Fettabsaugen und Brustvergrößerung lassen sich als Ausdruck von Selbstbestimmung betrachten, aber ebenso als Unterwerfung unter Geschlechternormen. Körper-Selbst-Gestaltung, sagt die Soziologin und Geschlechterforscherin Paula-Irene Villa Braslavsky, ist nie losgelöst von Zwängen und doch zeigt sich in ihr eine bedingte Freiheit.

  • Paula-Irene Villa Braslavsky

    Paula-Irene Villa Braslavsky ist Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies am Institut für Soziologie der Universität München (LMU). Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Gender Studies, soziologische Theorien, Körpersoziologie, Kultursoziologie/Cultural Studies sowie Sozialisations- und Subjektkonzepte. Sie publizierte u.a. zusammen mit Sabine Hark “The Future of Difference. Beyond the Toxic Entanglement of Racism, Sexism and Feminism” (Verso 2020).
  • Jule Govrin

    Jule Govrin ist Philosoph:in und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie, Feministischer Philosophie und Ästhetik, aktuell arbeitet sie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zur politischen Dimension von Körpern und zu Verwundbarkeit als Modus der Gleichheit. Zu ihren Publikationen zählen "Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosphische Studie" (de Gryuter 2020) und „Politische Körper. Von Sorge und Solidarität“ ( Matthes & Seitz 2022). Neben ihrer Forschung ist sie als Redakteur:in bei Geschichte der Gegenwart tätig.
  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

Jule Govrin: Schön­heits­ope­ra­tionen sind allge­gen­wärtig, ob in Geschichten des Schei­terns wie jüngst die Erzäh­lung von Linda Evan­ge­lista über ihr Leiden an schief­ge­lau­fenen OPs, in Schlag­zeilen zu den Straf­fungen von Stars und Stern­chen oder im Influencer-Universum auf Insta­gram. Was ins Auge sticht inmitten dieses Spek­ta­kels um gemachte Schön­heit, ist, dass beson­ders Frauen Schön­heits­normen bestärken, die ja stets Geschlech­ter­normen sind. Dabei wird die Entschei­dung zur Nasen-’Korrektur’, zum Face­lif­ting, zum Fett­ab­saugen, zur Brust­ver­grö­ße­rung in einer Semantik der Selbst­be­stim­mung gerahmt. Diese Selbst­be­stim­mungs­se­mantik scheint eine Schlüs­sel­rolle in dieser neuen Körper­ord­nung gemachter Schön­heit zu spielen. Manche sagen, die behaup­tete Selbst­be­stim­mung sei nur schöner Schein. Wie siehst Du das?

Paula-Irene Villa Bras­lavsky: Diese Frage zielt schon mitten hinein in die unaus­weich­liche, unauf­lös­liche, unum­geh­bare Ambi­va­lenz aller Körper-Selbst-Gestaltung. Die ganze Palette solcher Körper-Gestaltungs-Praktiken, vom Zähne­putzen bis zur Brust-OP, vom Aspirin bis zu Botox, vom Duschen bis zum Zahn­blea­ching, zeigt immer: es geht um Sein durch Schein, und um eine – meist halb-bewusste – Unter­wer­fung wie – meist halb-bewusst – prak­ti­zierte Frei­heit glei­cher­maßen. Die Formu­lie­rung “nur” schöner Schein sugge­riert einen Mangel, ein Zu-Wenig, eine Unei­gent­lich­keit. Die Eigent­lich­keit ist dann, so haben wir insbe­son­dere in bildungs­bür­ger­li­chen Milieus im ‘Westen’ gelernt, angeb­lich das Sein. Es sind die inneren Werte, die als eigent­li­ches, rich­tiges Sein zählen. Das entspricht der völlig unem­pi­ri­schen, also un-realistischen und zugleich hoch wirk­samen Ideo­logie einer Entweder/Oder-Dualität von Geist/Körper.

