Das Grundgesetz verbietet die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. Trotzdem sollten während der Pandemie Beatmungsgeräte nach „Gebrechlichkeit“ verteilt werden, bis das Bundesverfassungsgericht dies untersagte. Zwischen der juristischen Gleichberechtigung und der tatsächlichen Gleichstellung klafft eine gewaltige Lücke.

  • Raphael Rössel

    Raphael Rössel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der FernUniversität in Hagen. Zuletzt erschien seine Dissertation zur Alltagsgeschichte westdeutscher Familien mit behinderten Kindern.

Am 28. Dezember 2021 feierte der deut­sche Akti­vismus für die Rechte behin­derter Menschen einen großen Erfolg. Das oberste Gericht des Landes gab an diesem Tag einer Verfas­sungs­be­schwerde von neun Menschen mit Behin­de­rungen recht. Der Inklu­si­ons­ak­ti­vist Raul Kraut­hausen, die Rich­terin Nancy Poser und ihre Mitstreiter:innen hatten am 27. Juni 2020 unter anderem deswegen Beschwerde erhoben, weil im Falle einer notwen­digen Prio­ri­sie­rung inten­siv­me­di­zi­ni­scher Ressourcen während der Pandemie eine soge­nannte „Gebrech­lich­keits­skala“ zu Rate gezogen worden wäre. An Corona erkrankte Menschen mit Vorer­kran­kungen oder Behin­de­rungen wären gegen­über anderen Menschen medi­zi­nisch schlechter versorgt worden. Das Karls­ruher Gericht erkannte hierin eine Verlet­zung des grund­ge­setz­lich garan­tierten Benach­tei­li­gungs­ver­bots behin­derter Menschen und verpflich­tete die Bundes­re­gie­rung unver­züg­lich per Gesetz nachzubessern.

Nancy Poser @nancy_poser Dez. 2022 Danke! Als Mensch mit Behin­de­rung u Juristin bin ich heute erleich­tert. GG gilt auch in einer Krisen­si­tua­tion. Das BVerfG hat das klar­ge­stellt. Der Gesetz­geber muss MmB schützen. Hat er bisher nicht getan u. uns dadurch in unseren Grund­rechten verletzt https://bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2021/12/rs20211216_1bvr154120.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Die ‚Triage‘-Regelung zu Beginn der Coro­na­pan­demie war die vorerst letzte Episode einer langen Reihe an Fällen, bei denen behin­derten Menschen eine eigent­lich verbriefte Gleich­stel­lung vorent­halten wurde. Gerade, wenn es hart auf hart kommt, wenn es um Fragen grund­le­gender archi­tek­to­ni­scher Barrie­re­frei­heit oder um eine inklu­sive Umge­stal­tung des Schul­sys­tems geht, können Menschen mit Behin­de­rungen kaum auf Politiker:innen vertrauen, sondern müssen ihre Rechte vor Gericht oder in der Öffent­lich­keit selbst einklagen. Die Covid-19-Pandemie ließ eine neue Facette des mühsamen Kampfes für Gleich­stel­lung hervor­treten: der mangelnde Einbezug von Selbst­ver­tre­tungen behin­derter Menschen in gesetz­ge­be­ri­sche Prozesse. Selbst ein juris­ti­scher Erfolg garan­tiert Menschen mit Behin­de­rungen nicht, dass der Staat ihren recht­li­chen Schutz rasch und einer Extrem­si­tua­tion ange­messen gewähr­leistet. Und dies inmitten des Szena­rios der Pandemie, die eben­falls euge­ni­sche Tendenzen zutage fördert, etwa in all den Diskus­sionen um Triage. 

„Niemand darf wegen seiner Behin­de­rung benach­tei­ligt werden“?

