Die Diskussionen um die Sammlung Bührle werfen grundsätzliche Fragen auf, weit über diesen einen Fall hinaus. Die GdG-Herausgeber:innen Gesine Krüger, Svenja Goltermann, Philipp Sarasin und Janosch Steuwer sprechen über Auftragsforschung, Restitution und die ethische und politische Dimension historischer Forschung heute.

Die im kürz­lich eröff­neten Neubau des Kunst­hauses Zürich präsen­tierte Samm­lung Bührle hat in den letzten Wochen in der New York Times oder der Frank­furter Allge­meinen Zeitung, aber auch in natio­nalen Medien viel kriti­sche Aufmerk­sam­keit gefunden. Verein­facht gesagt geht es bei dieser Kritik darum, dass das Kunst­haus und die Stadt Zürich ganz der Prove­ni­enz­for­schung der Bührle-Stiftung vertraut haben, obwohl seit langem der drin­gende Verdacht bestand, dass eine signi­fi­kante Zahl der ausge­stellten Kunst­werke vor, während und nach dem Zweiten Welt­krieg als „verfol­gungs­be­dingt entzo­genes Kulturgut“ jüdi­scher Eigentümer:innen in den Besitz des Waffen­pro­du­zenten und damals reichsten Schwei­zers Emil G. Bührle gelangt ist.

phs: In der öffent­li­chen Debatte um die Samm­lung Bührle wurden neben mora­li­schen Fragen auch Fragen um die recht­mäs­sige Eigen­tü­mer­schaft einiger dieser Kunst­werke aufge­worfen. Die Prove­ni­enz­for­schung und die Frage der Resti­tu­tion stehen daher im Zentrum der Diskus­sion. Dazu kommt aber auch das Problem der Auftrags­for­schung; bekannt­lich ist zur Eröff­nung des neuen Museums ein ausführ­li­cher, im Auftrag der Stadt Zürich und des Kunst­hauses erstellter Bericht über die „Entste­hung der Samm­lung Emil Bührle im histo­ri­schen Kontext“ erschienen. Welche Erfah­rungen mit Auftrags­for­schung gibt es eigent­lich, auch jenseits dieses zürche­ri­schen Beispiels und vor allem mit jener, die sich im weiten Feld der Geschichte des Natio­nal­so­zia­lismus bewegt?

js: Vor dem Hinter­grund der deut­schen Entwick­lung erin­nert der Konflikt um die Bührle-Sammlung stark an die Konstel­la­tion, aus der dort die zeit­ge­schicht­liche Auftrags­for­schung in den späten 1980er Jahren entstanden ist. Im Mittel­punkt stand der Streit um Entschä­di­gungen für NS-Zwangsarbeiter:innen, die insbe­son­dere gegen­über den großen Indus­trie­un­ter­nehmen erhoben wurden. Der Volks­wagen-Konzern gab ein erstes großes Forschungs­pro­jekt in Auftrag, das durch den renom­mierten NS-Forscher Hans Mommsen geleitet wurde. Auch damals konkur­rierten die histo­ri­schen Erkennt­nisse, die im offi­zi­ellen Auftrag mit bevor­zugtem Quel­len­zu­gang erar­beitet worden waren (und deren Redlich­keit eben deshalb öffent­lich in Zweifel stand), mit den histo­ri­schen Studien, die Entschä­di­gungs­ak­ti­visten zur Stüt­zung ihrer Forde­rungen erar­beitet hatten. Der Boom der Auftrags­for­schung setzte aber am Ende des Jahr­zehnts in einer anderen Konstel­la­tion ein: Erst als die Frage nach Entschä­di­gungs­zah­lungen 1999 abschlie­ßend gere­gelt worden und damit der poli­ti­sche Konflikt gere­gelt worden war, waren mehr und mehr Unter­nehmen bereit, sich ihrer „histo­ri­schen Verant­wor­tung“ zu stellen, und ihre Geschichte „aufar­beiten“ zu lassen. Ähnlich ist dies mit den zahl­rei­chen Forschungs­pro­jekten, die seit einigen Jahren im Auftrag deut­scher Minis­te­rien und Behörden der „NS-Belastung“ ihrer Mitarbeiter:innen nach­gehen. Auch dies setzte ja erst ein, als diese Personen ihre Posten bereits lange verlassen hatten.

phs: Und was bedeutet das aus Deiner Sicht?

