Chatbots wie ChatGPT werden Schreibprozesse, wie wir sie kennen, verändern. Ein Blick zurück in die Geschichte des Schreibens verdeutlicht, wo die Chancen und Fallstricke liegen.

Seit der Lancie­rung von ChatGPT Ende November 2022 durch OpenAI wird die Frage nach den gesell­schaft­li­chen und kultu­rellen Auswir­kungen von Chat­bots, die auf ‚Large Language Models‘ beruhen und mit dem Begriff der ‚Künst­li­chen Intel­li­genz‘ belegt werden, breit und kontro­vers disku­tiert. Verortet man die aktu­ellen Diskus­sionen im Kontext einer Geschichte des Schrei­bens, kann zunächst Folgendes fest­ge­halten werden: 1) Auto­ma­tismen spielten fürs Schreiben seit jeher – und sei es nur zur Übung, etwa beim Erlernen einer Schrift – eine wich­tige Rolle. 2) Was einen Auto­ma­tismus auszeichnet, hängt hoch­gradig davon ab, was genau schrei­bend ‚von selbst‘ geschieht, wie dies passiert, welches Element oder welchen Verbund man in diesem Prozess als ‚Selbst‘ bestimmen kann – und welche Rolle mensch­liche Subjekte im Prozess einer jewei­ligen Auto­ma­ti­sie­rung spielen (oder nicht).

Diese Fragen sind zentral für jede Analyse von Auto­ma­tismen in Schreib­pro­zessen, also auch im Umgang und in der Ausein­an­der­set­zung mit ChatGPT in seinen unter­schied­li­chen Versionen sowie mit verwandten Chat­bots. Geht man wie in der Schreib­pro­zess­for­schung der vergan­genen zwei Jahr­zehnte davon aus, dass Schreiben stets in einem Wech­sel­ver­hältnis von a) technisch-medialen, b) körperlich-gestischen und c) sprachlich-semantischen Anteilen statt­findet, stellt sich zudem die Frage, ob oder wie sehr man ein bloß maschi­nelles Prozes­sieren (im medi­en­tech­ni­schen Sinn) von Text über­haupt noch als Schreib­pro­zess bestimmen möchte. Die Frage nach dem Wie der körper­li­chen Invol­vie­rung – und damit zusam­men­hän­gend: der an Sinn und Sinn­lich­keit gekop­pelten Erfah­rungs­di­men­sion – dürfte sich noch als zentral herausstellen.

„UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN“: Das war eine These, die schon Fried­rich Nietz­sche formu­lierte. Er hämmerte sie in seine Schreib­kugel, die nur Groß­buch­staben kannte. (Quelle Bild­zitat: kulturtechno.de)

In seiner vor wenigen Monaten erschie­nenen umfang­rei­chen Studie Die Auto­ma­ti­sie­rung des Schrei­bens & Gegen­pro­gramme der Lite­ratur hat Philipp Schön­thaler die wich­tigsten Stationen einer Geschichte des auto­ma­ti­sierten Schrei­bens benannt – sofern man unter ‚Auto­ma­ti­sie­rung‘ primär eine tech­ni­sche Auto­ma­ti­sie­rung versteht, die auf mensch­liche Subjekte und Körper (zumin­dest weit­ge­hend oder dem Ideal nach) verzichten kann: Bereits Raimund Llull (1232-1316) entwi­ckelte eine Kombi­na­torik, die auf Algo­rithmen beruht und ein auto­ma­ti­sches Schreiben dem Prinzip nach denkbar machte; die histo­ri­schen Avant­garden, Alan Turing (1912-1954), Max Bense (1910-1990) und die jüngsten Entwick­lungen mit ‚Künst­li­cher Intel­li­genz‘ setzen an diesem Punkt an und entwi­ckeln ihre Auto­ma­tismen in jeweils unter­schied­liche Rich­tungen und mit zuneh­mender Inte­gra­tion potenter Hard- und Soft­ware im Verbund mit gigan­ti­schen Daten­banken fort.

