Die Welt rühmt Deutschland für seine Aufarbeitung des Holocaust. Aber die Vergangenheitsbewältigung ist zu einem Instrument der Ausgrenzung geworden. – Dieser Text ist die etwas gekürzte Fassung der redaktionellen Kolumne „Responsa“ von Jewish Currents und erscheint zeitgleich in JC und auf GdG.

  • Jewish Currents

    Jewish Currents“, 1946 gegründet, ist ein vielbeachtetes und mehrfach ausgezeichnetes Magazin mit Sitz in Brooklyn, New York, das die Gegenwart in der Tradition des Denkens, des Aktivismus und der Kultur der jüdischen Linken beobachtet und kommentiert.

Irgend­wann in den Nuller Jahren begann sich in Neukölln eine Gruppe vor allem türki­scher Frauen zu treffen, um sich mit dem Holo­caust ausein­an­der­zu­setzen. Der Geschichts­un­ter­richt für die Mitglieder der migran­ti­schen Gruppe „Nach­bar­schafts­mütter” wurde von der Aktion Sühne­zei­chen ermög­licht. Die Frauen waren entsetzt von dem, was sie dabei erfuhren „Ich fragte mich, wie eine Gesell­schaft so fana­tisch werden kann”, erin­nert sich eine Teil­neh­merin namens Nazmiye. „Und wir fragten uns, ob sie uns auch so etwas antun könnten, ob wir in uns in der glei­chen Lage wie die Juden wieder­finden würden”. Aber als die Gruppe bei einem Kirchen­be­such, der eben­falls Teil des Programms war, diese Ängste äußerte, wurden ihre deut­schen Gast­geber zornig. „Sie sagten, dass wir zurück sollen, wo wir herkommen, wenn wir so denken”, erin­nert sich Nazmiye. Auf einmal war die Veran­stal­tung vorbei und die Frauen wurden aufge­for­dert zu gehen.

Im Buch Subcon­trac­tors of Guilt der Anthro­po­login Esra Özyürek finden sich viele solche Geschichten. Diese jüngst veröf­fent­lichte Studie unter­sucht die verschie­denen deut­schen Bildungs­in­itia­tiven zum Holo­caust, mit denen arabi­sche und musli­mi­sche Gemein­schaften in das deut­sche Ethos der Verant­wor­tung und der Buße für die NS-Verbrechen inte­griert werden sollen. Özyürek zeigt, dass die Teilnehmer*innen solcher Programme oft Verbin­dungen herstellen, die ihre Lehrer*innen nicht inten­diert hatten – etwa zu natio­na­lis­ti­scher Gewalt im heutigen Deutsch­land, oder zur Gewalt in Syrien, Türkei und Paläs­tina, vor der sie geflohen sind. Die Ängste der Migrantin*innen, die durch diese histo­ri­schen Begeg­nungen ausge­löst werden, sind für viele Deut­sche, so Özyürek, „die falschen Gefühle”. Ein deut­scher Guide, der Gruppen durch eine KZ-Gedenkstätte führt, erin­nert sich, „verär­gert” gewesen zu sein, wenn migran­ti­sche Besucher*innen die Angst äußerten, dass sie „die nächsten” seien, die depor­tiert werden würden: „Es fühlte sich so an, als ob sie nicht hierher gehören, und sich erst gar nicht mit deut­scher Geschichte befassen sollten.” Um wirk­lich deutsch zu sein, müssen sie die Rolle reumü­tiger Täter spielen und sich nicht wie poten­zi­elle Opfer fühlen.

Anti-Antisemitismus und sein Schatten

Diese Erwar­tungs­hal­tung ist die Grund­lage von dem, was die Wissenschaftler*innen Michael Roth­berg und Yasemin Yildiz den „migran­ti­schen double bind” nennen. In diesem Para­digma besteht der Kern modernen Deutsch­seins aus einer beson­deren Sensi­bi­lität für Anti­se­mi­tismus, die durch eine direkte, oft fami­liäre Bezie­hung zum Dritten Reich vermit­telt wird. Von Migrant*innen und rassi­fi­zierten Minder­heiten wird erwartet, dass sie dieses Erbe der Täter annehmen und tragen. Sollten sie dies nicht tun, ist das der Beweis, dass sie nicht wirk­lich nach Deutsch­land gehören. Es ist in anderen Worten ein typisch deut­sches Para­doxon, ein Zeichen der verwor­renen Dynamik zwischen Jüdinnen und Juden, Araber*innen und Deut­schen: ein Anti-Antisemitismus frag­wür­digen Ursprungs sorgt dafür, dass Deutsch-sein „arisch“ bleibt.