Eigent­lich gehört der Schutz von Menschen mit Behin­de­rung zum Selbst­ver­ständnis des vereinten Deutsch­lands und ist seit Beginn der 1990er Jahre grund­recht­lich veran­kert. Mit der 1990 recht­lich als Beitritt der DDR zum Geltungs­be­reich des Grund­ge­setzes voll­zo­genen „Wieder­ver­ei­ni­gung“ umging die Bundes­re­pu­blik zu dieser Zeit die grund­sätz­liche Revi­sion ihrer Verfas­sung. Bundestag und Bundesrat beriefen aber eine Kommis­sion ein, die den Bedarf an Aktua­li­sie­rungen und Verän­de­rungen an dem 1949 geschrie­benen Doku­ment bestimmen sollte. Initia­tiven von Menschen mit Behin­de­rungen nutzten diese Chance und forderten die Aufnahme der Kate­gorie „Behin­de­rung“ in Artikel 3, der den Schutz vor Rassismus sowie unter anderem vor geschlechts- oder reli­gi­ons­ba­sierter Benach­tei­li­gung regelt. Die Chancen für diesen Vorschlag waren aller­dings schlecht. In der Verfas­sungs­kom­mis­sion stimmte zwar eine einfache Mehr­heit für den Vorschlag, die für eine Aufnah­me­emp­feh­lung an die Parla­mente nötige Zwei­drit­tel­mehr­heit wurde aber verfehlt. Außerdem stand die konser­va­tive Kohl-Regierung der Auswei­tung des Gleich­be­hand­lungs­pa­ra­gra­phens äußerst skep­tisch gegen­über. Über­ra­schend lenkte dann der Kanzler persön­lich – wohl auch ange­sichts sinkender Umfra­ge­werte im Wahl­kampf­sommer 1994 – bei einem Treffen mit dem Sozi­al­ver­band VdK ein. Seit 15. November 1994 findet sich im Grund­ge­setz in Artikel 3, Absatz 3 der zweite Satz: „Niemand darf wegen seiner Behin­de­rung benach­tei­ligt werden.“

Was ist Diskriminierung?

Dass ein Diskri­mi­nie­rungs­verbot aber keines­wegs Schlech­ter­stel­lungen verhin­derte, wurde in den 1990er Jahren schnell deut­lich. Nach der Grund­ge­setz­re­vi­sion blieb etwa die Archi­tektur der meisten Neubauten voller Barrieren und Arbeitgeber:innen sortierten weiterhin Bewer­bungen behin­derter Menschen unge­sehen aus. Auch vor Gericht wurde klar, dass Verfas­sungs­pa­ra­grafen keine inte­gra­tive Gesell­schaft garan­tierten. Im Herbst 1997 wies das Verfas­sungs­ge­richt die Beschwerde einer 13-Jährigen ab, die gegen ihren und den Willen ihrer Eltern in eine Sonder­schule über­wiesen worden war. Es bestand zwischen Gericht und Beschwerdeführer:innen kein Konsens darüber, ob der (verord­nete) Besuch einer Sonder­schule diskri­mi­nie­rend war. Die Richter:innen stellten sich auf den Stand­punkt, dass eine Sonder­be­schu­lung per se keine Benach­tei­li­gung darstellte, da diese Schul­form ja auf die pass­ge­naue Förde­rung behin­derter Heran­wach­sender ausge­richtet war. Sie igno­rierten den berech­tigten Einwand vonseiten der Schü­lerin und ihrer Ange­hö­rigen, dass ein Sonder­schul­be­such sehr wohl stig­ma­ti­sie­rend wirken konnte und ein entspre­chendes Zeugnis einen gravie­renden Nach­teil für die weitere Berufs­kar­riere bedeutete.

Das Verbot von Benach­tei­li­gung warf die Frage auf, wie sich Diskri­mi­nie­rung im Alltag behin­derter Menschen zeigte.  Gemeinsam mit der Spen­den­lot­terie Aktion Sorgen­kind, die ihren paternalistisch-mitleidzentrierten Namen 2000 in Aktion Mensch änderte, star­teten 1997 mehr als achtzig Inter­es­sen­ver­tre­tungen von und für behin­derte Menschen die Aufklä­rungs­kam­pagne „Aktion Grund­ge­setz“, die Bundes­prä­si­dent Roman Herzog am dritten Jahrestag der Verfas­sungs­än­de­rung eröff­nete. In den späten 1990er Jahren und frühen 2000er Jahren verteilten die Teilnehmer:innen der „Aktion Grund­ge­setz“ Werbe­ma­te­ria­lien mit Hinweisen auf bestehende Benach­tei­li­gungen, schrieben Bücher über nicht­be­ho­bene Miss­stände, beklebten Trep­pen­stufen sowie andere Barrieren mit subver­siven Sprü­chen und demons­trierten zu Zehn­tau­senden dafür, der recht­li­chen eine lebens­welt­liche Gleich­stel­lung behin­derter Menschen folgen zu lassen.