js: Ich würde sagen, dass man daran sehen kann, dass es sehr unter­schied­liche Moti­va­tionen gibt, Historiker:innen mit einer „Aufar­bei­tung“ zu beauf­tragen: weil man sich vor finan­zi­ellen Ansprü­chen schützen will oder weil man sich als Unter­nehmen oder Behörde „verant­wor­tungs­be­wusst“ zeigen will. Man sieht auch, dass Historiker:innen von solchen Einrich­tungen häufig erst gerufen werden, wenn es poli­tisch nur noch um wenig geht und sie mit ihren Forschungen vor allem das symbo­li­sche Kapital der Auftrag­geber erhöhen

gk: Spricht das denn aus Eurer Sicht dagegen, dass sich z.B. Städte und Kommunen oder auch Behörden aus eigenem Antrieb mit ihrer NS Vergan­gen­heit oder der kolo­nialen Vergan­gen­heit beschäftigen?

js: Nein, natür­lich nicht. Mit Blick auf das deut­sche Beispiel kann man das seit der Jahr­tau­send­wende so deut­lich gestei­gerte Inter­esse an der Aufar­bei­tung der eigenen Geschichte durch viele private und staat­liche Insti­tu­tionen auch als Ergebnis eines langen Prozesses verstehen, mit dem die kriti­sche Refle­xion der eigenen Geschichte eine histo­ri­sche absolut erstaun­liche Bedeu­tung erlangt hat. Ich finde nur wichtig, sich als akade­mi­scher Histo­riker klar zu machen, dass sich auch aus dieser Konstel­la­tion Fragen nach Abhän­gig­keiten und Instru­men­ta­li­sie­rungen stellen.

Foto: js

phs: Die Schwei­ze­ri­sche Gesell­schaft für Geschichte (SGG-SSH) hält in ihrem “Ethik-Kodex” als Grund­satz fest: “Grund­lage aller wissen­schaft­li­cher Berufs­praxis ist das Prinzip der Forschungs­frei­heit”, was auch freien Archiv­zu­gang impli­ziere. Bezüg­lich der Auftrags­for­schung nun wird im SGG-”Leitfaden für frei­be­ruf­liche Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker” der Natur der Sache entspre­chend fest­ge­halten, dass sich Auftraggeber:in und Auftragnehmer:in über Art und Ziel­set­zung der geplanten histo­ri­schen Unter­su­chung zu einigen hätten. Grund­sätz­lich gelte aber auch hier: “Urhe­ber­recht und inhalt­liche Verant­wor­tung für das Gesamt­pro­jekt oder Teil­pro­jekte liegen beim Autor/der Autorin (Basis dazu ist letzt­lich die Wissen­schafts­frei­heit).” Und für den Konflikt­fall hält der “Leit­faden” fest: “Die Autorin ist für Inhalt und Sprache der Firmen­ge­schichte” – in der Schweiz wohl die häufigste Form der Auftrags­for­schung – “verant­wort­lich und entscheidet abschlies­send. Die Frei­heit der wissen­schaft­li­chen Forschung bleibt gewahrt.” Auf Einwände der Auftrag­geber habe sie nur einzu­gehen, sofern diese “wissen­schaft­lich und berufs­ethisch vertretbar sind und mit dem verein­barten Konzept über­ein­stimmen”. Ich würde sagen: Damit sind die Probleme der Auftrags­for­schung sicher nicht insge­samt ange­spro­chen, geschweige denn gelöst. Aber diese Grund­sätze geben den Historiker:innen doch recht starke Krite­rien in die Hand, um gegen­über den viel­leicht vom Resultat der Forschung über­raschten Auftrag­ge­bern an der Frei­heit ihrer Wissen­schaft festzuhalten.

js: Das ist sicher so. Aber Auftrags­for­schung produ­ziert auf einer zweiten Ebene Probleme: Was ist zum Beispiel mit der Nach­prüf­bar­keit solcher Forschungen durch andere Historiker:innen, wenn beauf­tragte Forscher:innen Zugang zu ansonsten verschlos­senen Firmen­ar­chiven hatten? Vor allem scheint mir ein zentrales Problem von Auftrags­for­schung darin zu bestehen, dass sie zuneh­mend den Blick der akade­mi­schen Forschung lenkt. Diese Projekte werden in sehr vielen Fällen ja nicht nur von frei­be­ruf­li­chen Historiker:innen durch­ge­führt, sondern von Professor:innen und anderen univer­si­tären Wissenschaftler:innen, deren Ressourcen damit an Frage­stel­lungen gebunden werden, die ihnen die Auftrag­geber vorgeben. Und in Fällen wie der NS-Forschung, wo es in den letzten Jahren sehr viel Geld für Auftrags­pro­jekte gegeben hat, prägt dies dann auch die akade­mi­sche Forschungs­agenda entscheidend.

