Die zwanziger Jahre, das ist heute. Aber der Begriff meint umgangssprachlich immer noch die Epoche vor hundert Jahren, die sich als die ‚Roaring Twenties‘ weit über die Metropolen der Vereinigten Staaten hinaus manifestierte. In Berlin, Paris und London, in Shanghai und Rio de Janeiro: überall scheinen Jazz und Bubikopf, Charleston und Bananenröckchen, Kabarett und Kintopp fast zeitgleich Einzug gehalten zu haben. So lassen es zumindest die beliebten Retroserien vermuten, die die Versatzstücke der 20er vor regional unterschiedlichen Kulissen immer wieder neu arrangieren: Boardwalk Empire (2010-2014) nimmt sich Atlantic City vor, Peaky Blinders (2013-) Birmingham, Las chicas del cable (2017-) Madrid und Babylon Berlin (2017-) natürlich: Berlin. Dazu kommen zahlreiche Filme, populäre Romane und Romanserien, Comics und Graphic Novels – um das Jazz Age ist eine wahre Industrie entstanden. Und kaum eine Bezugnahme auf die Epoche kommt ohne den Verweis aus, dass man damals sehen konnte, was heute droht – den Verlust von demokratischer Selbstbestimmung, die Hybris des Bürgertums, den Tanz auf dem Vulkan und die Verantwortungslosigkeit der Eliten.
Babylon Berlin: „Genauso war es damals wirklich“
Die Retroserie im Allgemeinen stellt regelmäßig überrascht fest, dass es ‚damals‘ gar nicht so anders war als heute. Das gilt für Inszenierungen der 1920er in besonderem Maße. Tom Tykwer, wohl der bekannteste der drei Regisseure von Babylon Berlin, erklärt denn auch seine Begeisterung für die 1920er mit den Parallelen zur Gegenwart und betont den didaktischen Wert der ‚Zeitreise‘: „Der Name Hitler wird in den ganzen 16 Episoden nur ein einziges Mal erwähnt – als jemand einen Scherz macht. Weil keiner wirklich denkt, dass er irgendeinen Einfluss haben wird. Und genau so war es damals wirklich.“ Nun ist Authentizität immer ein Konstrukt und die Popularität von Retroserien hat sicherlich mehr mit atemberaubenden Effekten als mit historischen Lektionen zu tun. Aber gerade deshalb ist es interessant, ein wenig genauer zu schauen, was Babylon Berlin eigentlich meint und worauf es sich bezieht, wenn es ‚Vergangenheit‘ erzählt.

Still aus „Babylon Berlin“, „Zu Asche, zu Staub“ singt Psycho Nikoros (Severija Janušauskaite) im Tanzcafé Moka Efti, Quelle: spiegel.de
Die Weimarer Republik ist in unserem Verständnis unweigerlich ein ‚Davor‘ – vor dem Dritten Reich, der Katastrophe. Im Titelsong der ersten beiden Staffeln von Babylon Berlin wird dieses Davor als Noch-Nicht beschworen: „Zu Asche zu Staub“, singt Severija Janušauskaitė und kündigt den nahen Untergang an; „doch noch nicht jetzt“, wie der Refrain versichert. Die dritte Staffel der Serie, die vor ein paar Wochen anlief, erscheint fast drei Jahre nach Staffel 2, setzt in der Erzählhandlung aber nur paar Wochen später ein: wir sind immer noch im Jahr 1929. Damit löst sich die Erzählung noch mehr von ihrer Vorlage: der zweite Band von Volker Kutschers Romanserie, auf der Babylon Berlin basiert, spielt 1930. „Wir sind angetreten mit dem Gedanken, die Geschichte bis 1938 zu erzählen“, erläutert der Regisseur Henk Handloegten im Interview:
Ich glaube nicht, dass sich das mit dem Ziel 1938 erfüllt. Zurzeit sieht es eher danach aus, als würden wir das Unabwendbare, worauf das alles zusteuert, hinauszögern.
„Wir haben alle Füße auf der Bremse“, ergänzt Co-Regisseur Achim von Borries. Und tatsächlich: auch in Staffel 3 von Babylon Berlin überschlagen sich die Ereignisse und Effekte, aber nichts geht voran (nur die kleine Schwester der Hauptdarstellerin überragt diese nun auf einmal fast um Kopfeslänge). Die Tatsache, dass die Serie sich in Ausstattung und Kulturverweisen aus einem hybriden Arsenal von Vergangenheitsmarkern bedient, die in den späten 20ern selbst schon passé waren (expressionistischer Stummfilm, Dada und die Varieté- und Tingeltangel-Ästhetik der 1910er Jahre), unterstreicht diesen Eindruck einer zeitlosen Historizität nur noch mehr. Eben diese Vagheit des ‚Noch Nicht‘ bestimmt dann auch das Politikverständnis der Serie, die die deutsche Geschichte zur Fortsetzungserzählung auf Dauerschleife werden lässt.
