Irgendwann in den Nuller Jahren begann sich in Neukölln eine Gruppe vor allem türkischer Frauen zu treffen, um sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Der Geschichtsunterricht für die Mitglieder der migrantischen Gruppe „Nachbarschaftsmütter” wurde von der Aktion Sühnezeichen ermöglicht. Die Frauen waren entsetzt von dem, was sie dabei erfuhren „Ich fragte mich, wie eine Gesellschaft so fanatisch werden kann”, erinnert sich eine Teilnehmerin namens Nazmiye. „Und wir fragten uns, ob sie uns auch so etwas antun könnten, ob wir in uns in der gleichen Lage wie die Juden wiederfinden würden”. Aber als die Gruppe bei einem Kirchenbesuch, der ebenfalls Teil des Programms war, diese Ängste äußerte, wurden ihre deutschen Gastgeber zornig. „Sie sagten, dass wir zurück sollen, wo wir herkommen, wenn wir so denken”, erinnert sich Nazmiye. Auf einmal war die Veranstaltung vorbei und die Frauen wurden aufgefordert zu gehen.
Im Buch Subcontractors of Guilt der Anthropologin Esra Özyürek finden sich viele solche Geschichten. Diese jüngst veröffentlichte Studie untersucht die verschiedenen deutschen Bildungsinitiativen zum Holocaust, mit denen arabische und muslimische Gemeinschaften in das deutsche Ethos der Verantwortung und der Buße für die NS-Verbrechen integriert werden sollen. Özyürek zeigt, dass die Teilnehmer*innen solcher Programme oft Verbindungen herstellen, die ihre Lehrer*innen nicht intendiert hatten – etwa zu nationalistischer Gewalt im heutigen Deutschland, oder zur Gewalt in Syrien, Türkei und Palästina, vor der sie geflohen sind. Die Ängste der Migrantin*innen, die durch diese historischen Begegnungen ausgelöst werden, sind für viele Deutsche, so Özyürek, „die falschen Gefühle”. Ein deutscher Guide, der Gruppen durch eine KZ-Gedenkstätte führt, erinnert sich, „verärgert” gewesen zu sein, wenn migrantische Besucher*innen die Angst äußerten, dass sie „die nächsten” seien, die deportiert werden würden: „Es fühlte sich so an, als ob sie nicht hierher gehören, und sich erst gar nicht mit deutscher Geschichte befassen sollten.” Um wirklich deutsch zu sein, müssen sie die Rolle reumütiger Täter spielen und sich nicht wie potenzielle Opfer fühlen.
Anti-Antisemitismus und sein Schatten
Diese Erwartungshaltung ist die Grundlage von dem, was die Wissenschaftler*innen Michael Rothberg und Yasemin Yildiz den „migrantischen double bind” nennen. In diesem Paradigma besteht der Kern modernen Deutschseins aus einer besonderen Sensibilität für Antisemitismus, die durch eine direkte, oft familiäre Beziehung zum Dritten Reich vermittelt wird. Von Migrant*innen und rassifizierten Minderheiten wird erwartet, dass sie dieses Erbe der Täter annehmen und tragen. Sollten sie dies nicht tun, ist das der Beweis, dass sie nicht wirklich nach Deutschland gehören. Es ist in anderen Worten ein typisch deutsches Paradoxon, ein Zeichen der verworrenen Dynamik zwischen Jüdinnen und Juden, Araber*innen und Deutschen: ein Anti-Antisemitismus fragwürdigen Ursprungs sorgt dafür, dass Deutsch-sein „arisch“ bleibt.