écri­ture automatique

Bleiben wir zuerst bei den histo­ri­schen Avant­garden, beim Surrea­lismus, der sich in den frühen 1920er Jahren in Paris formierte: Als André Breton zusammen mit Phil­ippe Soupault im Früh­ling 1919 die ersten Expe­ri­mente in écri­ture auto­ma­tique unter­nahm, bestand der Auto­ma­tismus in einem Schreiben, das sich ‚von selbst‘ aus einer Verschal­tung von verstan­des­mäßig nicht kontrol­lierten Wort­as­so­zia­tionen mit der Bewe­gung der Hand ergeben sollte.

Was die Surrea­listen dabei konkret zutage förderten, war aller­dings nicht einfach ein Inner­li­ches und Unbe­wusstes (der Bezug auf Sigmund Freud erfolgte prompt), sondern im Grunde Wort­ab­fall, der sich im Unbe­wussten allen­falls ansam­melte und sich von dort aus, mehr oder weniger unge­ordnet, aufs Papier über­tragen ließ. Syste­ma­tisch bedeutet dies: Je nachdem, wie stark in diesen Prozess eine ordnende Subjek­ti­vität (oder etwas anderes?) eingreift, den unbe­wussten Auto­ma­tismus also eigent­lich stört, ändert sich der Prozess ebenso wie das Produkt des Schrei­bens: das Geschrie­bene, der Text.

Pierre Janet, „L’automatisme psycho­lo­gique“ (Quelle Bild­zitat: jnorman.com)

Den Begriff der écri­ture auto­ma­tique über­nahm Breton aus der Psych­ia­trie des späten 19. Jahr­hun­derts (Pierre Janet). Aller­dings ging es Breton nicht darum, angeb­liche Patho­lo­gien abge­spal­tener Persön­lich­keits­merk­male aufzu­zeichnen. Sondern der Vorsatz bestand darin, unter möglichst weit­ge­hender Ausschal­tung des Verstandes zu einem Rohzu­stand der Poesie zu gelangen.

Der Auto­ma­tismus war ein psychi­scher Auto­ma­tismus und somit im schrei­benden Subjekt verortet. Dabei wurden die – möglichst rasch und ohne Zensur durch den Verstand – hinge­schrie­benen Wörter auch in der écri­ture auto­ma­tique keines­wegs von den Schrei­bern erfunden, sondern sie wurden bloß anein­an­der­ge­reiht und – mit deut­lich gelo­ckertem Bezug zur Semantik – auf dem Papier arrangiert.

Auto­ma­tismen dies- und jenseits des Subjekts

Die Kritik an einem tradi­tio­nellen Subjekt des Schrei­bens, das im Bereich der Lite­ratur im Genie­ge­danken des ausge­henden 18. Jahr­hun­derts zu seinem Höhe­punkt gelangte, findet in der surrea­lis­ti­schen écri­ture auto­ma­tique ihrer­seits zu einem Höhe­punkt: Wer schreibt, muss nicht nur nicht Herr seiner Gedanken und Inten­tionen sein, es geht viel­mehr gerade darum, das Bewusst­sein in diesem Prozess möglichst auszu­schalten. Dass dies jedoch selbst in der écri­ture auto­ma­tique nicht ganz gelang, machen unter anderem die Korrek­turen deut­lich, die Breton am Manu­skript seines zusammen mit Soupault unter­nom­menen Expe­ri­ments der champs magné­ti­ques vornahm. Ein ordnendes Begehren und somit eine nicht komplett ausge­schal­tete Subjek­ti­vität lassen sich also auch in den surrea­lis­ti­schen Expe­ri­menten noch beob­achten. Wer schreibt, so lässt sich insge­samt aus diesen Expe­ri­menten folgern, invol­viert ‚sich‘ nolens volens in den Prozess.

André Breton und Phil­ippe Soupault: Manu­skript­seite aus „Les Champs magné­ti­ques“ (1919), erstes Expe­ri­ment in „écri­ture auto­ma­tique“. Haupt­text von Breton: auffällig, wie ordent­lich Breton schreibt und wie er nicht davor zurück­schreckt, Korrek­turen vorzu­nehmen. (Quelle Bild­zitat: expositions.bnf.fr)

Doch was passiert, wenn dieser Prozess durch Auto­ma­tismen bestimmt wird, die – um Text prozes­sieren zu können – tatsäch­lich nicht oder nur am Rande auf Subjekte ange­wiesen sind? Dass Schreiben noch nie einfach aus dem Inneren eines Subjektes heraus geschah, sondern Übung, Technik und Tradi­tion (oder zumin­dest Tradier­bar­keit) voraus­setzte, ist nicht neu. Aber was ein bloßes Prozes­sieren von Text von einem Schreibakt unter­scheidet, ist die Verzicht­bar­keit invol­vierter Subjekte.