Noch nicht: Vielleicht wird doch noch alles gut?
Babylon Berlin, so Achim von Borries, soll „beim Zuschauer – wider das historische Wissen – die Hoffnung machen, dass es vielleicht doch besser ausgehen könnte“. Zu diesem Zweck mühen sich der kriegstraumatisierte Kommissar Gereon Rath mit dem Bubikopf-Girl Charlotte Ritter an seiner Seite und allen möglichen anderen redlichen Helfern gegen eine Gruppe übermächtiger Konspirateure aus dem rechtskonservativen und faschistischen Milieu. „Was immer Sie machen, machen Sie’s öffentlich“, rät der jüdische Journalist Samuel Katelbach in der zweiten Staffel dem aufrechten Ermittler: „Nur die Öffentlichkeit kann Sie schützen“ – und tatsächlich ist der Nationalsozialismus für diese Serie etwas, was hinter den Kulissen passiert und mit ‚dem Volk‘ nur zu tun hat, wenn plötzlich große Mengen gesichtsloser Schläger oder Handlanger zur Aktion schreiten.
Katelbach ist lose nach Carl von Ossietzky modelliert, dem Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne, in der 1929 die Machenschaften der ‚Schwarzen Reichswehr‘ aufgedeckt wurden. Das ist interessant, weil die historische Weltbühne, ebenso wie das Feuilleton der Weimarer Republik im breiteren Sinne, von einer fast manischen Zukunftsgewandtheit geprägt war, von der Babylon Berlin nichts mehr weiß. Die Zukunft scheint den Weimarer Intellektuellen aufgrund sich überschlagender technischer Innovationen und sozialer Umwälzungen gestaltungsoffen und im höchsten Maße kontingent. Alles ist möglich und eben diese Offenheit wird zum wichtigen Bezugspunkt der kritischen Reflexion und der politischen Literatur der Zeit. Robert Musil stellt1930 in Der Mann ohne Eigenschaften dem Wirklichkeitssinn einen modernististischen „Möglichkeitssinn“ gegenüber, und der Historiker Rüdiger Graf konstatiert eine ‚Futurisierung‘ des politischen Denkens der Weimarer Republik.

Jason Lutes’ Graphic Novel-Trilogie Berlin (2004-2018)
Das Dritte Reich erstickt dieses utopistische Vorwärts des Weimarer Diskurses, und das Wissen um die Ereignisse der 1930er wird nicht nur für Babylon Berlin zum Problem, sondern für alle historischen Erzählungen zur Weimarer Republik. Geschichtsschreibung ist nun einmal immer auch mit dem Schließen von Möglichkeitshorizonten verbunden. Doch gerade fiktionale Rückblicke können versuchen, die Unbestimmtheit einer historischen Erfahrungswelt aufzuspüren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der erste Band von Jason Lutes’ Graphic Novel-Trilogie Berlin (2004-2018) endet in einem historischen Moment, der auch in Babylon Berlin eine zentrale Rolle spielt: dem 1. Mai 1929, der als Blutmai in die Geschichte einging, weil die Berliner Polizei eine nicht genehmigte KPD-Demonstration brutal niederschlug. Lutes’ Comic begibt sich auf die Ebene der Akteure. Es gibt in der gesamten Episode, die sich auf zehn Seiten erstreckt, kaum eine überblicksstiftende Gesamtschau. Die wenigen Totalen werden nicht als ganzseitige Splash Pages, sondern als kleine integrierte Panels präsentiert, das Geschehen wirkt verwirrend, vielfältig, chaotisch. Berlin Babylon dagegen präsentiert dasselbe historische Ereignis in der 4. Folge der ersten Staffel ausgehend von einem Establishing Shot, der die Polizei und die protestierenden Arbeiter klar gegeneinander positioniert. In der Graphic Novel ist der Blutmai momentbestimmt und messy, auch aufgrund des dokumentarisch-essayistischen Grundgestus des grafischen Erzählens. Babylon Berlin aber wählt das Genre der Kriminalgeschichte mit scharf abgegrenzten Tätern und Opfern und lässt dadurch Politik zur Fallgeschichte werden.
Die Logik der Serie: Politik als Nummernprogramm
Der Detektiv ist der Serienheld der Industriemoderne und die Kriminalgeschichte ihr Leitnarrativ, diagnostizierte Siegfried Kracauer in seiner Studie Der Detektiv-Roman von 1925. Der Detektiv zielt nicht darauf, die Welt zu retten, sondern er entwickelt Routinen, um Störungen zu beseitigen: „die ‚Fälle‘ stoßen ihm zu oder werden ihm zugewiesen und über ihre unendliche Reihe hinaus begehrt er nichts anderes“. Damit ist die Figurenlogik von Gereon Rath in Volker Kutschers populärer Krimi-Reihe ebenso umrissen wie die seines Alter Egos in der von Kutscher inspirierten TV-Serie. Die Ermittlungsarbeiten schreiten unermüdlich voran, ungeachtet der überwältigenden Widerstände in Politik und Militär. Sie können letztlich nicht erfolgreich sein, die Falschen werden siegen, aber was zählt, ist die Anstrengung und die moralische Überlegenheit der Underdogs. Im Einklang mit der populären Wahrnehmung der Zwischenkriegszeit als Auszeit zwischen den Extremen präsentiert die Serie eine in sich geschlossene Welt, in der Gut und Böse (noch) ausbalanciert sind.