Deutschlands Selbstverpflichtung zur Erinnerung ist unbestreitbar beeindruckend. Keine andere große Macht von globaler Bedeutung hat so angestrengt versucht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Während jedoch der Rest der Welt diese Reuekultur lobt, schlagen einige Deutsche Alarm – vor allem Jüdinnen und Juden, Araber*innen und andere Minderheiten. Sie sehen in diesem Umgang mit Erinnerung ein in erster Linie narzisstisches Projekt, mit bizarren und verstörenden Auswirkungen. In einem vielgeteilten Essay wandte der Autor Fabian Wolff 2021 ein, dass der deutsche Fokus auf die Vergangenheit den Raum für gegenwärtiges jüdisches Leben beschränkt: Deutsche haben keinen Platz für „dieses jüdische Leben außerhalb ihrer Wahrnehmung und Diskurse” oder für „jüdisches Sprechen über jüdische Themen, [das] eine andere Relevanz hat als das, was diese Deutschen selbst denken oder gern hören würden.” Die Polemik Desintegriert euch! des Dichters und public intellectual Max Czollek knüpft an das Konzept des „Gedächtnistheaters” des Soziologen Y. Michael Bodemann an: Er beschreibt damit die Rolle von deutschen Jüdinnen und Juden in einem Narrativ, in dem es weniger um Wiedergutmachung an den Opfern eines Genozids geht als um die Erlösung der Täter*innen und ihrer Nachfahren. 1991 schrieb Bodemann über die Erwartungen, die an Jüdinnen und Juden im gerade wiedervereinigten Deutschland gestellt werden: „Ganz unabhängig von einzelnen Überzeugungen, Perspektiven und Geschichten, sollen Juden durch ihre körperliche Anwesenheit die neue deutsche Demokratie repräsentieren und damit Ideologiearbeit leisten.” Czollek sagt, dass sie diese Rolle bislang nur allzu gut gespielt haben. Damit haben sie Deutschen, die einst vor jedem erkennbaren Nationalismus zurückschraken (und zwar aus Angst, wohin er sie führen würde), das Gefühl gegeben, sich dessen Rückkehr verdient zu haben. Das Ergebnis ist ein explosiver und fast triebhafter Nationalismus, den Czollek in Ereignissen wie dem verstörenden Wahlerfolg der AfD 2017 oder dem vermeintlich harmlosen Flaggenfuror während der WM 2006 erkennt.
Es überrascht kaum, dass sich dieser Wunsch nach einer nationalen Identität nach der Wiedervereinigung gegen die migrantische Bevölkerung Deutschlands richtet, vor allem Araber*innen und Muslim*innen. Mit der Zahl der Geflüchteten aus dem Nahen Osten in den Zehner Jahren hat auch die rechtsextreme Gewalt gegen sie zugenommen. Der tödlichste Anschlag war der in Hanau, bei dem ein Täter neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, um, wie er sagte, die „komplette Vernichtung der anderen Volksgruppen, Rassen und Kulturen in unserer Mitte” zu verwirklichen. Der deutsche Staat verurteilt solchen Extremismus zwar jeweils mit klaren Worten, lässt aber nicht-weiße „Andere” oft nur zu äußerst einschränkenden und unterdrückenden Bedingungen Teil des politischen Gemeinwesens werden. Doch während wir diesen Text schreiben, hat die Berliner Polizei wieder einmal unter Verweis auf Antisemitismusbedenken jede Demonstration in Solidarität mit palästinensischen Gefangenen und in Erinnerung an die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser*innen durch zionistische Truppen während der Staatsgründung Israels, im Vorfeld verboten. (Kürzlich hat die Polizei zugegeben, dass Verhaftungen bei verbotenen Demos im letzten Jahr schon wegen des Tragens von Keffiyehs oder des Mitführens der palästinensischen Flagge erfolgt sind; das erinnert an das ähnlich rabiate Vorgehen gegen die palästinensische Flagge in Israel.) Es zeigt sich, dass in Deutschland sowohl die Gestalt des Jüdisch-seins wie auch des Palästinensisch-seins stark kontrolliert und gemaßregelt wird – was im Widerspruch zu den vermeintlich humanisierenden Auswirkungen der Erinnerung an den Holocaust steht.
