Seit fast einem Jahr wird in Zürich der 100. Geburtstag von Dada gefeiert. Doch wie steht es um die Zukunft des Cabaret Voltaire? Hat sich Dada wirklich, wie es immer wieder heißt, von Beginn an gegen seine Institutionalisierung gesträubt?

So reich­haltig wie im Jubi­lä­ums­jahr 2016 ist Dada noch nie gefeiert worden. Denkt man zurück an die Grün­dung des Cabaret Voltaire im hinteren Teil der Kneipe Meierei am 5. Februar 1916, dann war damals die Zukunft von Dada noch ganz und gar offen: Nichts war absehbar. Kriegs­flücht­linge, Heimat­lose, expe­ri­men­tier­freu­dige Künstler machten sich auf nach Zürich. An der Spie­gel­gasse 1 fanden sie einen Ort, an dem noch nichts defi­niert war. Genau das war der Witz und die Chance.

Meierei und Holländerstübli, um 1930, Quelle: cabaretvoltaire.ch

Meierei und Hollän­der­st­übli, um 1930, Quelle: cabaretvoltaire.ch

Das Cabaret Voltaire war im Grunde ein dunkles Loch. Eine mehr schlecht als recht zurecht­ge­machte Rück­seite einer Spelunke. Saal wäre schon zu viel gesagt. Eher: ein Ort, der eigent­lich über­zählig und unge­nutzt war, ein drei­di­men­sio­nales Nichts, eine Blackbox ohne Geheim­nisse und ohne Hinter­sinn. Positiv formu­liert: ein Ort, der nach freiem Ermessen defi­niert und umde­fi­niert, besetzt und bespielt werden konnte. Ein Frei­raum. Laut­ge­dichte und Mani­feste wurden vorge­tragen, es wurde getanzt und getrom­melt, geschrien und musi­ziert. Gegen den Krieg. Gleich­zeitig zurück­hal­tend allen Versu­chen gegen­über, schon zu wissen, was als Nächstes kommen sollte. Nicht weit daneben, an der Spie­gel­gasse 14, lebte damals Lenin. Für viele ist die erst­mals von Hugo Ball in die Welt gesetzte Vorstel­lung nach wie vor attraktiv, dass Lenin mögli­cher­weise die dada­is­ti­schen Trom­mel­klänge und Prokla­ma­tionen gehört habe – um kurz darauf die Revo­lu­tion in Russ­land in Gang zu bringen.

Die beiden Seiten von Dada

Die revo­lu­tio­näre Seite von Dada bestand darin: nicht still­schwei­gend gelten zu lassen, was zuvor als Kunst oder als korrekte Lebens­füh­rung ange­sehen wurde – und oft genug auch ange­sehen werden musste (von Letz­terem zeugen etwa die Aufzeich­nungen und Maßnahmen der dama­ligen ‚Poli­ti­schen Polizei‘). Die dada­is­ti­sche Kritik an den bestehenden Verhält­nissen hatte aller­dings eine Kehr­seite. Immer wieder geht diese vergessen, wenn man Dada auf das große Nein­sagen redu­ziert. Nicht nur, dass aus dem Vakuum des großen Nein­sa­gens heraus über­haupt erst die Möglich­keit geschaffen wurde, mit neuen Artikulations- und Lebens­weisen in die stets unab­seh­bare Zukunft zu schreiten. Der gesamte Prozess der Abwehr gegen­über allen bekannten und als über­lebt wahr­ge­nom­menen Formen des Über­lie­ferten lief parallel mit der Erpro­bung neuar­tiger Formen der Insti­tu­tio­na­li­sie­rung, der Verfes­ti­gung von Struk­turen, ja sogar früh schon der Histo­ri­sie­rung alles dessen, was damals entwi­ckelt und gemacht wurde.

Schon der erste Schritt war ein Schritt zum Amt: Es bedurfte einer Bewil­li­gung zum Abhalten der geplanten künst­le­ri­schen Abende. Sie wurde ordnungs­gemäß einge­holt. Danach sprach Hugo Ball ebenso selbst­be­wusst wie offi­ziell davon, dass er das Cabaret Voltaire Anfang Februar 1916 „grün­dete“.

