Ende September 1941 wurden Zehntausende von Jüdinnen und Juden aus Kiew von den Deutschen mit Hilfe der ukrainischen Miliz zusammengetrieben. Sie wurden an einen Ort namens Babyn Jar gebracht, was auf Ukrainisch „Großmutters Schlucht“ bedeutet. Dort wurden sie gezwungen, sich zu entkleiden, bevor sie von Mitgliedern der Einsatzgruppe C, Sonderkommando 4a, einem Todesschwadron der Nazis, erschossen wurden. Mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden wurden auf diese Weise ermordet, einigen älteren Juden gelang es nach dem Massaker, nach Kiew zurückzukehren, wo sie tage- und nächtelang traumatisiert neben der Synagoge saßen, bis auch sie von einem deutschen Wachmann getötet wurden.

Kleidung ermordeter Juden in der Schlucht Babyn Jar, September 1941; Quelle: spiegel.de
Das Massaker von Babyn Jar steht für das, was als der „Holocaust durch Kugeln“ bezeichnet wird. Etwa 1,5 Millionen ukrainische Jüd:innen wurden zwischen 1941 und 1944 ermordet, die meisten von ihnen durch Schüsse. Aber es waren nicht nur Juden, die in Babyn Jar abgeschlachtet wurden. Als die Sowjets Ende 1943 Kiew erreichten, hatten die Nazis die Schlucht auch für weitere Tötungsaktionen genutzt, denen unter anderem Roma, sowjetische Kriegsgefangene, ukrainische Nationalisten und Priester zum Opfer fielen. Insgesamt kamen in Babyn Jar etwa 100.000 Menschen ums Leben.
Verschüttete Vergangenheit
Babyn Jar blieb auch später ein Ort des Todes. Im März 1961 führte ein gewaltiger Erdrutsch, der als Kurenivka-Schlammlawine bekannt ist, dazu, dass sich Schlamm und Wasser auf die Straßen von Kiew ergossen. Unter dem Schlamm befanden sich auch menschliche Überreste aus Babyn Jar. Die sowjetischen Behörden hatten einst versucht, den Ort unter einer Mülldeponie zu begraben, die daraufhin mit flüssigen Abfällen aus nahe gelegenen Ziegelfabriken gefüllt wurde. Offiziellen Angaben zufolge forderte die Schlammlawine vom März 1961 145 Todesopfer, nach Angaben des Historikers Oleksandr Anisimov könnten es jedoch bis zu 1.500 gewesen sein.

Brand auf dem Gelände der Gedenkstätte Babyn Jar nach dem russischen Raketenangriff; Quelle: bbc.com
Erst vor wenigen Tagen tötete eine russische Rakete, die auf einen Fernsehturm in Babyn Jar abgefeuert wurde, mindestens fünf Menschen und beschädigte Berichten zufolge den dort befindlichen Gedenkpark. Das erste offizielle Denkmal an diesem Ort war 1976 errichtet worden. Sie war den sowjetischen Bürgern gewidmet; von Jüd:innen aber war nicht die Rede. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in Babyn Jar weitere Denkmäler errichtet, die an die verschiedenen Opfergruppen erinnern; und erst im vergangenen Jahr wurde auch ein Gedenkzentrum eröffnet. Besonders bekannt aber ist heute das Mahnmal für die ermordeten Juden in Form einer Menorah. Dass Putins Truppen die Gedenkstätte angriffen oder zumindest Kollateralschäden zuließen, wurde sofort breit verurteilt. Da die Sowjetunion das Leiden und Sterben der Jüdinnen und Juden im Holocaust lange Zeit nicht ausdrücklich anerkannte und die jüdischen Opfer stattdessen unter dem Begriff „Sowjetbürger“ versteckte, erschien dieser Angriff wie ein weiterer Versuch, die Erinnerung an die Vernichtung der Juden auszulöschen.
Ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof
Die bittere Ironie der Situation war unübersehbar. Putin hatte von der Notwendigkeit gesprochen, Russland gegen die „Erniedrigung und den Genozid“ zu verteidigen, die von der Ukraine ausgingen, und sie daher „zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren“. Doch seine Truppen griffen ein Land an, dessen Präsident jüdisch ist und der drei seiner Großonkel im Holocaust verloren hat; und es waren russische Truppen, die der Heiligkeit einer Gedenkstätte für die in einem Genozid ermordeten Juden Gewalt antaten. Nach der Nachricht von dem Angriff auf den Fernsehturm erklärte Selenskyi umgehend, dass Russland selbst einen Völkermord begehe. Mit anderen Worten, der Anschlag richte sich nicht nur gegen die Erinnerung an den Holocaust, sondern sei auch ein Zeichen dafür, dass der Holocaust kurz davor sei, sich zu wiederholen: „An die Welt: Was nützt es, 80 Jahre lang zu sagen ‚nie wieder‘, wenn die Welt schweigt, wenn eine Bombe auf denselben Ort wie Babyn Jar fällt?“, fragte Selenskyi in einem Tweet. Bereits zuvor hatte er den Internationalen Strafgerichtshof aufgefordert, den russischen Angriff als potenziellen Völkermord zu untersuchen, und er warf Russland vor, die Ukraine eines angeblichen Genozids zu beschuldigen, um die eigene Aggression zu rechtfertigen.
Seit dem Einmarsch in die Ukraine gibt es Berichte über Kriegsverbrechen. Als Beweise wurden die rücksichtslose russische Bombardierung ukrainischer Städte und ziviler Infrastruktur, die Nichteinhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen, der Beschuss von Evakuierten und der tödliche Einsatz von Streumunition (z. B. bei einem Kindergarten in Ochtyrka) angeführt. In einer Erklärung vom 28. Februar kam der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Kahn, nach Auswertung der vorliegenden Belege zum Schluss, dass es „hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass in der Ukraine sowohl mutmaßliche Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden“. Am 2. März bestätigte er dann, dass seine Behörde eine Untersuchung „der Situation in der Ukraine ab dem 21. November 2013“ einleiten werde, „die alle früheren und aktuellen Vorwürfe von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord, die in irgendeinem Teil des ukrainischen Hoheitsgebiets von irgendeiner Person begangen wurden, umfasst“. Obwohl dieser Auftrag auch eine Untersuchung angeblicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Ukrainer und Russen in den umkämpften Gebieten der Ostukraine zu beinhalten scheint, dürfte der Schwerpunkt auf Russlands aktuellem Angriff auf die Ukraine liegen.
‚Nie wieder‘?

Präsident Wolodymyr Selenskyi bei seiner Rede zum Angriff auf die Gedenkstätte Babyn Jar; Quelle: tagesschau.de
Unabhängig davon, ob man der Auffassung zustimmt, dass Russlands Vorgehen in der Ukraine einen Genozid oder den Beginn eines solchen darstellt, sind mehrere Dinge klar. Erstens setzt Selenskyi alles daran, Putin als Heuchler zu entlarven, als jemanden, der andere (grundlos) des Genozids beschuldigt, während er selbst im Modus eines Völkermords handelt. Zweitens beschwört Selenskyi das Gespenst eines weiteren Holocaust herauf, um zu versuchen, den Westen zum Handeln zu bewegen, indem er an seinen moralischen Kodex des ‚Nie wieder‘ appelliert. Wenn es dem Westen wirklich darum gehe, dann muss er doch handeln, wenn die Gefahr besteht, dass es ‚wieder‘ passiert.