Grenzen der Vergangenheitsbewältigung
Es dauerte eine Weile, bis Deutschland zum Inbegriff von Reue und Versöhnung wurde. Während des schnellen Wiederaufbaus neigte das Land gerade im Westen zur Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen. Erst in den Achtzigern begannen deutsche Aktivist*innen, auch vor dem Hintergrund eines weltweit wachsenden Interesses an Gedenkstätten und dem Entstehen der memory studies, sich für eine stärkere Erforschung und Erinnerung des Holocausts einzusetzen. Auf Konfrontationskurs mit einer unwilligen konservativen Regierung führten diese Aktivist*innen teils dramatische öffentliche Aktionen durch, wie die Besetzung von ehemaligen KZs oder symbolischen „Ausgrabungen” auf dem Gelände einer ehemaligen Gestapo-Zentrale. Sie sollten so zu Orten öffentlicher Bildung werden. Der Erfolg dieser Aktionen blieb bekanntlich nicht aus – doch seit der Wiedervereinigung wurde aus diesen Graswurzel-Anstrengungen dann, kurz gesagt, offizielle Staatspolitik. Natürlich erfolgte diese nationale Hinwendung zu Gedenkstätten und Erinnerung nicht uneigennützig. Das neue, wiedervereinte Deutschland wollte seinen Platz neben den anderen westeuropäischen Nationen finden, und versuchte deswegen in den folgenden zwei Jahrzehnten zu beweisen, dass es ausreichend Abbitte geleistet hatte. Um seine Abbitte zu untermauern, verkündete das Land eine „jüdische Renaissance”, vor allem durch Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Zuführung dieser Jüdinnen und Juden wurde, in den Worten der Berliner Religionswissenschaftlerin Hannah Tzuberi, „der wertvollste Garantiebeleg für den demokratischen, liberalen und toleranten Charakter Deutschlands”. 2005 manifestierte die Nation diese Selbstverpflichtung auch physisch, mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, einem weiten Feld aus Betonquadern im Herzen von Berlin. Das Ergebnis dieser öffentlichen Reuebekundungen war, dass „Deutschland endlich bereit war, die EU anzuführen, denn jetzt hatte es nicht nur die wirtschaftliche Hegemonialstellung, sondern lag auch in Sachen Menschenrechten vor allen anderen”, wie der Historiker Enzo Traverso letztes Jahr sarkastisch in der Zeitschrift Jacobin anmerkte: „Heute ist [Erinnerung an den Holocaust] das Insignium einer neuen politischen Normativität: Marktgesellschaft, liberale Demokratie, und Verteidigung (ausgewählter) Menschenrechte.”
Aber diese öffentliche Buße hat ihre Grenzen. Sie schließt zum Beispiel nicht den von der deutschen „Schutztruppe“ zwischen 1904 und 1908 an den Herero und Nama verübten Genozid ein, bei dem zehntausende Menschen ermordet wurden. Deutschland hat sich erst 2021 für dieses Verbrechen entschuldigt, stimmt aber immer noch nicht den geforderten Reparationszahlungen an die Nachkommen der Opfer zu. Die neue deutsche Identität beruht darauf, den Holocaust als schändlichen Ausreißer aus der nationalen Geschichte abzutrennen, und ihn dann durch ehrwürdiges Erinnern zu tilgen. Für das Erinnern an koloniale Gewalt ist in der nationalen Selbstmythologisierung wenig Raum. Der Genozidforscher Dirk Moses nannte dies den „Katechismus der Deutschen”; sein gleichnamiger Essay auf dieser Plattform löste 2021 eine hitzige Debatte aus. „Kurz gefasst impliziert der Katechismus eine Heilsgeschichte, in der die ‚Opferung‘ der Juden durch die Nazis im Holocaust die Voraussetzung für die Legitimität der Bundesrepublik darstellt”, schrieb Moses. „Deshalb ist der Holocaust für sie weit mehr als ein wichtiges historisches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden darf, da dies seine sakrale Erlösungsfunktion beeinträchtigen würde.”
Deutschland und der Staat Israel
Daher versteht Deutschland seinen Auftrag nach dem Holocaust nicht im breiteren Kampf gegen Rassismus und Gewalt, sondern in der konkreten Loyalität zu einer bestimmten jüdischen politischen Formation: dem Staat Israel. Deutschland braucht seine engen diplomatischen Beziehungen zu Israel, um seine Abkehr vom Nazismus zu betonen, aber die Verbindung zum jüdischen Staat reicht tiefer. 2008 erklärte die damalige Kanzlerin Angela Merkel vor der Knesset, dass der Schutz von Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson gehöre. Auf die Frage, warum ein deutscher Nationalismus, der letztlich Auschwitz hervorgebracht hat, denn erhaltenswert sei, gibt es jetzt eine befriedigende und historisch symmetrische Antwort: weil er den jüdischen Staat unterstützt.
