Menschen mit Behinderung haben das Recht politisch teilzuhaben. Dafür braucht es eine inklusive Ausrichtung des politischen Systems. Das Berliner Behindertenparlament bietet ein Forum zur direkten Mitbestimmung.

  • Karoline Klamp-Gretschel

    Karoline Klamp-Gretschel ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig. Sie forscht unter anderem zu politischer Teilhabe, historischer Bildung und Intersektionalität im Kontext von (geistiger) Behinderung.

Poli­ti­sche Teil­habe stellt ein zentrales Menschen­recht dar und ist vor allem in Zeiten uner­läss­lich, in denen Autor­kra­tien global an Macht gewinnen. Darüber hinaus bestehen viele weitere Miss­stände, die Menschen mit Behin­de­rung in ihrer Lebens­füh­rung beein­träch­tigen, z. B. der zu geringe Lohn in Werk­stätten, die fehlende Entwick­lung zu einem wirk­lich inklu­siven Schul­system oder die zu geringe Ausstat­tung an Personal und Privat­sphäre in Wohn­ein­rich­tungen. Die Mitbe­stim­mung von Indi­vi­duen eröffnet den Raum, demo­kra­ti­sche Struk­turen zu schaffen, aufrecht­zu­er­halten und fort­zu­führen. In Europa lassen sich seit Jahren rechts­po­pu­lis­ti­sche Entwick­lungen beob­achten, die nach versteckten und eher impli­ziten Ausfüh­rungen immer deut­li­cher und direkter formu­liert werden – in der Öffent­lich­keit, in den Medien, in Wahl­kämpfen. Es scheint in Ordnung zu sein, menschen- und demo­kra­tie­feind­liche Aussagen zu tätigen, ohne dafür ermahnt, gestraft oder gemieden zu werden. Diese Prozesse machen es unum­gäng­lich, (Handlungs-)Wissen über Demo­kratie zu vermit­teln und alle Bürger_innen zur demo­kra­ti­schen Teil­habe aufzurufen.

Vorur­teile, Zuschrei­bungen, Ausschlüsse

Lange Zeit galt es als undenkbar, dass Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten poli­tisch parti­zi­pieren könnten. Durch Vorur­teile wurde fehlendes poli­ti­sches Verständnis unter­stellt und Mündig­keit abge­spro­chen, Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten wurde zuge­schrieben, leicht beein­flussbar zu sein. Das Menschen­bild, das sich aus diesen Vorur­teilen ergibt, führt Ausgren­zungs­me­cha­nismen gegen­über Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten fort. Dementspre­chend werden sie immer noch aus vielen poli­ti­schen Teil­ha­be­pro­zessen ausge­schlossen, obwohl sie ein Teil der demo­kra­ti­schen Gemein­schaft sind und zu deren Erhalt beitragen. Neben diesem Beitrag für die Allge­mein­heit darf aber nicht über­sehen werden, wie lebens­not­wendig Demo­kratie als Schutz­raum für Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten ist. Rechts­po­pu­lis­ti­sche Stand­punkte versu­chen u. a.  das Lebens­recht von Menschen mit Behin­de­rung im Allge­meinen abzu­er­kennen und Unter­stüt­zungs­leis­tungen einzu­schränken oder ganz aufzu­lösen. Durch die direkte poli­ti­sche Teil­habe von Menschen mit Behin­de­rungen ergeben sich mehr Möglich­keiten, für sich selbst und die eigene Lebens­wirk­lich­keit einzu­treten, sie sichtbar zu machen und ihr Öffent­lich­keit zu verschaffen.