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gk: Viel­leicht wäre es gut, einmal grund­sätz­li­cher zu fragen, wer uns als Forscher:innen eigent­lich “beauf­tragt” – meta­pho­risch, aber auch ganz konkret. Ich würde drei Ebenen unter­scheiden: zunächst unser eigenes Inter­esse, unsere Neugierde, die uns dazu führt, etwas erfor­schen zu wollen, es handelt sich sozu­sagen um einen inneren Auftrag. Die zweite Ebene betrifft die jewei­lige Fach­wis­sen­schaft, also die dortigen Debatten und die neuen Perspek­tiven, die es gera­dezu “erzwingen”, sich mit bisher vernach­läs­sigten Themen zu beschäf­tigen, die Archive gegen den Strich zu lesen, neue Archive zu erschließen oder den Archiv­be­griff zu erwei­tern und unkon­ven­tio­nelles histo­ri­sches Mate­rial in die Forschung einzu­be­ziehen. Die Frage nach den histo­ri­schen Akteur:innen, also danach, wer über­haupt Geschichte macht, hat immer wieder neue Felder erschlossen, zuletzt viel­leicht Tier­ge­schichte, über die vor wenigen Jahren noch geschmun­zelt worden ist, um es mal nett zu sagen, die aber heute mit inter­na­tio­nalen Jour­nals, Fach­kon­gressen, inter­dis­zi­pli­nären Projekten und Forschungs­schwer­punkte nicht nur weithin aner­kannt ist, sondern wich­tige Zukunfts­fragen erschließt, etwa das Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebe­wesen ange­sichts des fort­schrei­tenden Klima­wan­dels. Die dritte Ebene betrifft die direkten Aufträge, von denen bereits die Rede war, bzw. den Anspruch, die eigene Geschichte aufzu­ar­beiten. In manchen US-amerikanischen Bundestaaten ist es bereits obli­ga­to­risch, dass Firmen ihre Geschichte im Zusam­men­hang mit der Skla­verei erfor­schen und offen­legen müssen, wenn sie städ­ti­sche Aufträge erhalten wollen. 

Hier zeigt sich eine inter­es­sante Posi­tion, nämlich die Vorstel­lung, Geschichte müsse aufge­ar­beitet werden – das ist ja keines­falls selbst­ver­ständ­lich – und diese ist verschränkt mit der gegen­wär­tigen Forde­rung, auch bislang vernach­läs­sigte Anteile der Geschichte aufzu­ar­beiten und sie damit als rele­vant anzu­er­kennen. Auch in Europa halten es immer mehr Kommunen für erfor­der­lich, sich genau mit diesen Themen, mit Skla­verei und Kolo­nia­lismus ausein­an­der­zu­setzen. Hier erteilt die Öffent­lich­keit, d.h. zumin­dest ein Teil der Öffent­lich­keit, einen direkten Auftrag an ihre poli­ti­sche Vertretung.

sg: Das ist richtig, die Vorstel­lung, dass Geschichte aufge­ar­beitet werden müsse, ist relativ jung. Adorno stand der “Aufar­bei­tung der Vergan­gen­heit” 1959 ja noch sehr kritisch gegen­über, zumal “Aufar­bei­tung” plötz­lich als Schlag­wort in aller Munde zu sein schien. Er vermu­tete seiner­zeit – und nicht zu Unrecht –, dass “Aufar­bei­tung” mit dem Anliegen einher ginge, einen Schluss­strich zu ziehen und damit womög­lich das Vergan­gene selbst “aus der Erin­ne­rung wegzu­wi­schen”. Der Zeit­his­to­riker Martin Sabrow hat einmal schön formu­liert, dass es sich hier eigent­lich um eine tradierte Auffas­sung von “Aufar­beiten” handelte, die aus der Hand­wer­ker­sprache kam, womit die Auffri­schung eines abge­nutzten Möbels gemeint war – also das Verwi­schen von Spuren, nicht deren Sichtbarmachen.

gk: Hannah Arendt war ja auch höchst skep­tisch, was die Bewäl­ti­gung von Geschichte betrifft. Sie schrieb: “Das Höchste, was man errei­chen kann, ist zu wissen und auszu­halten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzu­warten, was sich daraus ergibt.” Das würde sich auch gegen dieses eifrige Werken an der Geschichte richten, einer Aufar­bei­tung, damit hinterher alles heil und wieder schön ist. 