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Führt man diesen Gedanken weiter bis an den Punkt, an dem nicht nur ausschließ­lich Maschinen Texte prozes­sieren, sondern die prozes­sierten Texte wiederum (falls über­haupt) ausschließ­lich von Maschinen ‚gelesen‘ – d.h. rezi­piert und verar­beitet – werden, gerät man …

… nun ja, wohin denn? In einen unheim­li­chen Bereich, in dem mensch­liche Subjekte mitsamt ihren Körpern über­flüssig werden. Oder doch nicht ganz? Ein Blick zurück in die Geschichte der Schreib­au­to­ma­tismen macht deut­lich, dass die Faszi­na­tion für diesen Bereich zwar immer wieder groß war. Auch die nicht von unge­fähr am Begriff der écri­ture orien­tierte ‚post­struk­tu­ra­lis­ti­sche‘ Subjekt­kritik setzte hier an, so etwa Roland Barthes in seinem berühmten Aufsatz zum „Tod des Autors“ (1968): „Das Schreiben/die Schrift (écri­ture), das ist […] das Schwarz­weiß, in dem sich jede Iden­tität zu verlieren beginnt, ange­fangen bei derje­nigen des schrei­benden Körpers selbst.“

mediales Schreiben

Aber selbst und gerade bei Barthes lässt sich zeigen, wie sehr die aus guten Gründen betrie­bene Subjekt­kritik auf eine – neuar­tige – Subjekt­kon­zep­tion zurück­schlägt (und nicht nur auf die Konzep­tion). In seinem Aufsatz „Schreiben, ein intran­si­tives Verb?“ (1966/1970) entwirft Barthes das Konzept eines ‚medialen‘ Schrei­bens, in dem das „Subjekt“ sich „zeit­gleich zum Schreiben konsti­tu­iert“, durch den Prozess jedoch ebenso gleich­zeitig „in Mitlei­den­schaft“ gezogen wird. In vergleich­barer Weise spricht Philipp Schön­thaler in seinem Buch zur Auto­ma­ti­sie­rung des Schrei­bens davon, dass die „Agency“ eines Autors oder einer Autorin im Kontakt mit unter­schied­li­chen Formen und Tech­niken der Auto­ma­ti­sie­rung nicht „einseitig im Subjekt als Zugrun­de­lie­gendes (gr. hypo­keí­menon) oder Unter­wor­fenes (lat. subiectum) zu iden­ti­fi­zieren“ sei.

Man könnte auch sagen: Entschei­dend ist, wie die Inter­ak­tion mensch­li­cher Subjekte (auch deren Formie­rung und Desta­bi­li­sie­rung) mit Auto­ma­tismen des Schrei­bens statt­findet, sofern diese Auto­ma­tismen als tech­nisch bewerk­stel­ligte in einem Schreib­pro­zess mit im Spiel sind. Welche Art von Agency wird durch einen Auto­ma­tismus nahe­ge­legt, provo­ziert, verhindert?

Das Problem der Delegation

Geht man davon aus, dass Schreiben eine Form des Denkens und des Handelns, ja sogar des Fühlens ist (die Beto­nung liegt auf Form), dann tut man gut daran, die Dele­ga­tion an die Maschine nicht unhin­ter­fragt als wünschens­wert zu begreifen. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch Texte gibt und geben sollte, die auto­ma­tisch und maschi­nell prozes­siert werden (Bank­aus­züge zum Beispiel). Aber überall dort, wo Schreiben als eine zugleich geis­tige und körper­liche Tätig­keit statt­findet, für die ein mensch­li­ches Subjekt in bestimmten sozialen, tech­ni­schen, medialen, poli­ti­schen und histo­risch geprägten Umfel­dern und Situa­tionen Verant­wor­tung über­nimmt (beglau­bigt etwa durch Signatur), stellt sich die Frage nach den Inter­ak­ti­ons­mög­lich­keiten, die durch einen Auto­ma­tismus offe­riert oder verhin­dert wird.

