Politische Teilhabe stellt ein zentrales Menschenrecht dar und ist vor allem in Zeiten unerlässlich, in denen Autorkratien global an Macht gewinnen. Darüber hinaus bestehen viele weitere Missstände, die Menschen mit Behinderung in ihrer Lebensführung beeinträchtigen, z. B. der zu geringe Lohn in Werkstätten, die fehlende Entwicklung zu einem wirklich inklusiven Schulsystem oder die zu geringe Ausstattung an Personal und Privatsphäre in Wohneinrichtungen. Die Mitbestimmung von Individuen eröffnet den Raum, demokratische Strukturen zu schaffen, aufrechtzuerhalten und fortzuführen. In Europa lassen sich seit Jahren rechtspopulistische Entwicklungen beobachten, die nach versteckten und eher impliziten Ausführungen immer deutlicher und direkter formuliert werden – in der Öffentlichkeit, in den Medien, in Wahlkämpfen. Es scheint in Ordnung zu sein, menschen- und demokratiefeindliche Aussagen zu tätigen, ohne dafür ermahnt, gestraft oder gemieden zu werden. Diese Prozesse machen es unumgänglich, (Handlungs-)Wissen über Demokratie zu vermitteln und alle Bürger_innen zur demokratischen Teilhabe aufzurufen.
Vorurteile, Zuschreibungen, Ausschlüsse
Lange Zeit galt es als undenkbar, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten politisch partizipieren könnten. Durch Vorurteile wurde fehlendes politisches Verständnis unterstellt und Mündigkeit abgesprochen, Menschen mit Lernschwierigkeiten wurde zugeschrieben, leicht beeinflussbar zu sein. Das Menschenbild, das sich aus diesen Vorurteilen ergibt, führt Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Menschen mit Lernschwierigkeiten fort. Dementsprechend werden sie immer noch aus vielen politischen Teilhabeprozessen ausgeschlossen, obwohl sie ein Teil der demokratischen Gemeinschaft sind und zu deren Erhalt beitragen. Neben diesem Beitrag für die Allgemeinheit darf aber nicht übersehen werden, wie lebensnotwendig Demokratie als Schutzraum für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist. Rechtspopulistische Standpunkte versuchen u. a. das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen abzuerkennen und Unterstützungsleistungen einzuschränken oder ganz aufzulösen. Durch die direkte politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ergeben sich mehr Möglichkeiten, für sich selbst und die eigene Lebenswirklichkeit einzutreten, sie sichtbar zu machen und ihr Öffentlichkeit zu verschaffen.
In Deutschland 2019 durch das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass es keine Vereinbarkeit zwischen dem Ausschluss vom Wahlrecht für Menschen mit Lernschwierigkeiten und dem Grundgesetz gibt. Das gilt auch für Menschen mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten, was bedeutet, dass sie Unterstützung durch eine andere vom Gericht bestimmte Person in der Bewältigung der Lebensführung, wie z. B. Gesundheitsvorsorge, Finanzen oder Aufenthaltsbestimmung benötigen. Das sind u. a. auch viele Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber nicht alle. Sie haben seitdem die Möglichkeit – wie alle anderen Menschen ohne gesetzliche Betreuung – an politischen Wahlen teilzunehmen und mitzubestimmen. Politisch teilhaben konnten sie schon zuvor, wie z. B. an Demonstrationen teilnehmen, bei Initiativen mitwirken, in ehrenamtlichen Gremien arbeiten oder sich mittels sozialer Plattformen an öffentlichen Aushandlungen teilnehmen, waren möglich und sind es weiterhin. An politischen Wahlen teilzunehmen, weist allerdings ein Alleinstellungsmerkmal auf, es bietet die Chance aktiv (und zum Teil direkt) mitzuentscheiden, wer in welchen Positionen politische Entscheidungen regional oder überregional trifft.
Widersprüche der Inklusion

Das Berliner Behindertenparlament 2022; Quelle: lebenshilfe-berlin.de
Ein besonderes Beispiel für die politische Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten bietet das Berliner Behindertenparlament. Es besteht seit 2021 und tagte zum ersten Mal am 3. Dezember 2022 im Berliner Abgeordnetenhaus. 2020 gründete sich das Vorbereitungsteam aus Organisationen und Einzelpersonen um den Initiator Christian Specht, um ein Forum zur direkten Mitwirkung von u. a. Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Berliner Politik zu schaffen. Die Idee ist, dass sich Menschen mit Behinderung in Fokusgruppen themenbezogen beteiligen, gemeinsam Anträge erarbeiten und beschließen, um sie an die Berliner Senatsverwaltung weiterzugegeben. Gleichzeitig können sie mit ihrer Expertise als Expert_innen für die eigenen Lebensbedingungen in einer nur bedingt barrierearmen Gesellschaft gehört und in politische Entscheidungen einbezogen werden.