Tatsäch­lich aber denken und nehmen wir ja nicht nur die Welt und uns als Körper­leib durch die empi­ri­schen Sinne wahr, sondern auch einander. Wir sehen, riechen, fühlen, hören, schme­cken bisweilen sogar einander – und uns selbst. Wir nehmen die Welt und andere, auch uns selbst, immer körper­leib­lich wahr. In der Moderne wird der Schein zwar sehr abge­wertet – als künst­lich, frivol oder natür­lich im Gegen­satz zur kulti­vierten Vernunft –, aber zugleich sind beide durch Mora­li­sie­rung aufein­ander bezogen. Der Schein wird als Ausdruck des Seins gelesen, beson­ders in alltäg­li­chen Situa­tionen. Dazu haben ja viele Historiker:innen und Soziolog:innen geforscht, etwa Bour­dieu. Wir unter­stellen aufgrund des Scheins – wie sieht jemand aus? – perso­nale Quali­täten wie Ordnung oder Diszi­plin und schließen auf die soziale Posi­tion – ist jemand reich, arm, gebildet, einem Milieu, einer Reli­gion usw. zuge­hörig? Solche Vor-Urteile sind übri­gens absolut uner­läss­lich für den Alltag in indi­vi­dua­li­sierten Gesell­schaften, in denen der ‘Schein’ nicht durch auto­ri­täre Vorgaben deter­mi­niert ist (etwa Zünfte oder Reli­gion), sondern – im Prinzip – indi­vi­duell gestaltbar ist.

JG: Also entstehen im Alltäg­li­chen Frei­räume, die Indi­vi­duen selbst­be­stimmt gestalten können?

PV: Exakt. Wenn wir Selbst­be­stim­mung nicht idea­lis­tisch absolut setzen, sondern als rela­tio­nale, immer gesell­schaft­lich bedingte Form verstehen. Selbst­ge­stal­tung ist in dieser Hinsicht immer auch Frei­heit, also bedingte Frei­heit: Körper­selbst­ge­stal­tung – duschen, Haare kämmen, Zähne putzen, sich kleiden, Fußnägel schneiden oder lackieren, Diät, Sport, Pier­cings, Tattoos, Kinn­lif­ting und vieles mehr – ist einer­seits eine anthro­po­lo­gi­sche Konstante wie Plessner und andere aufzeigen, sie gehört zu unserer natür­li­chen Sozia­lität oder sozialen Natur, wir können uns nicht nicht selbst gestalten.

Sie ist aber ande­rer­seits überaus spezi­fisch konkre­ti­siert, je nach sozialer Posi­tion wie Milieu, Geschlecht, Alter, Schicht und so weiter; je nach Ressourcen, Notwen­dig­keiten und Bedürf­nissen. Soma­ti­sche Selbst­ge­stal­tung ist gesell­schaft­lich hoch spezi­fisch und hoch ungleich reali­sierbar. Histo­risch und regional sind beispiels­weise ganz unter­schied­liche Formen von Selbst­ge­stal­tung normal oder erwünscht, andere verpönt oder krimi­na­li­siert. Dies wiederum ist für verschie­dene Geschlechter, Klassen, Alters­stufen, Status­gruppen sehr, sehr unter­schied­lich. Formen der Körper­selbst­ge­stal­tung sind also immer – mehr oder weniger – an soziale Normen gebunden. Wir können uns zwar theo­re­tisch anziehen, wie wir wollen, aber faktisch dann doch nicht: in Bade­klei­dung oder Opern­gala wären wir an der Uni extrem deplat­ziert, so wie ohne Verklei­dung beim Stra­ßen­kar­neval. Und sie enthält immer auch etwas Eigen­sinn. Das muss nicht absicht­lich sein, ist es meis­tens auch nicht.

Chris­tine Loet­scher: Und wie steht es mit der kosme­ti­schen Chir­urgie, wie viel Eigen­sinn steckt da drin?