Zu diesem Zweck wird auch Deutschlands eigentlich bewundernswertes System der Kulturförderung eingesetzt, um eine Bundestagsresolution von 2019 durchzusetzen, in der die BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“) gegen Israel für antisemitisch erklärt wird. Obwohl die Resolution nicht gesetzlich bindend ist, gibt es seit ihrer Verabschiedung einen nicht enden wollenden Strom an Entlassungen und Veranstaltungsabsagen, und das de facto Blacklisting von renommierten Akademiker*innen, Kulturschaffenden, Künstler*innen und Journalist*innen für Vergehen wie das Einladen eines wichtigen postkolonialen Theoretikers, Tweets mit Kritik an der Bundestagsresolution oder die Teilnahme an der falschen Demonstration als Jugendliche. Ein Netzwerk aus Antisemitismusbeauftragten wurde eingerichtet, um solche Vergehen zu überwachen. Diese Beauftragten sind normalerweise weiße christliche Deutsche, die im Namen von Jüdinnen und Juden sprechen und häufig selbst in der Öffentlichkeit mit einer gewissen ‚Jüdischkeit‘ spielen, mit Pressefotos in Kippot, dem Aufführen jüdischer Musik oder dem Tragen israelischer Polizeiuniformen. Sie verkünden, wer als nächstes an den Pranger gestellt wird.
Wenn sie mit linken Jüdinnen und Juden in Deutschland aneinander geraten, ihre Veranstaltungen canceln und sie in verschiedenen großen Tageszeitungen des Antisemitismus beschuldigen, folgen sie nur dem, was der Beauftragte der Bundesregierung „für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“, Felix Klein, offen ausspricht: dass diese Juden nicht sensibel genug dafür sind, was Antisemitismus mit den Deutschen macht – dass überhaupt diese Juden Antisemitismus gar nicht richtig verstehen. Die Tatsache, dass die Deutschen historisch gesehen die erfolgreichsten Antisemiten waren, ist heute – und das ist der perverse Twist – eine Qualifikation. Indem sie die vollendeten Beschützer der Juden geworden sind, haben die Deutschen die moralischen Lehren des Holocaust als jüdisches Martyrium so sehr verinnerlicht, dass sie sie nur noch als Symbol brauchen. In der Logik dieses merkwürdigen Superzionismus sind die Deutschen die neuen Juden. Das bedeutet nicht nur rhetorische Autorität in jüdischen Angelegenheiten, sondern ist oft buchstäblich zu verstehen, da dieser selbstreflexive Philosemitismus laut Tzuberi zu einer Welle deutscher Konversionen zum Judentum geführt hat.: „[D]ie jüdische Wiedergeburt wird gewollt, gerade weil sie eine deutsche Wiedergeburt ist.”
Palästinensische Deutsche
Jüdinnen und Juden werden dadurch negiert, Palästinenser*innen hingegen diffamiert. Im letzten Jahr untersagte der deutsche Staat Demonstrationen zum Nakba-Tag, nur wenige Tage nach dem Mord an der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh in Dschenin durch Scharfschützen der israelischen Armee. Die Polizei rechtfertigte diese Unterdrückung des Demonstrationsrechtes mit der an rassistische Topoi anknüpfenden Behauptung, dass die Protestierenden nicht in der Lage seien, ihre gewalttätige Wut zu beherrschen. In Deutschland ist palästinensische Identität schon an sich zu einem Marker von Antisemitismus geworden, und wird deswegen kaum laut manifestiert – obwohl im Land die mit mehr als 100.000 Menschen größte palästinensische Gemeinschaft Europas lebt. „Wenn ich erzählt habe, dass ich Palästinenserin bin, wurden meine Lehrer wütend und haben gesagt, dass ich gefälligst Jordanerin sagen soll”, schilderte eine palästinensische Deutsche der Reporterin Hebh Jamal ihre Schulzeit. Palästinensisch-sein ist aus dem öffentlichen deutschen Leben verbannt. Laut The Moral Triangle, einer anthropologischen Studie von 2020 von Sa’ed Atshan und Katharina Galor zu palästinensischen und israelischen Gemeinschaften in Berlin, sagen viele der interviewten Palästinenser*innen, dass über ihren Schmerz und ihr Trauma durch die israelische Politik zu sprechen bedeuten würde, ihre Zukunft in Deutschland zu zerstören. Daher schreibt auch Tzuberi: „Das kollektive Palästinenser-sein gilt als ontologisch antisemitisch, bis das Gegenteil bewiesen ist. Palästinenser sind demnach der Kollateralschaden des sich intensivierenden deutschen Wunsches nach Reinigung von Antisemitismus.”
