teilen Deutschlands propagandistische Funktionen hatte. Was, wie sich jetzt wieder zeigt, zu teilweise erbitterten Namensstreitigkeiten führt. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg-Friedrichshain, eine Hochburg alternativer Szenen, gilt der Beschluss, mindestens die Hälfte der Straßen nach weiblichen Personen zu benennen. Der Platz vor dem Jüdischen Museum konnte deswegen nur nach Moses Mendelssohn benannt werden, wenn der Philosoph gemeinsam mit seiner Ehefrau Fromet geehrt wurde – wohl ein praktisches Beispiel für Intersektionalität. Ob solche Bandwurmnamen, extrem im Fall der „Bischöflich-Geistlicher-Rat-Josef-Zinnbauer-Straße“ in Dingolfing, Anwohner freut, ist eine andere Frage. Der Kampf um namentliche Würdigung (bzw. Entehrung) wird dann zum Ärgernis, wenn ihre symbolische Bedeutung die deiktische Funktion von Straßennamen bei Weitem übersteigt. Im Zeitalter von Google Maps werden Suchende ohnehin auf die „neutrale“ Georeferenzierung nach Standort und Postleitzahl zurückgreifen.
Fazit: Eine längst sinnentleerte Treitschkestraße braucht wirklich niemand, Verantwortliche von Genoziden und Kriegsverbrechen werden zu Recht aus dem Straßenbild entfernt. Doch Kant, Fichte, Hegel und Marx ob ihrer zeitbedingten Vorurteile (die sie zum Teil selbst zu überwinden beigetragen haben) löschen zu wollen, wäre ahistorische Zensur. Die weiterhin offene Frage ist, ob Umbenennungen und Denkmalsstürze einen substanziellen Beitrag zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus leisten können.