Deutsch­lands Selbst­ver­pflich­tung zur Erin­ne­rung ist unbe­streitbar beein­dru­ckend. Keine andere große Macht von globaler Bedeu­tung hat so ange­strengt versucht, sich ihrer Vergan­gen­heit zu stellen. Während jedoch der Rest der Welt diese Reue­kultur lobt, schlagen einige Deut­sche Alarm – vor allem Jüdinnen und Juden, Araber*innen und andere Minder­heiten. Sie sehen in diesem Umgang mit Erin­ne­rung ein in erster Linie narziss­ti­sches Projekt, mit bizarren und verstö­renden Auswir­kungen. In einem viel­ge­teilten Essay wandte der Autor Fabian Wolff 2021 ein, dass der deut­sche Fokus auf die Vergan­gen­heit den Raum für gegen­wär­tiges jüdi­sches Leben beschränkt: Deut­sche haben keinen Platz für „dieses jüdi­sche Leben außer­halb ihrer Wahr­neh­mung und Diskurse” oder für „jüdi­sches Spre­chen über jüdi­sche Themen, [das] eine andere Rele­vanz hat als das, was diese Deut­schen selbst denken oder gern hören würden.” Die Polemik Desin­te­griert euch! des Dich­ters und public intellec­tual Max Czollek knüpft an das Konzept des „Gedächt­nis­thea­ters” des Sozio­logen Y. Michael Bode­mann an: Er beschreibt damit die Rolle von deut­schen Jüdinnen und Juden in einem Narrativ, in dem es weniger um Wieder­gut­ma­chung an den Opfern eines Geno­zids geht als um die Erlö­sung der Täter*innen und ihrer Nach­fahren. 1991 schrieb Bode­mann über die Erwar­tungen, die an Jüdinnen und Juden im gerade wieder­ver­ei­nigten Deutsch­land gestellt werden: „Ganz unab­hängig von einzelnen Über­zeu­gungen, Perspek­tiven und Geschichten, sollen Juden durch ihre körper­liche Anwe­sen­heit die neue deut­sche Demo­kratie reprä­sen­tieren und damit Ideo­lo­gie­ar­beit leisten.” Czollek sagt, dass sie diese Rolle bislang nur allzu gut gespielt haben. Damit haben sie Deut­schen, die einst vor jedem erkenn­baren Natio­na­lismus zurück­schraken (und zwar aus Angst, wohin er sie führen würde), das Gefühl gegeben, sich dessen Rück­kehr verdient zu haben. Das Ergebnis ist ein explo­siver und fast trieb­hafter Natio­na­lismus, den Czollek in Ereig­nissen wie dem verstö­renden Wahl­er­folg der AfD 2017 oder dem vermeint­lich harm­losen Flag­gen­furor während der WM 2006 erkennt.

Es über­rascht kaum, dass sich dieser Wunsch nach einer natio­nalen Iden­tität nach der Wieder­ver­ei­ni­gung gegen die migran­ti­sche Bevöl­ke­rung Deutsch­lands richtet, vor allem Araber*innen und Muslim*innen. Mit der Zahl der Geflüch­teten aus dem Nahen Osten in den Zehner Jahren hat auch die rechts­extreme Gewalt gegen sie zuge­nommen. Der tödlichste Anschlag war der in Hanau, bei dem ein Täter neun Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund erschoss, um, wie er sagte, die „komplette Vernich­tung der anderen Volks­gruppen, Rassen und Kulturen in unserer Mitte” zu verwirk­li­chen. Der deut­sche Staat verur­teilt solchen Extre­mismus zwar jeweils mit klaren Worten, lässt aber nicht-weiße „Andere” oft nur zu äußerst einschrän­kenden und unter­drü­ckenden Bedin­gungen Teil des poli­ti­schen Gemein­we­sens werden. Doch während wir diesen Text schreiben, hat die Berliner Polizei wieder einmal unter Verweis auf Anti­se­mi­tis­mus­be­denken jede Demons­tra­tion in Soli­da­rität mit paläs­ti­nen­si­schen Gefan­genen und in Erin­ne­rung an die Nakba, die Vertrei­bung der Palästinenser*innen durch zionis­ti­sche Truppen während der Staats­grün­dung Israels, im Vorfeld verboten. (Kürz­lich hat die Polizei zuge­geben, dass Verhaf­tungen bei verbo­tenen Demos im letzten Jahr schon wegen des Tragens von Keffi­yehs oder des Mitfüh­rens der paläs­ti­nen­si­schen Flagge erfolgt sind; das erin­nert an das ähnlich rabiate Vorgehen gegen die paläs­ti­nen­si­sche Flagge in Israel.) Es zeigt sich, dass in Deutsch­land sowohl die Gestalt des Jüdisch-seins wie auch des Palästinensisch-seins stark kontrol­liert und gemaß­re­gelt wird – was im Wider­spruch zu den vermeint­lich huma­ni­sie­renden Auswir­kungen der Erin­ne­rung an den Holo­caust steht.