Die besorgten Deutschen haben Recht: Antisemitismus nimmt in Deutschland zu. Aber er kommt von rechts, von weißen Deutschen. Wie in den USA gibt es auch in Deutschland keine andere Gruppe, die allein den Zahlen nach ähnlich virulent antisemitisch agiert. Die AfD sitzt immer noch im Bundestag, wo sie sich dafür einsetzt, das Gedenken an den Holocaust zu beschränken. Die Covid-19-Pandemie hat eine laute und verschwörungstheoriehörige Impfgegner-Bewegung hervorgebracht, deren Feindbild klar sein dürfte. In der Polizei, in der Bundeswehr, in den Geheimdiensten sind immer mehr Rechtsradikale, sie arbeiten sogar im Bundestag. Die weißen Ritter des Antisemitismus scheint das nicht groß zu sorgen. Für sie ist das alles nichts im Vergleich zu BDS. Dadurch werden Palästinenser*innen, und Muslim*innen im Allgemeinen, zum Hauptobjekt der Antisemitismusdebatte. Wie selbstverständlich sprechen Politiker*innen von „importiertem Antisemitismus”, den die Migrant*innen aus dem Nahen Osten mitgebracht hätten. Özyürek bemerkt in Subcontractors of Guilt, dass die Deutschen „das allgemeine gesellschaftliche Problem des Antisemitismus auf diese Minderheit mit Herkunft im Nahen Osten abgeladen haben”. Die zu begrüßende Liberalisierung des Einbürgerungsrechts in Deutschland, die es Migrant*innen erleichtert, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, trägt zu dieser Dynamik bei. Durch sie entstehen Ängste über die Essenz des Deutsch-seins, die zu dem erwähnten migrantischen double bind führen, in dem weiße Deutsche ihre Zugehörigkeit durch eine spezielle Performance des Anti-Antisemitismus bekräftigen. Auf diese Weise sorgt die vermeintliche Abkehr von einer rassistischen Vergangenheit dafür, dass sie sich bis in die Zukunft zieht.
Für ein inklusiveres Erinnern
Durch die Aufführung eines pompösen Anti-Antisemitismus werden sowohl Jüdisch-sein als aus Palästinensisch-sein ihres Gehalts entleert und ausgehöhlt. Nur Deutsche – mit ihrer Schuld, ihrer Schande, ihrer Bewältigung, ihrem heimlichen Stolz – sind in diesem Schema reale, wirkliche Menschen. Der deutsche Philosemitismus entblößt sich hier als nur ein weiteres Vehikel für eine deutsche supremacy, ein Vehikel, das vielleicht gerade wegen seiner antirassistischen Fassade so attraktiv ist. Deutschlands erdrückende Umarmung der jüdischen Gemeinden innerhalb seiner Grenzen, mit oder ohne Beteiligung von Jüdinnen und Juden, stärkt das deutsche Selbstbild als moralische Instanz und lädt die Schuld des Landes auf Araber*innen und Muslim*innen ab. Das funktioniert auch international, wenn die deutsche Staatsräson mit dem Schutz des jüdischen Staates verknüpft wird. Es ist kein Zufall, dass Mathias Döpfner, CEO von Axel Springer, in internen Nachrichten ohne einen Hauch Ironie „Zionismus über alles” verkündet hat. Wir können das als projizierten Nationalismus verstehen, in dem Deutsche ihre nationalen Bestrebungen via Jüdinnen und Juden und dem Staat Israel ausleben – als Ersatz-supremacy, einen Prozess also, in dem nationale Überlegenheit durch die Projektion auf einen Ersatzstaat bewahrt wird.