Drittens: Selenskyi setzt das Schicksal der Jüd:innen im Holocaust mit dem möglichen Schicksal der Ukrainer:innen in der Gegenwart gleich. Dies ist vielleicht die interessanteste Entwicklung. Babyn Jar war lange Zeit ein umstrittener Erinnerungsort und ist es immer noch. Es gibt ukrainische Nationalisten, die Babyn Jar lieber als einen Ort in Erinnerung behalten möchten, der sowohl das ukrainische Leiden unter den Nazis und den Sowjets im Allgemeinen als auch den „Befreiungskampf“ der Organisation Ukrainischer Nationalisten im Besonderen symbolisiert, die für ihre Kollaboration mit dem Nationalsozialismus berüchtigt ist. Zu diesen Nationalisten gehören auch diejenigen, die sich über den angeblichen „jüdischen Einfluss“ ärgern, der hinter der verstärkten Fokussierung auf den Holocaust an diesem Ort steht. In ihren Augen ist dies nichts anderes als ein (von Russland gesteuerter) Versuch, die Aufmerksamkeit vom „Judeo-Bolschewismus“ abzulenken. Selenskyi hingegen stellte gleich nach dem Angriff auf Babyn Jar die Erinnerung an das, was den Juden und Jüdinnen damals widerfahren ist, als empathischen Bezugspunkt für die Ukrainer im nationalen Kampf gegen Russland dar.
Und es ist auch offensichtlich, dass Selenskyi, indem er den gegenwärtigen Angriffskrieg in der Ukraine im Sinne eines „zweiten Holocaust“ versteht, den Kampf gegen Russland als einen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus deutet. Es ist behauptet worden, dass die Politik und die Haltung der russischen Regierung unter Putins Regime relativ frei von Antisemitismus seien. Putins Verhältnis zu Israels Premierminister Naftali Bennett ist angeblich gut, und Bennett flog kürzlich nach Moskau, um Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Putins Treffen mit Bennett könnte jedoch als Versuch interpretiert werden, den Eindruck des Antisemitismus zu entkräften, den seine Vorwürfe des Genozids gegenüber einem Land mit einem jüdischen Präsidenten erwecken. Während sich Putins Anschuldigung wahrscheinlich auch auf das Verhalten der Ukraine in den umkämpften Regionen Donezk und Luhansk und insbesondere auf die Aktivitäten des extremistischen ukrainischen Asow-Bataillons bezog, betrachten er und andere führende russische Politiker Selenskyi seit langem als Instrument oder Agent einer korrupten westlichen Welt, die den Zerfall Osteuropas herbeiführen will.
Antisemitische Verschwörungstheorien

Sowjetunion gebaute Denkmal in der Gedenkstätte Babyn Jar; Quelle: rosalux.de
Im Oktober 2020 bezeichnete Dmitri Medwedew, derzeit stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, die Ukraine als „Vasallenstaat der USA“ und warf den Ukrainern vor, „ihre Identität zu verlieren“. Er stellte Selenskyi als „ekelhaft, korrupt und treulos“ dar, da er seine Identität verleugnet habe, um ukrainischen Nationalisten zu dienen. Damit ähnele er einem Mitglied eines jüdischen Sonderkommandos – Juden, die von den Nazis gezwungen worden waren, die Ermordung der Deportierten in den Gaskammern vorzubereiten und ihre Leichen zu entfernen und zu verbrennen. In seiner jüngsten Fernsehansprache an das russische Volk beschuldigte Putin die Regierung in Kiew nicht nur des Völkermordes. Im Zusammenhang mit einer Anspielung auf Russlands Kriege in der Nordkaukasusregion (z. B. in Tschetschenien) verurteilte er auch den Westen, der Russland angeblich Werte aufzwingen wolle, die „uns von innen heraus erodieren“. Eine solche Haltung führe zu „Verfall und Degeneration, weil sie der menschlichen Natur zuwiderläuft“. Putin rechtfertigte den Krieg gegen die Ukraine also nicht nur mit der Furcht vor einem NATO-geführten Angriff des Westens, der mit Hitlers Angriff auf die Sowjetunion vergleichbar sei. Vielmehr beschwor er ein Bild des damit einhergehenden kulturellen und moralischen Niedergangs herauf, der stark an das Bild erinnert, das sowohl Hitler als auch Stalin mit dem angeblichen Einfluss der Juden in Verbindung brachten. Für Hitler war der Bolschewismus jüdisch. In der Sowjetunion wurden alle vermeintlich westlichen Denkweisen als Ergebnis des jüdischen ‚Kosmopolitismus‘ abgetan. Auch Putin ist Anhänger solcher antisemitischer Verschwörungstheorien.