PV: Dies­seits von diesem proble­ma­ti­schen Dualismus von Sein und Schein reali­siert sich die Gestal­tung des eigenen Körpers also immer als Mischung von Müssen, Sollen und Können. Das ist durchaus auch Selbst­be­stim­mung, als bedingte Form. Das gilt auch für die kosme­ti­sche Chir­urgie. Sie gilt als beson­ders radi­kale Form der Körper­selbst­ge­stal­tung. Noch. Dabei ist sie schlicht die logi­sche Fort­füh­rung der Demo­kra­ti­sie­rung von und der tech­no­lo­gi­schen Auswei­tung der Möglich­keiten zur Körper­selbst­ge­stal­tung. Die Norma­li­sie­rung bestimmter Tech­no­lo­gien wie mini­mal­in­va­sive Verfahren führt zur Norma­li­sie­rung der Nutzung. Die OPs werden sicherer, güns­tiger, schneller, einfa­cher. Das können sich immer mehr Menschen leisten und in ihren Alltag einbauen. Warum sollten sie, sollten wir es nicht machen?

JG: Dennoch dienen Schönheits-OPs in vielen Fällen dazu, sich einem Ideal von Weib­lich­keit zu unter­werfen, das nicht unbe­dingt zur Selbst­be­stim­mung anregt und das binäre Geschlech­ter­re­gime zementiert.

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PV: Ja, jede Ausrich­tung von Praxis an einem Ideal oder einer Norm ist die Einschrän­kung von Selbst­be­stim­mung, wenn wir diese als radikal souverän-autonome Form verstünden. Das wäre wiederum unsinnig. Konkret gesagt: dass wir über­haupt bestimmte Klei­dung tragen und andere nicht, dass wir bestimmte ‘Hygiene’-Praktiken voll­ziehen, dass wir uns die Nägel lackieren oder ‘Damen’-Hosen kaufen, das alles ist nicht radikal selbst­be­stimmt. Und doch steckt da auch immer bedingte Selbst­be­stim­mung drin, denn wir haben Spiel­räume. Und diese Normen – welche Klei­dung zu welchem Anlass? – sind immer umkämpft, sie werden durch sozialen Wandel verän­dert. So ist das Korsett nach und nach aus dem Alltag bürger­li­cher Frauen verschwunden. Zu diesen umkämpften Normen gehört ganz sicher die geschlecht­liche Bina­rität. Um diese tobt derzeit bekannt­lich ein beson­ders inten­siver Streit, und da geht es wirk­lich um was, nämlich um soma­ti­sche Selbstbestimmung.

CL: Was spielt sich da genau ab?

PV: Ich würde sagen, dass die biopo­li­ti­sche Dimen­sion der Moderne in der Gret­chen­frage mündet: Wer kann und soll über den eigenen Körper verfügen? Histo­risch gilt das zunächst für eine kleine Elite, für die berüch­tigten weißen cis-hetero, bürger­li­chen, christ­li­chen, euro­päi­schen Männer. Die ‘Auswei­tung der Subjekt­zone’ durch die poli­ti­schen Kämpfe und sozialen Bewe­gungen der Moderne ist wesent­lich der Kampf um das Recht auf den eigenen Körper. Frauen, rassi­fi­zierte Menschen, Arme, Proletarier:innen, Jüd:innen – bis heute kämpfen zahl­reiche Gruppen darum, Frei­heit, Tran­szen­denz, Vernunft, Mündig­keit, Souve­rä­nität, Indi­vi­dua­lität ausüben und beispiels­weise vor staat­li­cher Gewalt geschützt sein zu können. Das alles reali­siert sich an der oder bedingt durch die angeb­liche Verfüg­bar­keit über das eigene Leben, den eigenen Körper.