Grenzen der Vergangenheitsbewältigung

Es dauerte eine Weile, bis Deutsch­land zum Inbe­griff von Reue und Versöh­nung wurde. Während des schnellen Wieder­auf­baus neigte das Land gerade im Westen zur Leug­nung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verbre­chen. Erst in den Acht­zi­gern begannen deut­sche Aktivist*innen, auch vor dem Hinter­grund eines welt­weit wach­senden Inter­esses an Gedenk­stätten und dem Entstehen der memory studies, sich für eine stär­kere Erfor­schung und Erin­ne­rung des Holo­causts einzu­setzen. Auf Konfron­ta­ti­ons­kurs mit einer unwil­ligen konser­va­tiven Regie­rung führten diese Aktivist*innen teils drama­ti­sche öffent­liche Aktionen durch, wie die Beset­zung von ehema­ligen KZs oder symbo­li­schen „Ausgra­bungen” auf dem Gelände einer ehema­ligen Gestapo-Zentrale. Sie sollten so zu Orten öffent­li­cher Bildung werden. Der Erfolg dieser Aktionen blieb bekannt­lich nicht aus – doch seit der Wieder­ver­ei­ni­gung wurde aus diesen Graswurzel-Anstrengungen dann, kurz gesagt, offi­zi­elle Staats­po­litik. Natür­lich erfolgte diese natio­nale Hinwen­dung zu Gedenk­stätten und Erin­ne­rung nicht unei­gen­nützig. Das neue, wieder­ver­einte Deutsch­land wollte seinen Platz neben den anderen west­eu­ro­päi­schen Nationen finden, und versuchte deswegen in den folgenden zwei Jahr­zehnten zu beweisen, dass es ausrei­chend Abbitte geleistet hatte. Um seine Abbitte zu unter­mauern, verkün­dete das Land eine „jüdi­sche Renais­sance”, vor allem durch Immi­gra­tion aus der ehema­ligen Sowjet­union. Die Zufüh­rung dieser Jüdinnen und Juden wurde, in den Worten der Berliner Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lerin Hannah Tzuberi, „der wert­vollste Garan­tie­beleg für den demo­kra­ti­schen, libe­ralen und tole­ranten Charakter Deutsch­lands”. 2005 mani­fes­tierte die Nation diese Selbst­ver­pflich­tung auch physisch, mit dem Denkmal für die ermor­deten Juden Europas, einem weiten Feld aus Beton­qua­dern im Herzen von Berlin. Das Ergebnis dieser öffent­li­chen Reue­bekun­dungen war, dass „Deutsch­land endlich bereit war, die EU anzu­führen, denn jetzt hatte es nicht nur die wirt­schaft­liche Hege­mo­ni­al­stel­lung, sondern lag auch in Sachen Menschen­rechten vor allen anderen”, wie der Histo­riker Enzo Traverso letztes Jahr sarkas­tisch in der Zeit­schrift Jacobin anmerkte: „Heute ist [Erin­ne­rung an den Holo­caust] das Insi­gnium einer neuen poli­ti­schen Norma­ti­vität: Markt­ge­sell­schaft, libe­rale Demo­kratie, und Vertei­di­gung (ausge­wählter) Menschenrechte.”