In Deutsch­land 2019 durch das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt fest­ge­halten, dass es keine Verein­bar­keit zwischen dem Ausschluss vom Wahl­recht für Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten und dem Grund­ge­setz gibt. Das gilt auch für Menschen mit einer Betreuung in allen Ange­le­gen­heiten, was bedeutet, dass sie Unter­stüt­zung durch eine andere vom Gericht bestimmte Person in der Bewäl­ti­gung der Lebens­füh­rung, wie z. B. Gesund­heits­vor­sorge, Finanzen oder Aufent­halts­be­stim­mung benö­tigen. Das sind u. a. auch viele Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten, aber nicht alle. Sie haben seitdem die Möglich­keit – wie alle anderen Menschen ohne gesetz­liche Betreuung – an poli­ti­schen Wahlen teil­zu­nehmen und mitzu­be­stimmen. Poli­tisch teil­haben konnten sie schon zuvor, wie z. B. an Demons­tra­tionen teil­nehmen, bei Initia­tiven mitwirken, in ehren­amt­li­chen Gremien arbeiten oder sich mittels sozialer Platt­formen an öffent­li­chen Aushand­lungen teil­nehmen, waren möglich und sind es weiterhin. An poli­ti­schen Wahlen teil­zu­nehmen, weist aller­dings ein Allein­stel­lungs­merkmal auf, es bietet die Chance aktiv (und zum Teil direkt) mitzu­ent­scheiden, wer in welchen Posi­tionen poli­ti­sche Entschei­dungen regional oder über­re­gional trifft.

Wider­sprüche der Inklusion

Das Berliner Behin­der­ten­par­la­ment 2022; Quelle: lebenshilfe-berlin.de

Ein beson­deres Beispiel für die poli­ti­sche Teil­habe von Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten bietet das Berliner Behin­der­ten­par­la­ment. Es besteht seit 2021 und tagte zum ersten Mal am 3. Dezember 2022 im Berliner Abge­ord­ne­ten­haus. 2020 grün­dete sich das Vorbe­rei­tungs­team aus Orga­ni­sa­tionen und Einzel­per­sonen um den Initiator Chris­tian Specht, um ein Forum zur direkten Mitwir­kung von u. a. Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten in der Berliner Politik zu schaffen. Die Idee ist, dass sich Menschen mit Behin­de­rung in Fokus­gruppen themen­be­zogen betei­ligen, gemeinsam Anträge erar­beiten und beschließen, um sie an die Berliner Senats­ver­wal­tung weiter­zu­ge­geben. Gleich­zeitig können sie mit ihrer Exper­tise als Expert_innen für die eigenen Lebens­be­din­gungen in einer nur bedingt barrie­re­armen Gesell­schaft gehört und in poli­ti­sche Entschei­dungen einbe­zogen werden.

Dieses Forum bietet eine sich dezi­diert an Menschen mit Behin­de­rung und chro­ni­schen Erkran­kungen rich­tende Betei­li­gungs­form für ihre Bedarfe – wider­spricht damit aber dem Grund­ge­danken der Inklu­sion. Durch die Sonder­form entsteht wiederum ein Neben­ein­ander, aber kein Mitein­ander von Menschen mit und ohne Behin­de­rung. Auch beziehen sich die bishe­rigen Forde­rungen und Inhalte des Berliner Behin­der­ten­par­la­ments exklusiv auf den Themen­be­reich Behin­de­rung, eine allge­meine Mitwir­kung an poli­ti­schen Prozessen der Gesell­schaft, die verschie­dene Themen­be­reiche betreffen, fehlt eben­falls. Behin­de­rungs­spe­zi­fi­sche Themen mögen von beson­derem Inter­esse für die Ziel­gruppe sein, decken aber sicher­lich nicht alle alltäg­li­chen, poli­ti­schen Bedarfe und Inter­essen ab, wie z. B. die barrie­re­freie Gestal­tung des Stra­ßen­ver­kehrs und der Verkehrs­mittel, bezahl­barer Wohn­raum und gerechte Entloh­nung in Werk­stätten für Menschen mit Behinderung.