Die Aktion Grund­ge­setz wies in den späten 1990er Jahren auf die Diskre­panz zwischen recht­li­chem Diskri­mi­nie­rungs­verbot und alltäg­li­chen Benach­tei­li­gungs­struk­turen hin (Post­karte ca. 1997), Quelle: Aktion Mensch

In Bezug auf weitere Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­ge­setze war die Kampagne erfolg­reich. Seit 2006 verbietet das Allge­meine Gleich­be­hand­lungs­ge­setz eine Benach­tei­li­gung aufgrund von Behin­de­rung im Bildungs­be­reich, am Arbeits­platz und beim Zugang zu Dienst­leis­tungen. Auf globaler Ebene feierten die inter­na­tio­nalen Behin­der­ten­be­we­gungen im selben Jahr einen recht­li­chen Durch­bruch, mit den nach langen Bera­tungen verab­schie­deten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Dieser haben sich mitt­ler­weile 185 der 193 UNO-Mitglieder zumin­dest per Rati­fi­ka­tion ange­schlossen. Sie haben sich unter anderem zur inklu­siven Bildung, zu flächen­de­ckender Barrie­re­frei­heit und selbst­be­stimmte Leben bekannt. Die UN-BRK präzi­siert, anders als vorhe­rige bundes­deut­sche Gleich­be­hand­lungs­ge­setze, die Bereiche, in denen Diskri­mi­nie­rung vorliegt und beschreibt konkrete staat­li­chen Maßnahmen, mit denen diese abge­baut werden soll. Erneut zögerte die Bundes­re­gie­rung mit der Umset­zung dieser Richt­li­nien, die einen massiven Umbau des segre­gierten Bildungs- und Sozi­al­sys­tems bedeutet hätte. Das 2016 zur Imple­men­tie­rung der Konven­tion verab­schie­dete Bundes­teil­ha­be­ge­setz ist halb­herzig oder über­bü­ro­kra­tisch. Die UN-BRK reihen sich trotz ihres konkreten Forde­rungs­ka­ta­loges und ihres globalen Anspruchs in die ambi­va­lente Wirkungs­ge­schichte vorhe­riger bundes­deut­scher Gesetze ein.

Inwie­weit die Konven­tionen und Gesetze tatsäch­lich archi­tek­to­ni­sche, beruf­liche und alltäg­liche Ausschlüsse behin­derter Menschen besei­tigten, ist schwer zu bewerten. Zwar lässt sich ein Ausbau barrie­re­armer Infra­struktur (von akus­ti­schen Ampeln bis zu digi­talen Doku­menten) in den vergan­genen drei Jahr­zehnten konsta­tieren. Gleich­wohl ist für denselben Zeit­raum die Diskri­mi­nie­rung behin­derter Menschen in Bewer­bungs­ver­fahren, auf dem Wohnungs­markt oder im Bildungs­sektor wohl dokumentiert.

Unüber­seh­baren Erfolg hatten die Aktivist:innen somit auf norma­tiver Ebene, wo die recht­li­chen Ansprüche seit Mitte der 1990er Jahre deut­lich ausge­weitet wurden. Die Gesetze  selbst bauten lebens­welt­liche Benach­tei­li­gungen selten direkt ab, doch sie gaben Bürger:innen weiter­ge­hende Möglich­keiten, Benach­tei­li­gungen anzu­pran­gern und ihren Abbau einzu­klagen. Sie gaben Menschen mit Behin­de­rungen einer­seits eine immer umfas­sen­dere Sprache, mit der struk­tu­relle Faktoren von Ungleich­heit als Menschen­rechts­ver­let­zungen benannt werden können. Ande­rer­seits sind sie eine juris­ti­sche Hand­habe, mit der gegen Diskri­mi­nie­rung vorge­gangen werden kann. Diese Erfolgs­ge­schichte errun­gener Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­normen verdeckt jedoch ein Grund­pro­blem, das im Zuge der Coro­na­pan­demie beson­ders hervor­trat: In der Ausge­stal­tung konkreter Gesetze spielt die Exper­tise von Selbst­ver­tre­tungen behin­derter Menschen nach wie vor kaum eine Rolle..

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„Triage“ und mangelnde poli­ti­sche Teilhabe