Uns ist klar, dass unsere Position in Deutschland wohl eher nicht wohlwollend angenommen werden wird, schon weil sie eine Kritik am israelischen Staat beinhaltet, die in Deutschland an den Rand des Diskurses gedrängt wird. Selbst Max Czollek, der sich seinen Ruf durch scharfe Kritik an deutschem Nationalismus erarbeitet hat, weigert sich, Kritik an Israel in sein Schema zu integrieren, was sicherlich einer der Gründe ist, warum er vom deutschen Kulturbetrieb so herzlich empfangen wurde. Es erfordert Mut, von deutschen Bürger*innen und deutschen Politiker*innen gleichermaßen, die Umrisse der deutschen Erinnerungskultur wieder zu hinterfragen – nicht trotz, sondern wegen ihrer Schuldigkeit gegenüber den Opfern der Nazis, den jüdischen und allen anderen. Dadurch kann in der deutschen Psyche Jüdisch-Sein wieder wirklich etwas bedeuten, und einzelne Jüdinnen und Juden werden wieder als Menschen gesehen. Vielleicht kann das auch für Palästinenser*innen gelten, deren Familien von der israelischen Politik unterdrückt werden und deren Identitäten von der deutschen Politik ausgemerzt werden sollen. Nur so kann Deutschland hoffen, eine wirkliche Umkehr zu vollziehen, nicht nur von seinen eigenen nationalistischen Impulsen, sondern auch vom ethnonationalistischen Projekt, das Deutschland gegenwärtig in Israel schützt. Immerhin ist die jüdische Vorherrschaft, die von den Siedlungen in den Hügeln bis in die Knesset strahlt, auch Teil des deutschen Vermächtnisses: Sie ist eine pervertierte Lehre aus der Shoah.
All das funktioniert aber nur, wenn anders mit Erinnerung und ihren Lehren für die Gegenwart umgegangen wird. Der Philosoph Olúfẹ́mi O. Táíwò bietet in Reconsidering Reparations (2021) einen solchen Weg an. Statt starr auf die Vergangenheit zu blicken, um zu bestimmen, wie Gerechtigkeit heute aussehen soll, fordert Táíwò eine konstruktive Vorstellung von Wiedergutmachung, die „sowohl auf heutiges Unrecht bei der [ungleichen ökonomischen] Verteilung als auch auf die Folgen der im Verlauf der Geschichte akkumulierten ungerechten Verteilung reagiert.” Er fragt: „Was, wenn der Bau der gerechten Welt schon die Wiedergutmachung ist?” Dieser zukunftsorientierte Denkrahmen erfordert ein genaues Gespür für die Strukturen von supremacy, sowie das Bewusstsein, dass sich deren Ziele und Wirken auch ausweiten oder ändern können. In den Achtziger und Neunzigerjahren forderten die Deutschen Rechenschaft. Sie organisierten Lichterketten, bildeten historische Arbeitsgruppen und besetzten Gebäude aus der Nazi-Zeit, um sie so als Beweismaterial zu erhalten. Heute muss ein inklusiveres deutsches Denken diesen Geist wiederbeleben und zur Not diese Prozesse dem Staat und staatlichen Institutionen entreißen, um sie und sich neu im Kampf gegen supremacy in all ihren Formen verorten. Erinnerungsarbeit ist nie vollendet. Dieser Prozess, der an eine verschwindende Vergangenheit geknüpft ist, mag sich wie eine Last anfühlen. Die Deutschen sind verständlicherweise versucht, diesen Prozess für beendet zu erklären. Aber vielleicht steckt nicht nur Verpflichtung, sondern auch Erfüllung in der Einsicht, dass Erinnerung ein Terrain ist, auf dem auch neue Welten gebaut werden können.
Dieser Text wurde von Mitgliedern der Redaktion von Jewish Currents gemeinsam geschrieben und bildet ein kollektives Gespräch ab. Er erscheint zeitgleich in Jewish Currents und auf Geschichte der Gegenwart.
Mit Dank an Emily Dische-Becker, Ben Ratskoff, Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Fabian Wolff.
Für mich ein entscheidender Satz: “ Immerhin ist die jüdische Vorherrschaft, die von den Siedlungen in den Hügeln bis in die Knesset strahlt, auch Teil des deutschen Vermächtnisses: Sie ist eine pervertierte Lehre aus der Shoah“. Ja! – Eines der schlimmsten deutschen Wörter ist für mich „Wiedergutmachung“. Wenig schlimmer ist die deutsche Aussage, die angestrebte Vernichtung der Juden in der Nazizeit sei ein „unfassbares Verbrechen“, quasi ein Ausrutscher gewesen – dabei haben Millionen von Deutschen recht entspannt von Anfang an (Enteignung jüdischen Vermögens) mitgeholfen – und ungerührt profitiert. Der heute gängige Philosemitismus bestätigt nur, dass wir Deutschen eine nicht zu… Mehr anzeigen »