Zur Einord­nung sollte man einen Schritt zurück­gehen: Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten und Menschen mit Behin­de­rung im Allge­meinen werden von Politik und Gesell­schaft ausge­schlossen, weil ihnen oftmals mit einem vorur­teils­ba­sierten Menschen­bild begegnet wird. Die Mehr­heits­ge­sell­schaft spricht ihnen Fähig­keiten zum Wissens­er­werb und Entschei­dungs­fä­hig­keit ab, so dass sie als nicht poli­tisch fähig einge­ordnet werden. Indem das Verfas­sungs­ge­richt ihnen das Wahl­rechts zuer­kannt hat, wider­spricht es diesem Bild sehr deut­lich, doch diese Sicht­weise hat sich gesell­schaft­lich bislang nicht durch­ge­setzt. Das hat für Menschen mit Behin­de­rung zwei gravie­rende Folgen: einer­seits verwehrt man ihnen Zugang und Mitbe­stim­mung, ande­rer­seits sollen sie selbst dafür sorgen, dies zu erhalten. Auf diese Weise wird die Verant­wort­lich­keit verschoben, und zwar vom Staat auf seine Bürger_innen mit Behin­de­rung. Man kann darin das Manöver vonseiten der Politik erkennen, die nötigen Verän­de­rungen zu verschleppen, es gleicht einem ‚Aussitzen‘ – in der Hoff­nung, keine Verän­de­rungen vornehmen zu müssen. Die Gesell­schaft hat im demo­kra­ti­schen Verständnis die Aufgabe, alle Menschen glei­cher­maßen anzu­er­kennen und teil­haben zu lassen. Sie muss Sorge tragen, dass die im Grund­ge­setz fest­ge­hal­tene mensch­liche Würde nicht verletzt wird, alle Menschen gleich­be­han­delt und aufgrund der Zuschrei­bung gewisser Merk­male wie z.B. Behin­de­rung nicht diskri­mi­niert werden. Wenn diese Aufgabe nur bedingt durch den Staat erfüllt und die Verant­wor­tung auf die Indi­vi­duen verschoben wird, bleiben zwei Möglich­keiten: entweder der Rückzug in den privaten Raum (aufgrund von lebens­feind­li­chen Bedin­gungen und erlebter Diskri­mi­nie­rung äußerst nach­voll­ziehbar) oder aber das Schaffen von Betei­li­gungs­formen in Eigen­in­itia­tive, um Gehör zu finden.

Wissen als Voraussetzung

Eben deshalb bleibt die Betei­li­gungs­form dem Berliner Behin­der­ten­par­la­ment wichtig, da es einen so wich­tigen Beitrag auf dem Weg zu einer inklu­siven, poli­ti­schen Gesell­schaft leistet. Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten erhalten einen sicheren und barrie­re­armen Raum, um die eigenen Belange in poli­ti­sche Prozesse einzu­bringen. Für diese Form der poli­ti­schen Teil­habe bedarf es der Voraus­set­zungen: Wissen über Politik und das eigene Recht zur Teil­habe muss vermit­telt werden. Das sind Aufgaben der Förder­schulen, wenn im Unter­richt Fakten- und Hand­lungs­wissen gelehrt wird. Ein Blick in die Lehr- und Unter­richts­pläne des zuge­ord­neten Förder­schwer­punkts geis­tige Entwick­lung in den einzelnen Bundes­län­dern macht deut­lich, dass Poli­tik­un­ter­richt eine rand­stän­dige Rolle spielt. Dabei spielen nicht nur geringe Stun­den­zu­wei­sungen oder wenig fach­lich ausge­bil­dete Fach­lehr­kräfte eine entschei­dende Rolle, sondern auch die fehlenden ziel­grup­pen­spe­zi­fi­schen Mate­ria­lien und entspre­chenden Methoden poli­ti­scher Bildung. Gerade bei komplexen Inhalten wie poli­ti­schen Entschei­dungs­pro­zessen oder dem Aufbau poli­ti­scher Gremien können über­sicht­liche und mit zusätz­li­chen Erklä­rungen verse­hene Medien und Mate­ria­lien für viele Menschen mit und ohne Behin­de­rung hilf­reich sein. Ein Appell muss sich also auch an Heraus­ge­bende von Medien, Mate­ria­lien, Infor­ma­tionen und Unter­lagen von Parteien zu Wahlen, etc. richten, diese möglichst nach­voll­ziehbar zu gestalten.