In den Jahren 2015 und 2016 wurde das Democratic National Committee in den USA Opfer von Cyberangriffen, die auf Russland zurückgeführt wurden. Als Putin im Juli 2018 in Helsinki mit Trump zusammentraf, deutete er faktisch an, dass der jüdische ungarisch-amerikanische Holocaust-Überlebende, Milliardär und Philanthrop George Soros hinter den Angriffen stecken könnte. Soros ist ein häufiges Ziel von rechtsextremem Hass und weißem Nationalismus. Jason Stanley hat darauf hingewiesen, dass Putin sich als „globaler Führer des christlichen Nationalismus“ sieht, der laut Stanley schwer vom Faschismus zu unterscheiden sei. In einem solchen Szenario erscheinen die Juden als eine Bedrohung. Generell wird Soros in Osteuropa immer wieder vorgeworfen, er versuche, nationale Interessen zu untergraben. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat eine Kampagne gegen Soros geführt, da er, so die Unterstellung, versuche, muslimische Flüchtlinge nach Ungarn zu holen und „christliche Werte“ zu untergraben. Gleichzeitig wird Soros wiederholt beschuldigt, ein Kollaborateur der Nazis zu sein. Solche Anschuldigungen dienen dazu, Juden und Jüdinnen zu verunglimpfen, denn sie suggerieren, dass die Opfer zu Tätern wurden – oder dass sie gar nie Opfer waren. Auch in Putins Augen sind Juden nicht nur verschwörerisch, sondern haben sich mit dem faschistischen Westen verbündet.
Kultureller Völkermord

Gedenkstätte Babyn Jar nach dem Angriff, März 2022; Quelle: mucenicul.worldpress.com
Mittlerweile wissen wir, dass die Gedenkstätte in Babyn Jar nur sehr geringfügig beschädigt wurde. Dies sollte jedoch nicht von der Tatsache ablenken, dass die Nähe der Gedenkstätte die russischen Streitkräfte nicht an einem Raketenangriff hinderte, der vermutlich dem nahestehenden Fernsehturm galt. Die größere Bedeutung des vermuteten Raketenangriffs geht allerdings über die Frage hinaus, was das eigentliche Ziel dieses Angriffs war. Im Anschluss an die Berichte verschärfte sich der Krieg der Worte zwischen der Ukraine und Russland zu einem Streit um die Kernfrage des Antisemitismus und eines möglichen Völkermords, wobei Selenskyi – vielleicht in einer ironischen Wendung – versuchte, genau die „kosmopolitische“ Moral anzuwenden, die mit der westlichen Erinnerung an den Holocaust in Verbindung gebracht wird. Er beschwor die Erinnerung an den Holocaust herauf, um ein größeres Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des russischen Angriffs auf die Ukraine zu schaffen. Dies ist jedoch mehr als nur ein Krieg der Worte, denn die Befürchtungen, dass Putin versuchen könnte, die Ukraine von der Landkarte zu tilgen, sind nicht unbegründet. Putin hat die Existenz einer ukrainischen Identität nie anerkannt. Da er sie mit Faschismus, Verwestlichung, Korruption und Liberalismus in Verbindung bringt, ist zu befürchten, dass jeder Versuch, eine russifizierte Ukraine zu schaffen, mit Repressionen großen Ausmaßes verbunden sein wird. Zumindest ein kultureller Völkermord ist eine reale Möglichkeit.
Übersetzung: Svenja Goltermann und Philipp Sarasin. Eine kürzere Fassung des Artikels erschien am 3. März 2022 in The Conversation.