Der Nationalsozialismus in Babylon Berlin ist nicht Teil der gesellschaftlichen (Alltags-)Wirklichkeit der Weimarer Republik, sondern erscheint als verschwörerische Gegenbewegung, die ein paar Handlanger aus dem Volk für ihre Zwecke nutzt. Die Szenen der Nationalkonservativen, die NSDAP, die SA bilden hier eine schattenhafte und in sich geschlossene Parallelgesellschaft, in der jeder jeden kennt und alle unter einer Decke stecken. In der zweiten Staffel verliebt sich das naive Dienstmädchen Greta Overbeck in den Nazi Richard Pechtmann, der Greta dazu anstiftet, ein Attentat auf ihren Arbeitgeber, den Leiter der Preußischen Geheimpolizei, zu ermöglichen. In einer komplizierten Erzählschleife gibt Pechtmann sich als Kommunist aus, damit Greta sich in ihn verliebt. Das falsche Spiel der Nazis geht so weit, Pechtmanns Ermordung durch die Geheimpolizei vor Gretas Augen zu inszenieren und sie so dazu zu bringen, sich gegen ihren Arbeitgeber zu wenden. Bis zum Ende glaubt sie, im kommunistischen Auftrag zu handeln – dass eine Sympathieträgerin sich einfach in einen Nazi verliebt, ist ganz offensichtlich im Skript nicht vorgesehen. Die Fronten sind klar getrennt – hier die Guten, dort die Bösen – und in der Imagination der Serie stehen sich die Welten ähnlich frontal gegenüber wie im szenischen Tableau der Blutmai-Episode.
„Die Nazis sind ja nicht 1933 von den Bäumen gefallen und die Menschen wurden nicht mit einem Schlag anders, sondern sie blieben sie selbst, zumindest in ihren eigenen Augen“, erklärte Achim von Borries im Interview. In Babylon Berlin fallen die Nazis nun tatsächlich nicht von den Bäumen, sie kommen eher aus dem Untergrund über die Welt und übernehmen die Kontrolle, weil sie gewissenloser und durchtriebener sind als der große Rest. Sie spielen mit gezinkten Karten und betreiben im Großen, was Fritz im Kleinen tut: gewiefte Täuschungsmanöver. Der Faschismus ist so gesehen keine Massenbewegung, sondern eine Massenmanipulation, was auch der Umstand unterstreicht, dass ein zwielichtiger Hypnosearzt eine zentrale Rolle in allen drei Staffeln spielt.
Freeze Frame: Politik und Spektakel
Die erzählte Zeit von Babylon Berlin zerfällt in der dritten Staffel in immer eklektischere Momentaufnahmen. Die Serie verlagert nun scheinbar den Fokus von der politischen Verschwörung auf einen Serienmörder, der in den Babelsberger Studios sein Unwesen treibt, das sich parallel zu den politischen und ökonomischen Entwicklungen entfaltet. Diese beiden Handlungsstränge werden immer wieder gegeneinander ausgespielt – etwa wenn der Chefredakteur der Boulevardzeitung Tempo entscheidet, die Morde in den Filmstudios anstelle einer politischen Reportage zum Komplott von Lufthansa und Luftwaffe auf die Titelseite zu bringen: „Die Leser der Tempo interessiert das, was alle interessiert. Sex und Geld und Schlagworte, die sie sich leicht merken können“. Aber der Gegensatz von Politik und Sensation, der hier suggeriert wird, hat sich im Grunde lange schon erledigt, denn bei Babylon Berlin ist beides eins. Die politischen Intrigen ebenso wie die Society-Morde folgen einer seriellen Überbietungslogik, in der die Repetitivität der aufeinanderfolgenden Fälle durch immer spektakulärere Szenarien von Gewalt und Exzentrik kaschiert wird. Die Aufklärungsarbeit der Ermittler wirkt hier nicht als Gegenmaßnahme, sondern als retardierendes Element. Jede Einstellung dieser Serie, so schreibt die SZ begeistert, ist „komponiert wie ein Tableau“, jede Szene angelegt wie „ein Gemälde“. Verbrechen und Aufklärung werden in diesem Seriengemälde zu perfekt choreografierten Abläufen wie die opulenten Tanzszenen in den Berliner Nachtclubs. Gemeinsam fügen sie sich in glamourös-hedonistischer und völlig selbstbezogener Performanz zur Gestalt der Twenties. Geschichte wird hier zum Standbild, das sich emblematisch auf die Gegenwart bezieht, aber keine Erkenntnisse birgt. Es ist, wie es war.