Je mehr sich das Coro­na­virus Anfang 2020 in Deutsch­land ausbrei­tete, desto stärker gewannen sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Diskurse in der poli­ti­schen Öffent­lich­keit an Fahrt. Zunächst wurde beson­ders von den „vulner­ablen Gruppen“, wie man betagte, chro­nisch kranke und behin­derte Menschen rasch umschrieb, erwartet, sich zu isolieren und eine Schutz­maske zu tragen. In der Debatte um die Gestal­tung der Inten­siv­ver­sor­gung standen sie hinten an, ange­sichts knapper Ressourcen mahnte etwa der Tübinger Ober­bür­ger­meister Boris Palmer im April 2020: „Wir retten in Deutsch­land mögli­cher­weise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Das vermeint­liche „Recht des Stär­keren“ bei der Ressour­cen­ver­tei­lung stellte sich indes nirgends so drin­gend wie bei einer mögli­chen ‚Triage‘. Diese gehört weiterhin zu den Schreck­ge­spens­tern von Covid-19, auch wenn sie derzeit in weiter Ferne scheint. Im Früh­jahr 2020 glaubten auch Mediziner:innen, dass sie in Deutsch­land unmit­telbar bevor­stehen würde. Doch: Nach welchen Krite­rien kann, soll und darf inten­siv­me­di­zi­ni­sche Betreuung verteilt werden? Keine dieser Fragen war gere­gelt. Ärzt:innen und andere Klinik­an­ge­stellte, die diese Entschei­dungen schließ­lich unter Zeit­druck treffen müssen, verlangten verständ­li­cher­weise nach verbind­li­chen Hand­lungs­emp­feh­lungen. Eine Hand­rei­chung erstellte die Deut­sche Inter­dis­zi­pli­näre Verei­ni­gung für Intensiv- und Notfall­me­dizin (DIVI) Ende März des Jahres. Im Zentrum ihrer Empfeh­lungen stand die Clinical Frailty Scale, ein geria­tri­sches Eintei­lungs­system mit neun Unter­ka­te­go­rien, in dem anhand des „Gebrech­lich­keits­grades“ von „Sehr fit“ bis „Terminal erkrankt“ dieje­nigen iden­ti­fi­ziert werden sollen, bei denen ein „Behand­lungs­er­folg“ wahr­schein­lich ausbleiben würde.

Rasch inter­ve­nierten Inter­es­sen­ver­tre­tungen von Menschen mit Behin­de­rung gegen die Kopp­lung von körper­li­cher Abwei­chung, Pfle­ge­be­darf und einem nach­ran­gigen Zugang zu lebens­er­hal­tenden Maßnahmen. Sie erkannten in der Heran­zie­hung von Kate­go­rien wie „Gebrech­lich­keit“ zur Vertei­lung medi­zi­ni­scher Ressourcen ein Fort­wirken euge­ni­scher Denk­tra­di­tionen. Dass Menschen mit Behin­de­rungen weit über das Ende des Natio­nal­so­zia­lismus hinaus als Belas­tung für den Sozi­al­staat und das Gesund­heits­system begriffen wurden, stellte zuletzt die Histo­ri­kerin Dagmar Herzog in ihrem Buch Unlear­ning Euge­nics heraus. Der Aufschrei der Selbst­ver­tre­tungen sorgte im Früh­jahr 2020 zwar dafür, dass die DIVI ihre Empfeh­lungen über­ar­bei­tete und sich von einer Schlech­ter­stel­lung behin­derter Menschen distan­zierte, aller­dings ohne die „Gebrech­lich­keits­skala“ aufzu­geben. Eine Geset­zes­in­itia­tive der dama­ligen Bundes­re­gie­rung, Menschen mit Behin­de­rungen vor einer Diskri­mi­nie­rung in der Inten­siv­me­dizin zu schützen, blieb hingegen aus. Es war wiederum an einzelnen behin­derten Menschen selbst, mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde vom Juni 2020 ihre Rechte einzu­klagen. Zwar konnten Aktivist:innen über öffent­liche Kampa­gnen neue gesetz­liche Vorschriften erringen und Konven­tionen auf den Weg bringen, auf die sich diskri­mi­nierte Menschen mit Behin­de­rungen vor Gericht beziehen können. Doch aufgrund der fehlenden Einbe­zie­hung von Selbst­ver­tre­tungen bei der Erstel­lung von Geset­zes­ent­würfen gibt es keine Garantie, und dies kann in Extrem­si­tua­tionen wie der Covid-19-Pandemie fatal sein.

Fehlende Aware­ness

Denn das ‚Triage‘-Urteil vom Dezember 2021 war keine, mit einer poli­ti­schen Vokabel der letzten Monate gespro­chen, Zeiten­wende. Die neue Bundes­re­gie­rung und die zustän­digen Justiz- und Gesund­heits­mi­nister begrüßten das Verfas­sungs­ge­richts­ur­teil zwar in den sozialen Medien.

Prof. Karl Lauter­bach, @Karl_Lauterbach: Ich begrüsse das Urteil des BVG ausdrück­lich. Menschen mit Behin­de­rung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heisst es, Triage durch wirk­same Schutz­mass­nahmen und Impfungen zu verhindern


Marco Busch­mann,
@MarcoBuschmann: Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer #Triage kommt. Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handi­caps Schutz vor Diskri­mi­nie­rung bieten. Die #BReg wird dazu zügig einen Entwurf vorlegen.