Das ist die eman­zi­pa­to­ri­sche Selbst­be­stim­mungs­di­men­sion der Moderne: ‘Mein Bauch gehört mir’! Und: ‘ich lasse mir daran das Fett absaugen, wenn ich es will’. Das ist eben eine Vari­ante zeit­ge­nös­si­scher Selbst­be­stim­mung. Zugleich ist diese klar an engen und fantas­ma­ti­schen Normen orien­tiert, etwa der ‘Wohl­ge­stal­tung der Geschlech­ter­dif­fe­renz’, um eine Formu­lie­rung von Gesa Linde­mann aufzu­nehmen. Menschen unter­werfen sich also in diesen Prak­tiken den Idealen von Geschlecht oder ‘race’, um “schön normal” zu werden. Anders gesagt: Die Gestal­tung des schönen Scheins ist notwendig ambi­va­lent, sie ist Schein und Sein, sie ist selbst- und fremd­be­stimmt zugleich.

JG:  Authen­tisch zu sein ist ja ein allge­gen­wär­tiger Appell in den sozialen Arenen. Auf der einen Seite ist da eine Heidi Klum, die sich als ‘natür­liche Schön­heit’ mit dem Hastag #nofilter insze­niert. Auf der anderen Seite sieht man Stili­konen wie Kim Karda­shian, die gerade in der kosme­ti­schen Gemacht­heit Ihres Ausse­hens den authen­ti­schen Ausdruck ihres Selbst ausma­chen. Diese Authen­ti­zi­täts­dis­kurse scheinen stark mit einer Divers­ti­täts­se­mantik verquickt zu sein. Heidi Klum verkör­pert ein sehr klas­si­sches Weib­lich­keits­ideal, zugleich betont sie bei GNTM die Diver­sität ihrer Models. Kim Karda­shian hat hingegen dieses alther­ge­brachte Schön­heits­ideal entschei­dend erwei­tert, gleichsam zeigt ihre Ästhe­ti­sie­rung des Selbst uniforme Züge, die ein neues Ideal einschreiben. Wie schätzt Du diese Dyna­miken zwischen insze­nierter Authen­ti­zität und Natür­lich­keit ein? Spielt da eine alte Form der klas­sis­ti­schen Ästhetik herein, die das vermeint­lich Natür­liche anpreist?

PV: Inter­es­sante Frage. Mir scheint, die Natür­lich­keits­se­mantik hat sich ziem­lich über­lebt. Die Allge­gen­wär­tig­keit von digi­talen Bildern mit all ihren Bear­bei­tungs­mög­lich­keiten hat die Form der Wahr­neh­mung und Darstel­lung von Personen qua Körper ziem­lich verän­dert. Diese Media­lität besteht ja immer, das an sich ist nicht neu. Aber die Medien sind je spezi­fisch, und das macht einen wesent­li­chen Unterschied.

Heute ist wohl die entschei­dendste ästhe­ti­sche Kompe­tenz, ein Bild machen zu können. Von sich ein bestimmtes Bild zu machen, das möglichst perfekt zu können, darauf kommt es an. Das Ergebnis kann das ‘Natür­liche’ sein – oder eben der ‘natür­liche Look‘ – oder das extrem sichtbar gestal­tete, das angeb­lich ‘Künst­liche’. Bei beiden kommt es darauf an, das gut zu machen. Und dafür gibt es allerlei Tech­niken; den rich­tigen Winkel, die rich­tigen Posen, das rich­tige Licht, die rich­tigen Filter, der rich­tige Schnitt, das rich­tige Styling. Von Heidi Klum ist daher das “heute habe ich kein Bild für Dich” viel entschei­dender als irgendwas mit Natür­lich­keit. Ein Bild von und für sich zu haben, darum geht es. Darüber zu verfügen, die Kontrolle über das Bild zu haben, das ist die Souve­rä­nität. Sehr frei und fluffig nach Carl Schmitt, ‘souverän ist, wer über das Bild entscheidet’. Im Lichte dieser Dynamik rela­ti­viert sich das Natür­liche. Denn alle wissen, auch das ist gemacht. Und das kann besser oder schlechter gelingen. Natür­lich­keit ist eh, meine ich, schon lange Teil sehr expli­ziter stra­te­gi­scher kultu­reller Prak­tiken, ähnlich wie unser Umgang mit Tieren, z.B. auf Social Media.