sg: Diese Vorstel­lung, dass nach einer Aufar­bei­tung, etwas “heil” wird, hat sich ja bis heute nicht ganz verloren. Trotzdem muss man natür­lich sagen, dass die Aufar­bei­tung der Vergan­gen­heit, die nicht nur von Wissenschaftler:innen voran­ge­trieben wurde, mitt­ler­weile Vieles und immer wieder Neues zum Vorschein gebracht hat, was zu einem umfas­sen­deren Bild staat­li­cher Verbre­chen, auch jenseits des Holo­causts, beigetragen hat. Gründe dafür gibt es viele, zum Beispiel die Aufwer­tung von Zeugen­schaft und subjek­tiver Erfah­rung, aber eben auch neue Debatten über die Entschä­di­gung von Opfern staat­li­chen Macht­miss­brauchs oder über das “Recht auf Wahr­heit”, die seit den 1980er Jahren im Rahmen der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsaktivist:innen geführt wurden. Der Ausgangs­punkt für das rekla­mierte “Recht auf Wahr­heit” waren zunächst zwar staat­liche Verbre­chen außer­halb Europas, insbe­son­dere in Latein­ame­rika und in Südafrika. Dennoch gehört die Entste­hung eines “Rechts auf Wahr­heit” zumin­dest zu einer Art Hinter­grund­rau­schen, die heute den Antrieb um die Aufklä­rung staat­li­cher Gewalt begleitet. Was sich bis dabei aber immer wieder von Neuem heraus­stellt, ist bis heute aber auch: Wahr­heit, auch histo­ri­sche Wahr­heit, kann nicht nur äußerst umstritten sein; eine vermeint­liche Aufde­ckung einer Wahr­heit kann auch mit Auslas­sungen einher­gehen. Auch die von der Bührle-Stiftung betrie­bene Prove­ni­enz­for­schung zeigt das ganz gut: Es wurde zwar minu­tiös rekon­stru­iert, in wessen Hand sich die Bilder wann befanden; aber die Frage, ob sie in “jüdi­schem” Besitz waren, blieb außen vor. Aufar­bei­tung und Schweigen können also Hand in Hand gehen. Hier sind ganz offen­kundig weitere Fragen angezeigt. 

gk: Dass Aufar­bei­tung und Schweigen durchaus Hand in Hand gehen können, zeigt sich auch bei den Resti­tu­ti­ons­for­de­rungen hinsicht­lich des Kolo­nia­lismus. Seit den 1960er Jahren ist es in der Forschung aner­kannt, dass der deut­sche Kolo­ni­al­krieg einen geno­zi­dalen Charakter hatte bzw. als Genozid zu gelten hat. Löbli­cher­weise hat sich die deut­sche Bundes­re­gie­rung nun endlich dazu bereit erklärt, über Wieder­gut­ma­chungs­for­de­rungen mit Namibia zu spre­chen, wobei übri­gens zunächst von Seiten der Nach­kommen der Opfer über mehrere Gene­ra­tionen hinweg vor allem eine Aner­ken­nung der gemein­samen Geschichte, des erlit­tenen Schick­sals gefor­dert worden ist, und keine Geld­zah­lung. Mit den letztes Jahr statt­fin­denden Verhand­lungen ist zwar das Thema Kolo­nia­lismus einer viel grös­seren Öffent­lich­keit in Deutsch­land bewusst geworden – und das ist gut. Die Gespräche in Namibia fanden aber mit der Regie­rung statt und nicht mit den Opfer­ver­bänden und das hat dort zu einer extrem grossen Enttäu­schung geführt, zu dem berech­tigten Eindruck, dass Aufar­bei­tung hier Verschweigen oder zum Verschweigen gebracht werden bedeutet hat und dass das Ziel ein Schluss­strich war und eben nicht die Eröff­nung eines gemein­samen Gesprächs. Es geht also sehr konkret darum, wer spricht.