Wirk­lich zügig handelten sie aber nicht. Ein entspre­chender Geset­zes­ent­wurf lag erst im Juni 2022, ein halbes Jahr nach dem Verfas­sungs­ge­richts­ur­teil, und wurde am 13. Oktober in erster Lesung im Bundestag debat­tiert. Ob das entste­hende Gesetz Menschen mit Behin­de­rungen tatsäch­lich vor einer Benach­tei­li­gung schützt, ist mehr als frag­lich. So fordern einige Mediziner:innen bereits, einge­lei­tete Maßnahmen abbre­chen zu können, um die Ressourcen für Patient:innen mit augen­schein­lich besseren Über­le­bens­pro­gnosen zur Verfü­gung zu stellen. Zwar wird diese „Ex-Post-Triage“ im bestehenden Entwurf wie eine Diskri­mi­nie­rung auf Grund­lage von Behin­de­rung oder anderer Iden­ti­täts­merk­male ausdrück­lich verboten werden. Über die Zutei­lung von über­le­bens­not­wen­digen Ressourcen sollen weiterhin medi­zi­ni­sche Krite­rien entscheiden. Die von Vertreter:innen von Menschen mit Behin­de­rungen gemachten Alter­na­tiv­vor­schläge zur Orga­ni­sa­tion einer mögli­chen ‚Triage‘, vor allem einer rando­mi­sierten Zutei­lung von Ressourcen unter Patient:innen mit Über­le­bens­chancen nach dem Zufalls­prinzip wurden weder disku­tiert noch übernommen.

Einer der Gründe für den geringen Durch­schlag gesetz­li­cher Maßnahmen für die lebens­welt­liche Gleich­stel­lung, so zeigt es die ‚Triage‘-Kontroverse wie die gesamte deut­sche Behin­der­ten­po­litik seit 1990, ist die mangelnde Teil­habe behin­derter Menschen an gesetz­ge­be­ri­schen Prozessen. Dass bei den jüngsten Ausschuss­be­ra­tungen im Gesund­heits­mi­nis­te­rium über eine geeig­nete Neure­ge­lung der ‚Triage‘ Selbst­ver­tre­tungen behin­derter Menschen zunächst fehlten, verwun­dert kaum. Da sie auf den höchsten poli­ti­schen Ebenen viel­fach ausge­schlossen sind, bleibt Menschen mit Behin­de­rungen meist nichts anderes übrig, als gegen Diskri­mi­nie­rungen zu demons­trieren oder vor Gericht zu ziehen. Zwar trieben und treiben Aktivist:innen seit Jahr­zehnten gewis­sen­maßen den Gesetz­geber vor sich her und erwirkten durch ihr Enga­ge­ment immer expli­zi­tere Geset­zes­normen, auf die sie verweisen konnten. Da die Selbst­ver­tre­tungen im legis­la­tiven Prozess jedoch wenig Gehör fanden, blieb der Effekt gesetz­li­cher Rege­lungen oft unzureichend.

Anläss­lich des dies­jäh­rigen 5. Mai, seit 1992 euro­pa­weiter „Protesttag für die Gleich­stel­lung und Anti-Diskriminierung Behin­derter“, blickte die Inter­es­sen­ver­tre­tung Selbst­be­stimmt Leben in Deutsch­land e. V. (ISL) auf drei Jahr­zehnte Akti­vismus zurück. Zum Jubi­läum betonte die Orga­ni­sa­tion ihren Stolz auf erkämpfte Gesetze, bilan­zierte aber auch: „Die schönsten Rege­lungen und Gesetze nützen also nichts, wenn wir deren konkrete Umset­zung nicht einfor­dern und dafür sorgen, dass diese barrie­re­frei und inklusiv erfolgen.“ Dieser Satz trifft die geschicht­liche Wirk­lich­keit Realität der letzten dreißig Jahre und beschreibt das struk­tu­relle Hindernis auf dem Weg zur Gleich­stel­lung. Diese wird nur möglich, wenn Menschen mit Behin­de­rung ihre seit Jahr­zehnten verbrieften Rechte nicht nur seltener rück­wir­kend einklagen müssen, sondern wenn die Bundes­re­gie­rung die Exper­tise von Selbst­ver­tre­tungen bei Geset­zes­in­itia­tiven von vorn­herein einbe­zieht – das wäre tatsäch­liche Inklu­sion und Selbstbestimmung.