Aber diese öffent­liche Buße hat ihre Grenzen. Sie schließt zum Beispiel nicht den von der deut­schen „Schutz­truppe“ zwischen 1904 und 1908 an den Herero und Nama verübten Genozid ein, bei dem zehn­tau­sende Menschen ermordet wurden. Deutsch­land hat sich erst 2021 für dieses Verbre­chen entschul­digt, stimmt aber immer noch nicht den gefor­derten Repa­ra­ti­ons­zah­lungen an die Nach­kommen der Opfer zu. Die neue deut­sche Iden­tität beruht darauf, den Holo­caust als schänd­li­chen Ausreißer aus der natio­nalen Geschichte abzu­trennen, und ihn dann durch ehrwür­diges Erin­nern zu tilgen. Für das Erin­nern an kolo­niale Gewalt ist in der natio­nalen Selbst­my­tho­lo­gi­sie­rung wenig Raum. Der Geno­zid­for­scher Dirk Moses nannte dies den „Kate­chismus der Deut­schen”; sein gleich­na­miger Essay auf dieser Platt­form löste 2021 eine hitzige Debatte aus. „Kurz gefasst impli­ziert der Kate­chismus eine Heils­ge­schichte, in der die ‚Opfe­rung‘ der Juden durch die Nazis im Holo­caust die Voraus­set­zung für die Legi­ti­mität der Bundes­re­pu­blik darstellt”, schrieb Moses. „Deshalb ist der Holo­caust für sie weit mehr als ein wich­tiges histo­ri­sches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereig­nisse – etwa durch nicht­jü­di­sche Opfer oder andere Völker­morde – konta­mi­niert werden darf, da dies seine sakrale Erlö­sungs­funk­tion beein­träch­tigen würde.”

Deutsch­land und der Staat Israel

Daher versteht Deutsch­land seinen Auftrag nach dem Holo­caust nicht im brei­teren Kampf gegen Rassismus und Gewalt, sondern in der konkreten Loya­lität zu einer bestimmten jüdi­schen poli­ti­schen Forma­tion: dem Staat Israel. Deutsch­land braucht seine engen diplo­ma­ti­schen Bezie­hungen zu Israel, um seine Abkehr vom Nazismus zu betonen, aber die Verbin­dung zum jüdi­schen Staat reicht tiefer. 2008 erklärte die dama­lige Kanz­lerin Angela Merkel vor der Knesset, dass der Schutz von Israels Sicher­heit zur deut­schen Staats­räson gehöre. Auf die Frage, warum ein deut­scher Natio­na­lismus, der letzt­lich Ausch­witz hervor­ge­bracht hat, denn erhal­tens­wert sei, gibt es jetzt eine befrie­di­gende und histo­risch symme­tri­sche Antwort: weil er den jüdi­schen Staat unterstützt.

Zu diesem Zweck wird auch Deutsch­lands eigent­lich bewun­derns­wertes System der Kultur­för­de­rung einge­setzt, um eine Bundes­tags­re­so­lu­tion von 2019 durch­zu­setzen, in der die BDS-Bewegung („Boycott, Dive­st­ment and Sanc­tions“) gegen Israel für anti­se­mi­tisch erklärt wird. Obwohl die Reso­lu­tion nicht gesetz­lich bindend ist, gibt es seit ihrer Verab­schie­dung einen nicht enden wollenden Strom an Entlas­sungen und Veran­stal­tungs­ab­sagen, und das de facto Black­lis­ting von renom­mierten Akademiker*innen, Kultur­schaf­fenden, Künstler*innen und Journalist*innen für Vergehen wie das Einladen eines wich­tigen post­ko­lo­nialen Theo­re­ti­kers, Tweets mit Kritik an der Bundes­tags­re­so­lu­tion oder die Teil­nahme an der falschen Demons­tra­tion als Jugend­liche. Ein Netz­werk aus Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragten wurde einge­richtet, um solche Vergehen zu über­wa­chen. Diese Beauf­tragten sind norma­ler­weise weiße christ­liche Deut­sche, die im Namen von Jüdinnen und Juden spre­chen und häufig selbst in der Öffent­lich­keit mit einer gewissen ‚Jüdisch­keit‘ spielen, mit Pres­se­fotos in Kippot, dem Aufführen jüdi­scher Musik oder dem Tragen israe­li­scher Poli­zei­uni­formen. Sie verkünden, wer als nächstes an den Pranger gestellt wird.