Zur klas­si­zis­ti­schen Ästhetik: absolut! Ich bezeichne eines der, viel­leicht das hege­mo­niale, zeit­ge­nös­si­schen Schönheits- und Körpe­rideale als ‘skulp­tural’. Die Körper sollen so trocken, geschlossen, kompakt, glatt und sicht­lich bear­beitet sein wie ‘klas­si­sche’ Skulp­turen. Das sind maximal beherrschte Körper, an denen nichts Eigen­sin­niges mehr ist, nichts bewegt sich von allein. Auch da gilt wieder, ob als ‘natür­li­cher Look’ oder als ‘racia­lized diver­sity’, die Körper sollen genau so gewollt und gemacht sein, skulptural.

CL: Das zeigt sich ganz ausge­prägt in der medialen Selbst­in­sze­nie­rung von Stars, Cele­bri­ties und Influencer:innen. Inter­es­sant scheint mir der Fall von Britney Spears, die von ihrem Vater entmün­digt worden war und deren Fans sich unter dem Hashtag #free­britney für die gericht­liche Aufhe­bung dieser Vormund­schaft einge­setzt haben. Welt­weit fieberten Jugend­liche auf Social Media mit; Britney Spears wurde zum Symbol für die Selbst­er­mäch­ti­gung von Frauen inner­halb einer von rigiden Geschlech­ter­normen beherrschten Populärkultur.

PV: Gene­rell wäre ich skep­tisch, was kausale oder eindeu­tige ‘Auswir­kungen’ von Medi­en­formen auf Menschen im Allge­meinen und auf Jugend­liche im Beson­deren betrifft. Ich glaube ja, es wäre lohnend, eine Kultur­ge­schichte der ‘Sorge um die Jugend’, auch der ‘Sorge um die jungen Frauen’ zu schreiben. Womög­lich gibt es das längst? Jeden­falls bin ich mir nicht sicher, dass sich die These eines klaren Effekts von Medien auf Jugend­liche empi­risch pauschal halten lässt – bezie­hungs­weise ist dieser Effekt offen, kann ganz unter­schied­lich stark und unter­schied­lich gestaltet sein.

Ich sehe die #free­britney Sache zum einen als eine spezi­fi­sche, es geht wirk­lich sehr konkret um Britney Spears, um die Entmün­di­gung einer erfolg­rei­chen Künst­lerin durch ihren Vater, es geht um das ‘Star-System’ im Pop. Ich habe den Eindruck, dass es den Fans speziell um Britney geht, sie sind halt Fans. Und da ist auch was Über­grif­figes dran, die Fans wollen ‘ihre’ Britney, sie wähnen sich als Hüter:innen der Eigent­lich­keit der Künst­lerin bezie­hungs­weise der Person ‘hinter’ der Künst­lerin. Zum anderen aber ist dieser Kampf gegen die Entmün­di­gung sicher­lich Teil einer stei­genden Aufmerk­sam­keit für und Kritik am ‘shaming’ von Frauen, von Queers, von migran­ti­schen und rassi­fi­zierten Personen und Gruppen, von Armen und ‘Anderen’. Es gibt meines Ermes­sens eine wach­sende Sensi­bi­li­sie­rung für unter­schied­liche Formen der Entmün­di­gung, für die Aberken­nung der Souve­rä­nität, Frei­heit, Würde von Menschen, und zwar aller Menschen. Und, dafür, dass dies auch – nicht nur, aber auch – mit der Verfüg­bar­keit des eigenen Körpers zusam­men­hängt. Wer entscheidet darüber, was ich trage, wie ich mich style und was sich ‘gehört’? In diesem Sinne denke ich schon, dass Jugend­liche sich heute kritisch, mit sehr vielen unter­schied­li­chen Medi­en­for­maten – zwischen Heidi Klum und queeren Serien wie z.B. auch Sex Educa­tion – damit ausein­an­der­setzen, dass es ‘body poli­tics’ gibt, dass soziale Ordnung über die Bewer­tung, Diszi­pli­nie­rung, Gestal­tung von Körper­lich­keit geschieht, dass sich das auch in die eigenen Hände nehmen lässt. Teenies disku­tieren zum Beispiel sehr kontro­vers Schul­uni­formen und Formen der gleich­zei­tigen Sexua­li­sie­rung und Beschä­mung von Frauen*, etwa in Schulen, wenn ‘züch­tige’ Klei­dung verlangt wird.