Auszug aus dem Vorwort Hugo Balls zur ersten und einzigen Nummer der Zeitschrift 'Cabaret Voltaire'. Quelle: www.lib.uiowa.edu/dada/

Auszug aus dem Vorwort Hugo Balls zur ersten und einzigen Nummer der Zeit­schrift ‚Cabaret Voltaire‘. Quelle: www.lib.uiowa.edu/dada/

Kurz danach schon entstehen Zeit­schriften unter­schied­li­cher Art. Einige von ihnen kommen über die erste Nummer nicht hinaus. Andere erscheinen mit wech­selnden Inhalten. Die Idee jeden­falls, sich im oder im Gegen­satz zum dama­ligen Kunst­be­trieb ‚fest­zu­setzen‘ und in diesem Sinne zu ‚insti­tu­tio­na­li­sieren‘, war diesen Projekten keines­wegs fremd. Davon zeugt auch die recht rasch, nämlich im März 1917 schon erfolgte Eröff­nung einer Galerie Dada an der – im Unter­schied zur Spie­gel­gasse – höchst respek­ta­blen Bahn­hofstrasse. Ebenso schnell fanden Dada-Ausstellungen, Dada-Messen und öffent­liche Aktionen unter­schied­lichster Art statt.

Pressenotiz vom 2. Februar 2016, Bildzitat aus der Erstausgabe von Hugo Balls 'Flucht aus der Zeit' von 1927

Pres­se­notiz vom 2. Februar 2016, Bild­zitat aus der Erst­aus­gabe von Hugo Balls ‚Flucht aus der Zeit‘ von 1927

Zwei Seiten also, von denen zu sagen ist, dass sie zusam­men­ge­hören: einer­seits Kritik an den dama­ligen insti­tu­tio­na­li­sierten Formen von Kunst, Kultur, Wissen­schaft, ande­rer­seits die viel zu wenig beach­tete, jedoch von Anfang an bestehende Arbeit an oftmals ganz neuar­tigen Insti­tu­tio­na­li­sie­rungs­pro­zessen. Diese zielten darauf ab, die künst­le­risch eroberten Frei­räume mit einer zumin­dest tempo­rären Dauer zu versehen, anhal­tende Möglich­keiten der Rezep­tion, Wert­schät­zung und Weiter­ar­beit zu eröffnen. Das schloss die Hoff­nung auf gesell­schaft­liche Akzep­tanz keines­wegs aus. Warum denn auch? Selbst und gerade die Dada-Manifeste haben stets einen doppelten Boden: Wo sie Kunst infrage stellen, tun sie dies selbst in künst­le­ri­scher Weise, und wo sie den Moment feiern, hinter­lassen sie bereits eine Spur, die diesen Moment über­dauert. Die sprich­wört­lich gewor­dene Wider­spruchs­lust von Dada muss auch und gerade mit Blick auf ihre Insti­tu­tio­nen­kritik und – ja, warum auch nicht – Insti­tu­tio­nen­liebe ernst­ge­nommen werden.

Geht man einen Schritt weiter, so lässt sich aus dieser Wider­spruchs­lust sogar die Lehre ziehen, dass eine krea­tive Arbeit an und mit Insti­tu­tionen, zumal im Bereich der Kunst, die Kritik an ihnen und ihren Struk­turen stets und notwendig mitim­pli­ziert. Alles andere wäre Folk­lore – oder Sakralisierung.

…frei von insti­tu­tio­nellen Verflechtungen?

Was Dada angeht, so meldeten sich aller­dings gerade im Jahr 2016, im Zuge der 100-Jahr-Feierlichkeiten, immer wieder Stimmen zu Wort, die genau zu wissen glaubten, dass Dada doch gegen die Kunst als Insti­tu­tion, gegen die Musea­li­sie­rung und – fast möchte man mit Trumps Worten sagen – gegen das Estab­lish­ment antrat. Warum also sollte Dada oder die Erin­ne­rung daran eigens geför­dert werden? Die SVP zumin­dest hatte die Vorbe­rei­tungen der Dada-Feierlichkeiten und ihrer Finan­zie­rung bereits mit dieser Art von Kritik begleitet. Es ist daher kein Zufall, dass man es mit dem kitschigen Bild einer Bewe­gung zu tun bekam, die, tral­l­a­lala, doch alles gar nicht so ernst nahm, den Moment allein feiern wollte und darüber hinaus auch keine poli­ti­schen Konse­quenzen im Sinn hatte.

So einfach kann man es sich machen. Doch so einfach machten es sich die Dada­isten (und erst recht die Dada­is­tinnen) selbst nicht. Auch in der Avant­gar­de­for­schung wurde lange Zeit das Bild einer ‚echten‘, ‚reinen‘, ‚ursprüng­li­chen‘ Avant­garde gepflegt, die sich zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts vor jegli­cher Form der Insti­tu­tio­na­li­sie­rung (und auch der Kommer­zia­li­sie­rung) rein­ge­halten haben soll. Wie Peter Bürger 1974 in seiner Theorie der Avant­garde zu betonen nicht müde wurde, hatten die euro­päi­schen Avant­garden die voll­kom­mene Aufhe­bung der Kunst im Leben zum Ziel. Die Insti­tu­tionen sollten außen vor bleiben. Kein Wunder, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde… Nur: Stimmte die Annahme überhaupt?