Zu Recht spricht Hannes Bajohr mit Blick auf Chat­bots wie ChatGPT und die dahin­ter­ste­henden Firmen von einer „drohende[n] Bünde­lung von Sprach­tech­no­logie“. Denn solange nicht offen­ge­legt wird, wie die Algo­rithmen program­miert sind und an welchen Daten­banken sie hängen (also auf welchen ‚Quellen‘ sie beruhen), ist man mit einem Output konfron­tiert, dessen Qualität man höchs­tens indi­rekt erschließen kann.

Um diese Qualität ermessen und auch kriti­sieren zu können, braucht es nicht nur ein Knowhow im Umgang mit Chat­bots, sondern auch ein Wissen um deren Funk­ti­ons­weise, die im Wesent­li­chen auf statis­tisch errech­neten Wahr­schein­lich­keiten beruht. Leif Weatherby, Grün­dungs­di­rektor des Digital Theory Lab an der New York Univer­sity, ging in einem viel­be­ach­teten Paper sogar so weit zu sagen: „ChatGPT Is an Ideo­logy Machine“.

Ob das so sein muss? Hoffent­lich nicht. Das Wech­sel­spiel von Über­lie­fe­rung, Medi­en­technik, Verkör­pe­rung, Subjek­ti­vität und Konzept­bil­dung hat in der Geschichte des Schrei­bens auch und gerade im Kontakt mit entspre­chenden Auto­ma­tismen zu ganz unter­schied­li­chen Präfe­renz­bil­dungen geführt. Ich neige dazu, diese Viel­falt als ein nicht nur erin­ne­rungs­wür­diges, sondern weiter zu entwi­ckelndes und zu erar­bei­tendes Gut zu begreifen. Eine entschei­dende Rolle werden in der künf­tigen Arbeit an und mit Chat­bots die Vorgänge des Program­mie­rens, des Promp­tens und des Proble­ma­ti­sie­rens spielen.

Program­mieren, Prompten, Problematisieren

Zwischen dem Program­mieren, dem Prompten (dem Input einer Auffor­de­rung) und dem Proble­ma­ti­sieren (des Outputs und alles dessen, was zu ihm hinführte) eröffnet sich ein Feld der Inter­ak­tion, das offensiv genutzt werden sollte. Aller­dings muss man dazu auch lesen können: lesen können nicht nur, was eine Maschine ausgibt, sondern auch, was sie antreibt (ökono­misch, poli­tisch, ideo­lo­gisch), was sie verschweigt und was sie an Wissen bestä­tigt oder verfälscht, ins Unüber­prüf­bare verschiebt. Das Lesen – auch und gerade in der Verwen­dung von maschi­nell prozes­siertem Text – erweist sich als ein Akt der Verant­wor­tung. Das Schreiben – sofern es noch die Signatur von Menschen tragen soll – sowieso. Verant­wor­tung ist, was Maschinen nicht über­nehmen können.

Was nie geschrieben wurde, lesen“, so lesen wir bei Hugo von Hofmanns­thal. An maschi­nell prozes­sierte und inso­fern nicht geschrie­bene, sondern bloß kalku­lierte Texte wird er dabei wohl nicht gedacht haben. Aber gerade bei diesen stellt sich die Frage nach dem Lesen, nach dem Wie des Lesens. Denn Chat­bots sind ihrer­seits nicht nur Produktions-, sondern auch Rezep­ti­ons­ma­schinen. Sie sind mit Daten gefüt­tert, die ausge­lesen und – regu­liert – in einen Output trans­for­miert werden. Dieses ‚Lesen‘ zu lesen, gehört mit zu einem Schreiben, das den invol­vierten Auto­ma­tismen gegen­über nicht blind ist.

„Wenn […] die Maschine allein weiter­schriebe, es wäre ideal.“ Julio Cortázar in seiner Kurz­ge­schichte „Las babas del diablo“ (1958), die Michel­an­gelo Anto­nioni zu seinem Film „Blow-Up“ (1966) inspi­rierte. (Quelle Bild­zitat: artblart.com)