
Ich kam am siebten Tag des Krieges in Belgrad an und wurde von einem Angstgefühl erfasst, das ich mir nicht eingestehen wollte. Mich quälte nicht so sehr, dass ich mich im Moment der Ankündigung des Kataklysmus – während die Kroat:innen die Apotheken belagerten, um an Jod zu gelangen, und die Bosnier:innen Mehlsäcke nach Hause schleppten – so weit von zu Hause entferne, sondern mich beunruhigte, dass ich diejenigen verlasse, die sich, natürlich vollkommen bedenkenlos, auf die Seite der Ukrainer:innen schlagen, und zu denen gehe, die, genauso bedenkenlos, auf der Seite der Russ:innen sind. Das war, als überquerte ich die Frontlinie in einem sehr blutrünstigen und manischen, wenngleich nur imaginären und symbolischen Krieg, es war, als hetzte ich vom Opfer zum Aggressor. Aber auf der anderen Seite der Angst wühlte ein Teufel in mir, zwang mich zu sehen und zu erfahren, wie es ist, für Putin zu sein, wie sein Russe zu denken, zu unterstützen, was sich der Logik des Dramas widersetzt; denn dem Menschen ist es einfach nicht gegeben, denjenigen anzufeuern, der angreift, und gegen den zu sein, der angegriffen wird.
Die Reise hätte ich vielleicht verschoben, wenn sie nicht vor langer Zeit vereinbart worden wäre. Ich reise nach Novi Sad, das in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas ist, um dort am Literaturprogramm teilzunehmen. Das ist mir schon an sich wichtig. Und es ist mir noch dazu wegen einer kleinen eichhörnchenartigen Verletztheit wichtig: in dem Jahr, in dem, wenn auch formal, Rijeka als Kulturhauptstadt Europas figurierte, gab es für mich im Rijekaer Literaturprogramm keinen Platz. Und natürlich würde ich über alle realen und imaginären Linien hinweg nach Novi Sad reisen. Zudem war verabredet, und zwar seit Langem, dass ich in Belgrad die frisch gedruckte serbische Ausgabe meines Buches Trojica za Kartal (Die drei für Kartal) vorstelle. Das also ist der formale Rahmen der Reise. Und der Witzemacher Zufall kümmerte sich um das Wesentliche, indem er Putins Aggression gegen die Ukraine und die moralischen und politischen Rahmenbedingungen des Dritten Weltkriegs in all das einfügte.
Denn obwohl dieser Krieg (noch) nicht an Fronten geführt wird, es keinen Schlagabtausch von Waffen und Nuklearsprengköpfen gibt, ist das menschliche Bewusstsein uniformiert, sind ethische Potentiometer eingeschaltet, und all jene, die den Aggressor nicht scharf genug verurteilen und dabei unglücklicherweise auch noch im Besitz russischer Namen und russischer Pässe sind, werden aus unserer Welt ausgeschlossen. Das ist schon in den ersten vier oder fünf Tagen von Putins Massaker in der Ukraine passiert. Der Feind wurde gekennzeichnet, markiert, gecancelt, abgeschrieben, so dass es nicht übertrieben ist zu sagen, dass noch vor dem Ende der ersten Woche des Blutvergießens in der Ukraine die Lage in der Welt erschien, als befänden wir uns Ende 1942. Die moralische Rigorosität ist, so vermute ich, die Folge der allgemeinen Virtualisierung der Wirklichkeit. Den Leuten scheint, dass sie den Ukrainer:innen tatsächlich helfen, wenn sie Anna Netrebko das Singen und Gergiev das Dirigieren verbieten. Zwei geniale Schurken. (Schreibe ich vielleicht selbst diesen Satz, weil ich Angst habe, ‚gecancelt‘ zu werden, wenn ich den Aggressor nicht laut genug verurteile und meine Position nicht bestimme? Mag sein.)