CL: Tatsäch­lich ist die “Sorge um die Jugend” in medi­en­his­to­ri­scher Perspek­tive gut aufge­ar­beitet, die einschlä­gigen Unter­su­chungen kommen aber scheinbar nicht an gegen die Behaup­tung, Jugend­liche seien Medien hilflos ausge­lie­fert. Hast Du eine Erklä­rung für die Beharr­lich­keit dieser längst wider­legten These?

PV: Na ja, es ist nicht falsch zu sagen, dass Medien Menschen beein­flussen. Und sicher­lich kann das Alter eine beson­dere Rolle spielen. Aber ja, diese Idee des hilf­losen Konsums und der 1:1-Determinierung durch Medien, die ist sicher falsch – jeden­falls jenseits von Konstel­la­tionen tota­li­tärer Propa­ganda. Mir scheint, dass sich das Phan­tasma junger Kinder oder Jugend­li­cher gut als Projek­ti­ons­fläche für Idea­li­sie­rungen von Unschuld und Rein­heit eignet. Das unschul­dige Kind ist schon lange Bestand­teil beispiels­weise anti­se­mi­ti­scher oder rassis­ti­scher Fanta­sien. Das ‘junge Mädchen’ ist schon lange eine zentrale Figur in kolo­nialen Verhältnissen.

Inso­fern geht diese Sorge um das Kind oder um das Mädchen weit über das spezi­fi­sche Thema von Schön­heit und Medien hinaus. Aber dort ist es eben weiterhin beson­ders viru­lent. Es gibt wohl diese Phan­tasie der von Natur aus mora­lisch guten, der reinen und gesell­schaft­lich weithin ‘unbe­fleckten’ Kinder, beson­ders der weib­li­chen, die als natürlich-tugendhaft imagi­niert werden. Die Gesell­schaft proji­ziert, in Teilen jeden­falls, ihr Bedürfnis nach und die Hoff­nung auf Entlas­tung von den Mühen sozialer Ordnung sowie einer darin gela­gerten Moral auf dieses angeb­liche Außen ihrer Selbst, nämlich auf die Natur. Die ‘jungen Mädchen’ verkör­pern das angeb­lich. Und dann kommen die Medien und verderben diese natür­liche Ordnung. Das ist eine ideo­lo­gi­sche Fantasie, die von den Ambi­gui­täten und Unklar­heiten entlastet, die dies­sei­tige Ordnungs­leis­tungen uns zumuten. Das funk­tio­niert nicht zuletzt auch deshalb so gut, weil es ja richtig ist, dass Kinder und Jugend­liche empfäng­lich sind für Medien. Das sind wir ja alle, immer. Mehr oder weniger.

JG: Über diese poli­ti­schen, auch gerade geschlechter- und sexu­al­po­li­ti­schen Kämpfe, die dieses Emblem­figur vom unschul­digen Kind einsetzen, um ihre anti­fe­mi­nis­ti­sche Agenda voran­zu­bringen, gelangt man ja wieder zu Fragen der Selbst­be­stim­mung. Doch dies ist ein anderes, ein anschlies­sendes Gespräch. Erst einmal bedanken wir uns viel­mals für dieses Gespräch.