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Dada-Stadtplan 1919/2016, Quelle: fleursdumal.nl

Dada-Stadtplan 1919/2016, Quelle: fleursdumal.nl

In den vergan­genen zwanzig Jahren hat sich das Bild gewan­delt: Der Entwurf einer ‚ursprüng­li­chen‘ Avant­garde, die anschei­nend frei von insti­tu­tio­nellen Verflech­tungen gewesen sein soll, muss selbst als Projek­tion einer über­holten ‚ideo­lo­gie­kri­ti­schen‘ Perspek­tive, wie sie in den 1970er Jahren en vogue war, inter­pre­tiert werden. Auch und gerade Dada ist von derar­tigen Projek­tionen nicht frei. Das passiert, wenn die eigenen Utopie­wün­sche in eine anschei­nend bessere Vergan­gen­heit zurück­pro­ji­ziert werden. Kitsch halt. Es war ein Glücks­fall, dass die offi­zi­ellen Dada-Feierlichkeiten diesem Kitsch nicht erlegen sind. Auch die großen Ausstel­lungen im Landes­mu­seum und im Kunst­haus haben das Terrain mit der nötigen Noncha­lence oder aber, wie im Falle der Rekon­struk­ti­ons­ar­beit von Tristan Tzaras Dada­globe-Projekt, mit dem Charme trockener Akribie sondiert.

Eine derar­tige kitsch­freie Arbeit und Weiter­ar­beit am ‚Erbe‘ Dadas ist nur möglich, wenn man ein entspanntes Verhältnis zur vermeint­li­chen Proble­matik unter­hält, dass Dada doch ‚eigent­lich‘ mit Insti­tu­tionen, offi­zi­ellen Anlässen, Geld, Museen, Förde­rungs­an­sinnen etc. nichts zu tun haben sollte. Gegen­über den Verkün­dern dada­is­ti­scher Eigent­lich­keit sollte man sich den Luxus leisten, einen kühlen Kopf zu bewahren: Denn aus einer histo­ri­schen Perspek­tive ist die Annahme einer grund­sätz­li­chen Absti­nenz oder Distanz Dadas gegen­über den viel­fältig zu denkenden Formen von Insti­tu­tio­na­li­sie­rungs­pro­zessen schlicht falsch.

Gegen­wart und Zukunft des Cabaret Voltaire

Ange­sichts der zu erwar­tenden poli­ti­schen Diskus­sionen rund um die künf­tige Förde­rung des Cabaret Voltaire durch die Stadt Zürich wird vermut­lich auch die Frage wieder aufs Tapet kommen, in welcher Weise eine Bewe­gung wie dieje­nige Dadas über­haupt eine Insti­tu­tio­na­li­sie­rung verträgt. Die Frage ist wichtig. Sie sollte aber nicht von der, wie gesagt, falschen Annahme ausgehen, dass eine Insti­tu­tio­na­li­sie­rung grund­sätz­lich am ‚Geist‘ Dadas vorbei­ziele. Das ist nicht nur histo­risch unzu­tref­fend. Die Annahme wäre auch und gerade gegen­wärtig frag­würdig, weil wir es mit Blick auf die Situa­tion der Kunst und Kultur im 21. Jahr­hun­dert schlicht mit ganz anderen Voraus­set­zungen zu tun haben als noch vor hundert Jahren. Wenn man Dada tatsäch­lich als ein kultu­relles ‚Erbe‘ verstehen will, das eine gegen­wär­tige und künf­tige Tradie­rung lohnt, dann sollte man zurück­kehren zu jenem anfangs erwähnten Glück des Frei­raums, das für die Dada-Aktivitäten im dama­ligen Cabaret Voltaire von so entschei­dender Bedeu­tung war.