Am ersten Abend in Belgrad blieb meine Frau in der Wohnung, weil sie online arbeitet, und ich lief durch das verlassene Dorćol. Und so gehe ich, um Hundescheiße herum, auf dem Trottoir jener Straße, die vormals den Namen Đuro Đakovićs trug und heute nach dem griechischen Staatsmann Elefterios Venizelos benannt ist, und mein Blick bleibt an einer Figur auf einem chromierten amerikanischen Motorrad hängen. In einer Lederjacke, mit Handschuhen und einem weltraumartigen Helm mit verdunkeltem Visier, betrachtet mich eine Kreatur, deren Alter ich nicht bestimmen kann, weil sie kein Gesicht hat. Und ich weiß, dass er mich beobachtet, weil auch ich ihn anschaue. Es ist etwas Seltsames in seiner Erscheinung – wie vermutlich auch meine Erscheinung für ihn seltsam ist. Ich trage einen schwarzen Mantel und einen grauen Bart wie ein russischer Mystiker; für den Biker bin ich, vermute ich, etwas anderes als das, was ich in Wirklichkeit bin.
Und so laufe ich an ihm vorbei, der Bürgersteig ist schmal, an einer Stelle trennte uns kaum ein halber Meter, als ich den Motor höre und gleich danach Stimmen aus einem unheimlich starken Lautsprecher, der auf dem Motorrad montiert ist. Ist das ein Chor von Rotarmisten, oder sind das irgendwelche moderneren Nachahmer? Wie auch immer, es sind Dutzende, deutlich voneinander zu unterscheidende männliche Stimmen, solistisch geführt von einem selbstgerechten, reinen heroischen Tenor. Augenblicklich bekomme ich vom erschreckend unbehaglichen Behagen eine Gänsehaut – zum ersten Mal höre ich den sowjetischen Chor mit einem Ohr, das mit ähnlich unbehaglichem Behagen die melancholischen SS-Lieder aus jugoslawischen und ausländischen Filmen gehört hatte – und dann von der rechten Seite, nur drei, vier Meter entfernt, sehe ich, wie das Motorrad mit dem Motorradfahrer bedrohlich langsam an mir vorbeizieht, mit unsichtbaren Lautsprechern, dem Chor der Rotarmisten mit dem Solisten, und auf der wehenden roten Fahne mit Hammer und Sichel ist mit goldenen Buchstaben die Losung unserer Kindheit geschrieben: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Es dauerte lange, die Figur fuhr langsam, so dass alle ihr Lied hören konnten, obwohl außer mir niemand auf der Straße war und irgendwo weiter vorne war ein Jumboplakat von Vučićs Partei mit einer riesigen Fotografie des Schauspielers Lazar Ristovski zu sehen. Und dann verschwanden Motorrad und rote Fahne aus dem Blickfeld, aber die Stimmen des Rotarmistenchors drangen noch weiter aus den Nebenstraßen, in denen das Motorrad herumfuhr.
Das sind also diese Nachtwölfe, Putins Biker, eine parazivile maskulinistische Gruppe, die Glauben und Angst verbreitet. Ein seltsamer Glaube, versteht sich, ist das, obwohl er mir seit dreißig Jahren bekannt ist. Kleronationalismus unter einer Maske, die die rote Fahne des kommunistischen Internationalismus hervorgebracht hat. Vladimir Putin, Zögling von Aleksandr Dugin und Anhänger der äußerst trüben Ideologie von Ivan Il’in, einem antikommunistischen Märtyrer aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, einem verwünschten Verehrer des Faschismus, einem großrussischen Rassisten, Chauvinisten und harten Antisemiten, führt Krieg gegen das Erbe Lenins, aber auch gegen das kommunistische Verständnis der Nationalitätenfrage und gegen die Rechte kleiner Völker, die rote kommunistische Fahne schwenkend. Genauso, wie im Herbst 1991 Milošević und Ratko Mladić Krieg gegen Tito, gegen den jugoslawischen Föderalismus und gegen das Recht der Republiken auf „Selbstbestimmung bis hin zu Abspaltung“ unter der gleichen roten Fahne des kommunistischen Internationalismus begonnen haben.