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Wenn sie mit linken Jüdinnen und Juden in Deutsch­land anein­ander geraten, ihre Veran­stal­tungen canceln und sie in verschie­denen großen Tages­zei­tungen des Anti­se­mi­tismus beschul­digen, folgen sie nur dem, was der Beauf­tragte der Bundes­re­gie­rung „für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus“, Felix Klein, offen ausspricht: dass diese Juden nicht sensibel genug dafür sind, was Anti­se­mi­tismus mit den Deut­schen macht – dass über­haupt diese Juden Anti­se­mi­tismus gar nicht richtig verstehen. Die Tatsache, dass die Deut­schen histo­risch gesehen die erfolg­reichsten Anti­se­miten waren, ist heute – und das ist der perverse Twist – eine Quali­fi­ka­tion. Indem sie die voll­endeten Beschützer der Juden geworden sind, haben die Deut­schen die mora­li­schen Lehren des Holo­caust als jüdi­sches Marty­rium so sehr verin­ner­licht, dass sie sie nur noch als Symbol brau­chen. In der Logik dieses merk­wür­digen Super­zio­nismus sind die Deut­schen die neuen Juden. Das bedeutet nicht nur rheto­ri­sche Auto­rität in jüdi­schen Ange­le­gen­heiten, sondern ist oft buch­stäb­lich zu verstehen, da dieser selbst­re­fle­xive Philo­se­mi­tismus laut Tzuberi zu einer Welle deut­scher Konver­sionen zum Judentum geführt hat.: „[D]ie jüdi­sche Wieder­ge­burt wird gewollt, gerade weil sie eine deut­sche Wieder­ge­burt ist.”

Paläs­ti­nen­si­sche Deutsche

Jüdinnen und Juden werden dadurch negiert, Palästinenser*innen hingegen diffa­miert. Im letzten Jahr unter­sagte der deut­sche Staat Demons­tra­tionen zum Nakba-Tag, nur wenige Tage nach dem Mord an der palästinensisch-amerikanischen Jour­na­listin Shireen Abu Akleh in Dschenin durch Scharf­schützen der israe­li­schen Armee. Die Polizei recht­fer­tigte diese Unter­drü­ckung des Demons­tra­ti­ons­rechtes mit der an rassis­ti­sche Topoi anknüp­fenden Behaup­tung, dass die Protes­tie­renden nicht in der Lage seien, ihre gewalt­tä­tige Wut zu beherr­schen. In Deutsch­land ist paläs­ti­nen­si­sche Iden­tität schon an sich zu einem Marker von Anti­se­mi­tismus geworden, und wird deswegen kaum laut mani­fes­tiert – obwohl im Land die mit mehr als 100.000 Menschen größte paläs­ti­nen­si­sche Gemein­schaft Europas lebt. „Wenn ich erzählt habe, dass ich Paläs­ti­nen­serin bin, wurden meine Lehrer wütend und haben gesagt, dass ich gefäl­ligst Jorda­nerin sagen soll”, schil­derte eine paläs­ti­nen­si­sche Deut­sche der Repor­terin Hebh Jamal ihre Schul­zeit. Palästinensisch-sein ist aus dem öffent­li­chen deut­schen Leben verbannt. Laut The Moral Triangle, einer anthro­po­lo­gi­schen Studie von 2020 von Sa’ed Atshan und Katha­rina Galor zu paläs­ti­nen­si­schen und israe­li­schen Gemein­schaften in Berlin, sagen viele der inter­viewten Palästinenser*innen, dass über ihren Schmerz und ihr Trauma durch die israe­li­sche Politik zu spre­chen bedeuten würde, ihre Zukunft in Deutsch­land zu zerstören. Daher schreibt auch Tzuberi: „Das kollek­tive Palästinenser-sein gilt als onto­lo­gisch anti­se­mi­tisch, bis das Gegen­teil bewiesen ist. Paläs­ti­nenser sind demnach der Kolla­te­ral­schaden des sich inten­si­vie­renden deut­schen Wunsches nach Reini­gung von Antisemitismus.”