Aller­dings exis­tieren heut­zu­tage Frei­räume in einem städ­ti­schen Kontext gerade wie demje­nigen Zürichs nicht einfach so. Sie müssen viel­mehr erst geschaffen oder erkämpft werden – und das klappt am Ende nur, wenn dies von einer Gruppe oder besser noch von der Mehr­heit einer Stadt gewünscht wird und dafür auch die nötigen Mittel bereit­ge­halten werden. Gerade am Cabaret Voltaire lässt sich dieser Zusam­men­hang muster­gültig nach­voll­ziehen: Es waren die stimm­be­rech­tigten Einwoh­ne­rinnen und Einwohner, die 2008 in einer Abstim­mung mit einer klaren Mehr­heit dafür votiert haben, dass das Cabaret Voltaire durch die Stadt unter­stützt werden soll – nament­lich durch die Über­nahme der anfal­lenden Miet­kosten. In den vergan­genen Jahren hat das Cabaret Voltaire gezeigt, dass die Erbschaft Dadas gerade dann am besten erin­nert, kreativ ‚verwaltet‘ und weiter­t­ra­diert wird, wenn man auf den Ort selbst als Ermög­li­chungsort von Begeg­nungen, Situa­tionen, Refle­xionen, Expe­ri­menten, Erfin­dungen und, ja, Kritik setzt. Keine Selbst­ver­ständ­lich­keit ist es, dass es nun mitten in der Stadt einen solchen Ort gibt – und wie die letzten Jahre gezeigt haben, wurde er auch intensiv genutzt.

Das Cabaret Voltaire heute, von innen, Quelle: zuerich.com

Das Cabaret Voltaire heute, von innen, Quelle: zuerich.com

Mit den 100-Jahr-Feierlichkeiten dürfte deut­lich geworden sein, dass Dada sogar zu einem Wirt­schafts­faktor avan­ciert ist. Das Stadt­mar­ke­ting hat zurecht erkannt, dass Zürich bei seinen inter­na­tio­nalen Gästen mit Dada einen Trumpf in der Hand hat. Denn schließ­lich hat die Schweiz insge­samt keine einzige künst­le­ri­sche Bewe­gung vorzu­weisen, die es in punkto inter­na­tio­naler Strahl­kraft mit Dada aufnehmen könnte. Den dama­ligen Exilanten ist dafür zu danken. Ob man die kommer­zi­elle Ausschlach­tung von Dada beklagen soll? Auch hier wäre es zu billig, die Kommer­zia­li­sie­rung als bloße Gegen­spie­lerin einer darin sicher­lich in keiner Weise aufge­henden Bewe­gung zu begreifen. Worum es aber gehen kann, ist dies: Den direkten oder indi­rekten Mehr­wert von Dada zu nutzen, um diesen Wert für jenen Frei­raum einzu­setzen, den es sonst schlicht nicht gäbe. Eben dies zeichnet sich nun ab, wenn die Stadt Zürich die Liegen­schaft des Cabaret Voltaire erwerben will, um eine kultu­relle Nutzung zu sichern.

Am 14. September 2016 hat der Zürcher Stadtrat beim Gemein­derat einen „Liegen­schaft­en­tausch“ mit der Anla­ge­stif­tung Swiss Life bean­tragt. Zudem will der Stadtrat, so heißt es in der Medi­en­mit­tei­lung, „den Träger­verein des Cabaret Voltaire weiterhin durch die Über­nahme des Miet­zinses sowie neu durch einen Betriebs­bei­trag von jähr­lich 150’000 Franken unter­stützen.“ Für das Weiter­leben von Dada, die Stadt und die Kunst sind das gute Nach­richten. Viel­leicht war Dada die erste Avant­gar­de­be­we­gung, die erkannt hat, dass Insti­tu­tio­na­li­sie­rungen im Bereich der Kunst nur dann frag­würdig sind, wenn diese ihre Aufgabe bloß in der Konser­vie­rung und Verwal­tung des Vergan­genen statt in der Ausein­an­der­set­zung mit der Gegen­wart und ihrer mögli­chen Zukunft sehen.

Wie eine solche Ausein­an­der­set­zung statt­finden soll, wird eine prin­zi­piell immer wieder von neuem auszu­han­delnde Frage sein. Der Akzent liegt dabei auf dem ‚immer wieder von neuem‘. Denn genau darin bestand auch Dada: in einer radi­kalen, stets auf die aktu­ellen Bege­ben­heiten reagie­renden Zuwen­dung zur Gegen­wart. Wenn es einen ‚Geist‘ von Dada gibt, den man in der einen oder anderen Weise bewahren möchte, dann wird man diesen Geist nicht in einer Konserve einsperren können. Sondern man wird sich aufmerksam mit der heutigen Gegen­wart beschäf­tigen müssen: ihren Fragen und Problemen, ihren Medien und Darstel­lungen, ihren Geschichten und Verwir­rungen, ihrer Kritik und Komik. Man wird dies nicht alleine tun können bzw. sollen, sondern in Netz­werken und Gruppen – auch das kann Dada einen lehren. Viel­leicht wird man dabei auch lernen können, was es heißt, den von Dada verfoch­tenen Unsinn als Korrektiv zu jenem – poli­ti­schen, ökono­mi­schen, habi­tu­ellen – Unsinn wert­zu­schätzen, der von einer Gesell­schaft womög­lich gar nicht mehr als solcher erkannt wird.