Welcher Sinn dahinter steckt, weiß ich nicht! Falls es sich nicht um Marketing handelt, und falls sie nicht versuchen, unter der gleichen Fahne die Sentimente dieser senilen Welt zu vereinnahmen, die sich an die Macht, aber auch an die Illusion allmenschlicher Gerechtigkeit erinnert, die sich unter dieser Fahne manifestiert hat. Oder versucht Putin, wie auch diese seine maskuline Figur auf dem Motorrad, den großen sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg in seine nationalistische und rassistische Ideologie der russisch-serbischen Supremation über alle ukrainischen Völker dieser Welt einzubauen? Antifaschismus lässt sich fantastisch für die Zwecke des Faschismus benutzen. Und bereits seit 1991 teilen sich diese Völker in jene, die ihre eigenen Sehnsüchte nach dem Faschismus mit antifaschistischen Traditionen nähren, und in jene, die ihre eigenen Sehnsüchte aus ihren eigenen faschistischen Quellen schöpfen. Deshalb konnte es 1991 und auch in späteren Jahren passieren, dass im ehemaligen Jugoslawien der Aggressor in den Krieg zieht und dabei antifaschistische Lieder aus klar faschistischen Positionen singt, während die vom Faschismus Angegriffenen sich wehren und dabei faschistische Parolen rufen und sich mit faschistischen Insignien schmücken. Wir glaubten, das sei unser trauriges, balkanisches und jugoslawisches Spezifikum, und haben uns lange Zeit mit unseren Zungen die Schneide- und Eckzähne abgestumpft beim vergeblichen Versuch, Ausländern zu erklären, wie es mit den Emblemen, Symbolen und Überzeugungen der Kriegsparteien steht. Es interessiert mich sehr, wie lange diese Ausländer, die emotional und symbolisch in den Krieg involviert sind, brauchen werden, um den Sinn der roten kommunistischen Fahne auf den Motorrädern der Nachtwölfe und Putins propagandistische Paraden zu verstehen. Denn es steht unzweifelhaft fest: Der Faschismus unserer Zeit wurde geboren aus dem Hineintreiben anderer Völker in den Antifaschismus.
Aber trotzdem ist mir ein gespenstisches Gefühl geblieben nach diesem Ereignis in der Elefterios-Venizelos-Straße in Dorćol. Wen sah dieser Motorradfahrer, als er mich durch sein abgedunkeltes Visier angeschaut hat? Mich oder jemand anderen in mir? Danach habe ich mich nicht mehr mit den Nachtwölfen beschäftigt, aber Belgrad habe ich sorgfältig beschnüffelt und beschaut, denn für mich war es kein Vorkriegs-Belgrad mehr, sondern ein anderes, ein Kriegs-Belgrad. Ich habe die Unterschiede zwischen uns auf dieser und ihnen auf der anderen Seite der Front gesucht. Auch wenn ich sie gefunden habe, waren diese Unterschiede eher parteiischer als essentieller Art. Die breite Masse und die Regierung sind für die Russen. Für Putin. Blind und um jeden Preis. Jene wenigen traurigen Menschen, um den Anderen wie um einen Bruder besorgt, sind auf der Seite der Ukrainer. Eine mutige und zutiefst beunruhigte Minderheit. Das ist, scheint mir, wie bei uns. Wenige traurige und einsame Menschen, weinend um die anderen. Die übrigen kaufen Jod, genießen wie tollwütige Hunde den Hass und das ferne digitale Blutvergießen, und lehren ihre Kinder, sich immer auf die Seite der Stärkeren zu schlagen. Sie bringen ihnen bei, sich pathetische Namen aus Groschenromanen und aus dem Imaginarium der Sicherheitsdienste zu geben, KGB, Gestapo, Udba… Was für ein Unsinn – Nachtwölfe!