Die besorgten Deut­schen haben Recht: Anti­se­mi­tismus nimmt in Deutsch­land zu. Aber er kommt von rechts, von weißen Deut­schen. Wie in den USA gibt es auch in Deutsch­land keine andere Gruppe, die allein den Zahlen nach ähnlich viru­lent anti­se­mi­tisch agiert. Die AfD sitzt immer noch im Bundestag, wo sie sich dafür einsetzt, das Gedenken an den Holo­caust zu beschränken. Die Covid-19-Pandemie hat eine laute und verschwö­rungs­theo­rie­hö­rige Impfgegner-Bewegung hervor­ge­bracht, deren Feind­bild klar sein dürfte. In der Polizei, in der Bundes­wehr, in den Geheim­diensten sind immer mehr Rechts­ra­di­kale, sie arbeiten sogar im Bundestag. Die weißen Ritter des Anti­se­mi­tismus scheint das nicht groß zu sorgen. Für sie ist das alles nichts im Vergleich zu BDS. Dadurch werden Palästinenser*innen, und Muslim*innen im Allge­meinen, zum Haupt­ob­jekt der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte. Wie selbst­ver­ständ­lich spre­chen Politiker*innen von „impor­tiertem Anti­se­mi­tismus”, den die Migrant*innen aus dem Nahen Osten mitge­bracht hätten. Özyürek bemerkt in Subcon­trac­tors of Guilt, dass die Deut­schen „das allge­meine gesell­schaft­liche Problem des Anti­se­mi­tismus auf diese Minder­heit mit Herkunft im Nahen Osten abge­laden haben”. Die zu begrü­ßende Libe­ra­li­sie­rung des Einbür­ge­rungs­rechts in Deutsch­land, die es Migrant*innen erleich­tert, die deut­sche Staats­bür­ger­schaft zu erhalten, trägt zu dieser Dynamik bei. Durch sie entstehen Ängste über die Essenz des Deutsch-seins, die zu dem erwähnten migran­ti­schen double bind führen, in dem weiße Deut­sche ihre Zuge­hö­rig­keit durch eine spezi­elle Perfor­mance des Anti-Antisemitismus bekräf­tigen. Auf diese Weise sorgt die vermeint­liche Abkehr von einer rassis­ti­schen Vergan­gen­heit dafür, dass sie sich bis in die Zukunft zieht.

Für ein inklu­si­veres Erinnern

Durch die Auffüh­rung eines pompösen Anti-Antisemitismus werden sowohl Jüdisch-sein als aus Palästinensisch-sein ihres Gehalts entleert und ausge­höhlt. Nur Deut­sche – mit ihrer Schuld, ihrer Schande, ihrer Bewäl­ti­gung, ihrem heim­li­chen Stolz – sind in diesem Schema reale, wirk­liche Menschen. Der deut­sche Philo­se­mi­tismus entblößt sich hier als nur ein weiteres Vehikel für eine deut­sche supre­macy, ein Vehikel, das viel­leicht gerade wegen seiner anti­ras­sis­ti­schen Fassade so attraktiv ist. Deutsch­lands erdrü­ckende Umar­mung der jüdi­schen Gemeinden inner­halb seiner Grenzen, mit oder ohne Betei­li­gung von Jüdinnen und Juden, stärkt das deut­sche Selbst­bild als mora­li­sche Instanz und lädt die Schuld des Landes auf Araber*innen und Muslim*innen ab. Das funk­tio­niert auch inter­na­tional, wenn die deut­sche Staats­räson mit dem Schutz des jüdi­schen Staates verknüpft wird. Es ist kein Zufall, dass Mathias Döpfner, CEO von Axel Springer, in internen Nach­richten ohne einen Hauch Ironie „Zionismus über alles” verkündet hat. Wir können das als proji­zierten Natio­na­lismus verstehen, in dem Deut­sche ihre natio­nalen Bestre­bungen via Jüdinnen und Juden und dem Staat Israel ausleben – als Ersatz-supre­macy, einen Prozess also, in dem natio­nale Über­le­gen­heit durch die Projek­tion auf einen Ersatz­staat bewahrt wird.