Dieses Forum bietet eine sich dezidiert an Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen richtende Beteiligungsform für ihre Bedarfe – widerspricht damit aber dem Grundgedanken der Inklusion. Durch die Sonderform entsteht wiederum ein Nebeneinander, aber kein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung. Auch beziehen sich die bisherigen Forderungen und Inhalte des Berliner Behindertenparlaments exklusiv auf den Themenbereich Behinderung, eine allgemeine Mitwirkung an politischen Prozessen der Gesellschaft, die verschiedene Themenbereiche betreffen, fehlt ebenfalls. Behinderungsspezifische Themen mögen von besonderem Interesse für die Zielgruppe sein, decken aber sicherlich nicht alle alltäglichen, politischen Bedarfe und Interessen ab, wie z. B. die barrierefreie Gestaltung des Straßenverkehrs und der Verkehrsmittel, bezahlbarer Wohnraum und gerechte Entlohnung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
Zur Einordnung sollte man einen Schritt zurückgehen: Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit Behinderung im Allgemeinen werden von Politik und Gesellschaft ausgeschlossen, weil ihnen oftmals mit einem vorurteilsbasierten Menschenbild begegnet wird. Die Mehrheitsgesellschaft spricht ihnen Fähigkeiten zum Wissenserwerb und Entscheidungsfähigkeit ab, so dass sie als nicht politisch fähig eingeordnet werden. Indem das Verfassungsgericht ihnen das Wahlrechts zuerkannt hat, widerspricht es diesem Bild sehr deutlich, doch diese Sichtweise hat sich gesellschaftlich bislang nicht durchgesetzt. Das hat für Menschen mit Behinderung zwei gravierende Folgen: einerseits verwehrt man ihnen Zugang und Mitbestimmung, andererseits sollen sie selbst dafür sorgen, dies zu erhalten. Auf diese Weise wird die Verantwortlichkeit verschoben, und zwar vom Staat auf seine Bürger_innen mit Behinderung. Man kann darin das Manöver vonseiten der Politik erkennen, die nötigen Veränderungen zu verschleppen, es gleicht einem ‚Aussitzen‘ – in der Hoffnung, keine Veränderungen vornehmen zu müssen. Die Gesellschaft hat im demokratischen Verständnis die Aufgabe, alle Menschen gleichermaßen anzuerkennen und teilhaben zu lassen. Sie muss Sorge tragen, dass die im Grundgesetz festgehaltene menschliche Würde nicht verletzt wird, alle Menschen gleichbehandelt und aufgrund der Zuschreibung gewisser Merkmale wie z.B. Behinderung nicht diskriminiert werden. Wenn diese Aufgabe nur bedingt durch den Staat erfüllt und die Verantwortung auf die Individuen verschoben wird, bleiben zwei Möglichkeiten: entweder der Rückzug in den privaten Raum (aufgrund von lebensfeindlichen Bedingungen und erlebter Diskriminierung äußerst nachvollziehbar) oder aber das Schaffen von Beteiligungsformen in Eigeninitiative, um Gehör zu finden.
Wissen als Voraussetzung
Eben deshalb bleibt die Beteiligungsform dem Berliner Behindertenparlament wichtig, da es einen so wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer inklusiven, politischen Gesellschaft leistet. Menschen mit Lernschwierigkeiten erhalten einen sicheren und barrierearmen Raum, um die eigenen Belange in politische Prozesse einzubringen. Für diese Form der politischen Teilhabe bedarf es der Voraussetzungen: Wissen über Politik und das eigene Recht zur Teilhabe muss vermittelt werden. Das sind Aufgaben der Förderschulen, wenn im Unterricht Fakten- und Handlungswissen gelehrt wird. Ein Blick in die Lehr- und Unterrichtspläne des zugeordneten Förderschwerpunkts geistige Entwicklung in den einzelnen Bundesländern macht deutlich, dass Politikunterricht eine randständige Rolle spielt. Dabei spielen nicht nur geringe Stundenzuweisungen oder wenig fachlich ausgebildete Fachlehrkräfte eine entscheidende Rolle, sondern auch die fehlenden zielgruppenspezifischen Materialien und entsprechenden Methoden politischer Bildung. Gerade bei komplexen Inhalten wie politischen Entscheidungsprozessen oder dem Aufbau politischer Gremien können übersichtliche und mit zusätzlichen Erklärungen versehene Medien und Materialien für viele Menschen mit und ohne Behinderung hilfreich sein. Ein Appell muss sich also auch an Herausgebende von Medien, Materialien, Informationen und Unterlagen von Parteien zu Wahlen, etc. richten, diese möglichst nachvollziehbar zu gestalten.