Denn erst mit dem Bewusst­sein Rechte zu haben und dem Wissen, wie diese einzu­for­dern sind, ist ein Indi­vi­duum poli­tisch hand­lungs­fähig. Insbe­son­dere in Zeiten rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mungen ist die umfas­sende poli­ti­sche Aufklä­rung unum­gäng­lich, wenn die Demo­kratie erhalten werden soll. Gleich­zeitig profi­tiert die Gesell­schaft vom Einbezug von Viel­falt, es macht sie lebens­werter und schafft Ressourcen für viele andere Teil­gruppen, denn die meisten Menschen werden einmal alt oder haben einen Unfall und sind so plötz­lich auf Unter­stüt­zungs­struk­turen ange­wiesen, derer sie sich vorher gar nicht bewusst waren. Beispiele wären etwa über­sicht­liche Orien­tie­rungs­sys­teme im ÖPNV, leichte Zugäng­lich­keit von Gebäuden oder die Nutzung von einfa­chen Formu­lie­rungen und Symbolen.

Insbe­son­dere Leichte Sprache findet mehr Verbrei­tung, zur letzten Bundes­tags­wahl 2021 boten die großen Parteien ihre Wahl­pro­gramme in Leichter Sprache an. Auch finden sich allge­meine Infor­ma­tionen in Leichter Sprache bei der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung.

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Inklu­sion und Gesellschaft

Deut­lich ist nämlich, dass Menschen mit Behin­de­rung sich nicht nur für Behin­de­rung als poli­ti­sches Thema inter­es­sieren, sondern auch mit anderen Themen ausein­an­der­setzen: „Behin­der­ten­po­litik ist ein Quer­schnitts­thema“, wenn „nicht nur behin­der­ten­po­li­ti­sche Sprecher_innen, sondern auch mal ein Verkehrs­po­li­tiker vorbei­kommt“  Aufgabe der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft und dem Staat ist es, genau diesen Gedanken aufzu­greifen und Inklu­sion als Mittel zur Weiter­ent­wick­lung von Gesell­schaft zu begreifen. D.h. Politiker_innen verschie­dener Ressorts müssen sich einbringen in den Dialog mit Menschen mit Behin­de­rung. Erst wenn Viel­falt von Gesell­schaft aner­kannt und wert­ge­schätzt werden, kann sich das gesamte Poten­tial entfalten und genutzt werden.

Dazu ist es uner­läss­lich, indi­vi­du­elle Voraus­set­zungen und Bedarfe in den Blick zu nehmen, da Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten keine homo­gene Gruppe sind und sie als Expert_innen für sich zu Wort kommen müssen. Darüber hinaus lassen sich u. a. folgende Empfeh­lungen zur inklu­siven poli­ti­schen Bildung und Teil­habe formu­lieren: poli­ti­sche Bildung muss in Förder­schulen verstärkt ange­boten; diffe­ren­zierte Mate­ria­lien und Methoden entwi­ckelt; parti­zi­pa­tive Zugänge geschaffen; Barrie­re­frei­heit in poli­ti­schen Zusam­men­hängen ausge­weitet sowie Gesell­schaft zum Abbau von Vorur­teilen einbe­zogen werden.

Ausblick

Die Wirkung dieser Teil­ha­be­mög­lich­keit lässt sich mit zwei Stimmen aus der Teilnehmenden-Befragung des Berliner Behin­der­ten­par­la­ments beschreiben: „Endlich haben Betrof­fene eine Stimme!“ „Ich habe das Gefühl, die Belange von Menschen mit Behin­de­rung werden öffent­lich sichtbar.“ Mit der Aufnahme des direkten Dialogs durch das Berliner Behin­der­ten­par­la­ment fühlen sich dementspre­chend auch Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten ange­spro­chen und vertreten. Demnach sollte das Berliner Behin­der­ten­par­la­ment anderen Bundes­län­dern als Vorbild dienen. Bislang kann bloß Bremen als einziges anderes Bundes­land auf eine sehr lange Tradi­tion mit ihrem Behin­der­ten­par­la­ment zurück­greifen. Und die Parla­mente zeigen: wie wichtig und wirksam es ist, den Zugang zur kurz­fris­tigen Betei­li­gung von Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten zu erleich­tern, um lang­fristig den Weg zur inklu­siven poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion zu ebnen. Denn nur gemeinsam lässt sich Demo­kratie gestalten und auto­kra­ti­schen Entwick­lungen entgegentreten.