Uns ist klar, dass unsere Posi­tion in Deutsch­land wohl eher nicht wohl­wol­lend ange­nommen werden wird, schon weil sie eine Kritik am israe­li­schen Staat beinhaltet, die in Deutsch­land an den Rand des Diskurses gedrängt wird. Selbst Max Czollek, der sich seinen Ruf durch scharfe Kritik an deut­schem Natio­na­lismus erar­beitet hat, weigert sich, Kritik an Israel in sein Schema zu inte­grieren, was sicher­lich einer der Gründe ist, warum er vom deut­schen Kultur­be­trieb so herz­lich empfangen wurde. Es erfor­dert Mut, von deut­schen Bürger*innen und deut­schen Politiker*innen glei­cher­maßen, die Umrisse der deut­schen Erin­ne­rungs­kultur wieder zu hinter­fragen – nicht trotz, sondern wegen ihrer Schul­dig­keit gegen­über den Opfern der Nazis, den jüdi­schen und allen anderen. Dadurch kann in der deut­schen Psyche Jüdisch-Sein wieder wirk­lich etwas bedeuten, und einzelne Jüdinnen und Juden werden wieder als Menschen gesehen. Viel­leicht kann das auch für Palästinenser*innen gelten, deren Fami­lien von der israe­li­schen Politik unter­drückt werden und deren Iden­ti­täten von der deut­schen Politik ausge­merzt werden sollen. Nur so kann Deutsch­land hoffen, eine wirk­liche Umkehr zu voll­ziehen, nicht nur von seinen eigenen natio­na­lis­ti­schen Impulsen, sondern auch vom ethno­na­tio­na­lis­ti­schen Projekt, das Deutsch­land gegen­wärtig in Israel schützt. Immerhin ist die jüdi­sche Vorherr­schaft, die von den Sied­lungen in den Hügeln bis in die Knesset strahlt, auch Teil des deut­schen Vermächt­nisses: Sie ist eine perver­tierte Lehre aus der Shoah.

All das funk­tio­niert aber nur, wenn anders mit Erin­ne­rung und ihren Lehren für die Gegen­wart umge­gangen wird. Der Philo­soph Olúfẹ́mi O. Táíwò bietet in Recon­side­ring Repa­ra­tions (2021) einen solchen Weg an. Statt starr auf die Vergan­gen­heit zu blicken, um zu bestimmen, wie Gerech­tig­keit heute aussehen soll, fordert Táíwò eine konstruk­tive Vorstel­lung von Wieder­gut­ma­chung, die „sowohl auf heutiges Unrecht bei der [unglei­chen ökono­mi­schen] Vertei­lung als auch auf die Folgen der im Verlauf der Geschichte akku­mu­lierten unge­rechten Vertei­lung reagiert.” Er fragt: „Was, wenn der Bau der gerechten Welt schon die Wieder­gut­ma­chung ist?” Dieser zukunfts­ori­en­tierte Denk­rahmen erfor­dert ein genaues Gespür für die Struk­turen von supre­macy, sowie das Bewusst­sein, dass sich deren Ziele und Wirken auch ausweiten oder ändern können. In den Acht­ziger und Neun­zi­ger­jahren forderten die Deut­schen Rechen­schaft. Sie orga­ni­sierten Lich­ter­ketten, bildeten histo­ri­sche Arbeits­gruppen und besetzten Gebäude aus der Nazi-Zeit, um sie so als Beweis­ma­te­rial zu erhalten. Heute muss ein inklu­si­veres deut­sches Denken diesen Geist wieder­be­leben und zur Not diese Prozesse dem Staat und staat­li­chen Insti­tu­tionen entreißen, um sie und sich neu im Kampf gegen supre­macy in all ihren Formen verorten. Erin­ne­rungs­ar­beit ist nie voll­endet. Dieser Prozess, der an eine verschwin­dende Vergan­gen­heit geknüpft ist, mag sich wie eine Last anfühlen. Die Deut­schen sind verständ­li­cher­weise versucht, diesen Prozess für beendet zu erklären. Aber viel­leicht steckt nicht nur Verpflich­tung, sondern auch Erfül­lung in der Einsicht, dass Erin­ne­rung ein Terrain ist, auf dem auch neue Welten gebaut werden können.

 

Dieser Text wurde von Mitglie­dern der Redak­tion von Jewish Curr­ents gemeinsam geschrieben und bildet ein kollek­tives Gespräch ab. Er erscheint zeit­gleich in Jewish Curr­ents und auf Geschichte der Gegen­wart.
Mit Dank an Emily Dische-Becker, Ben Rats­koff, Michael Roth­berg und Jürgen Zimmerer.
Über­set­zung aus dem Ameri­ka­ni­schen von Fabian Wolff.