Denn erst mit dem Bewusstsein Rechte zu haben und dem Wissen, wie diese einzufordern sind, ist ein Individuum politisch handlungsfähig. Insbesondere in Zeiten rechtspopulistischer Strömungen ist die umfassende politische Aufklärung unumgänglich, wenn die Demokratie erhalten werden soll. Gleichzeitig profitiert die Gesellschaft vom Einbezug von Vielfalt, es macht sie lebenswerter und schafft Ressourcen für viele andere Teilgruppen, denn die meisten Menschen werden einmal alt oder haben einen Unfall und sind so plötzlich auf Unterstützungsstrukturen angewiesen, derer sie sich vorher gar nicht bewusst waren. Beispiele wären etwa übersichtliche Orientierungssysteme im ÖPNV, leichte Zugänglichkeit von Gebäuden oder die Nutzung von einfachen Formulierungen und Symbolen.
Insbesondere Leichte Sprache findet mehr Verbreitung, zur letzten Bundestagswahl 2021 boten die großen Parteien ihre Wahlprogramme in Leichter Sprache an. Auch finden sich allgemeine Informationen in Leichter Sprache bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
Inklusion und Gesellschaft
Deutlich ist nämlich, dass Menschen mit Behinderung sich nicht nur für Behinderung als politisches Thema interessieren, sondern auch mit anderen Themen auseinandersetzen: „Behindertenpolitik ist ein Querschnittsthema“, wenn „nicht nur behindertenpolitische Sprecher_innen, sondern auch mal ein Verkehrspolitiker vorbeikommt“ Aufgabe der demokratischen Gesellschaft und dem Staat ist es, genau diesen Gedanken aufzugreifen und Inklusion als Mittel zur Weiterentwicklung von Gesellschaft zu begreifen. D.h. Politiker_innen verschiedener Ressorts müssen sich einbringen in den Dialog mit Menschen mit Behinderung. Erst wenn Vielfalt von Gesellschaft anerkannt und wertgeschätzt werden, kann sich das gesamte Potential entfalten und genutzt werden.
Dazu ist es unerlässlich, individuelle Voraussetzungen und Bedarfe in den Blick zu nehmen, da Menschen mit Lernschwierigkeiten keine homogene Gruppe sind und sie als Expert_innen für sich zu Wort kommen müssen. Darüber hinaus lassen sich u. a. folgende Empfehlungen zur inklusiven politischen Bildung und Teilhabe formulieren: politische Bildung muss in Förderschulen verstärkt angeboten; differenzierte Materialien und Methoden entwickelt; partizipative Zugänge geschaffen; Barrierefreiheit in politischen Zusammenhängen ausgeweitet sowie Gesellschaft zum Abbau von Vorurteilen einbezogen werden.
Ausblick
Die Wirkung dieser Teilhabemöglichkeit lässt sich mit zwei Stimmen aus der Teilnehmenden-Befragung des Berliner Behindertenparlaments beschreiben: „Endlich haben Betroffene eine Stimme!“ „Ich habe das Gefühl, die Belange von Menschen mit Behinderung werden öffentlich sichtbar.“ Mit der Aufnahme des direkten Dialogs durch das Berliner Behindertenparlament fühlen sich dementsprechend auch Menschen mit Lernschwierigkeiten angesprochen und vertreten. Demnach sollte das Berliner Behindertenparlament anderen Bundesländern als Vorbild dienen. Bislang kann bloß Bremen als einziges anderes Bundesland auf eine sehr lange Tradition mit ihrem Behindertenparlament zurückgreifen. Und die Parlamente zeigen: wie wichtig und wirksam es ist, den Zugang zur kurzfristigen Beteiligung von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erleichtern, um langfristig den Weg zur inklusiven politischen Partizipation zu ebnen. Denn nur gemeinsam lässt sich Demokratie gestalten und autokratischen Entwicklungen entgegentreten.