sg: Bezie­hungs­weise geht es eben auch darum, wer gehört wird oder sich als Sprecher:in durch­setzt. Die von mir gerade bereits ange­deu­teten Debatten in den Vereinten Nationen der frühen 1980er Jahre, die sich darum drehten, wer eigent­lich ein Opfer sei und Anspruch auf Entschä­di­gung bekommen sollte, sind ein ganz hervor­ra­gendes Beispiel dafür, dass es sich bei diesen Fragen um harte Aushand­lungs­kämpfe zwischen unter­schied­li­chen Akteuren handelt: Dieje­nigen, die damals den Blick darauf lenkten, dass es nicht nur Opfer von Alltags­kri­mi­na­lität gäbe, sondern auch Opfer staat­li­chen Macht­miss­brauchs oder des Miss­brauchs wirt­schaft­li­cher Macht oder der Umwelt­ver­schmut­zung, waren Mitte der 1980er Jahre eindeu­tige Verlierer einer Debatte, an deren Beginn sie stark und vernehm­lich aufge­treten waren. Die Reso­lu­tion, die 1985 fest­schrieb, wer ein Opfer sei und Anspruch auf Entschä­di­gung geltend machen könne, berück­sich­tigte sie nur noch am Rande. Die Alltags­kri­mi­na­lität blieb voll­kommen im Vorder­grund. Erst im Jahr 2005 wurde die Reso­lu­tion noch einmal nach­ge­bes­sert. Trotzdem hat man bis heute gele­gent­lich den Eindruck, als täte sich der globale Norden sehr viel leichter mit Opfer­hil­fe­in­sti­tu­tionen und Entschä­di­gungs­leis­tungen, wenn es um die Alltags­kri­mi­na­lität im eigenen Land geht, während er sich in der Regel (lange) dagegen sperrt, die Verant­wor­tung für Gewalt und massive Ausbeu­tung in der Vergan­gen­heit zu über­nehmen. Das gilt vermut­lich in beson­derem Maße, wenn Staaten – oder wie im Fall Bührle Unter­nehmer – nicht die Haupt­ak­teure im engeren Sinn, sondern gleichsam von außen verstrickt waren.

js: Ich denke ein Grund dafür ist, dass eine kriti­sche Aufar­bei­tung der Vergan­gen­heit zwar Voraus­set­zung für Entschä­di­gungen oder die Resti­tu­tion von Raubgut ist, sich diese aber eben nicht einfach aus ihr ergibt. Selbst wenn man die Geschichte kennt, bleibt es eine poli­ti­sche Frage, welche Dinge zurück­ge­geben, welches Leid entschä­digt werden soll. Und die gegen­wär­tige Debatte um den Kolo­nia­lismus zeigt wohl beson­ders deut­lich, dass histo­ri­sche Selbst­er­for­schung und das Beharren auf Besitz­an­sprü­chen neben- und mitein­ander bestehen können. Gegen­über der Prove­ni­enz­for­schung ist ja zum Beispiel der gene­relle Einwand erhoben worden, dass der Versuch, für den kolo­nialen Kontext die Umstände des Erwerbs einzelner Objekte zu klären, und nur jene zurück­zu­geben, bei denen ein Raub zwei­fels­frei nach­ge­wiesen ist, absurd sei und histo­ri­sche Forschung hier den Erwar­tungen der “Opfer­seite” syste­ma­tisch entgegenarbeite.

sg: Viel­leicht ist das am Ende auch eine Frage, mit welchen Kate­go­rien gear­beitet wird, wie sich das – um jetzt noch einmal zur Bührle-Sammlung und die zurück­zu­kehren – an der höchst proble­ma­ti­schen Unter­schei­dung zwischen “Raub­kunst” und “Fluchtgut” zeigt. Die Proble­matik ist in diesem Zusam­men­hang ja deut­lich geworden: Die Klas­si­fi­zie­rung von Kunst­gü­tern als “Fluchtgut” dient eben auch dazu, Debatten über Entschä­di­gung bezie­hungs­weise Resti­tu­tion auszu­he­beln – mit dem Argu­ment, die Werke seien ja recht­mäßig erworben worden. Doch es gibt zudem bei der Auftrags­for­schung ein struk­tu­relles Ungleich­ge­wicht, das man nicht unter den Tisch kehren sollte: Es sind nur die Täter-Institutionen, die den Auftrag geben. Das ist ein spezi­fi­scher Blick; es sind mitunter hand­feste Inter­essen im Spiel, nicht zuletzt finan­zi­eller Art. Inso­fern ist ganz entschei­dend, dass die Perspek­tiven der Opfer (und das schliesst dieje­nigen ihrer Ange­hö­rigen mit ein) in die wissen­schaft­liche Beschäf­ti­gung mit kollek­tiven Verbre­chen und ihrer diversen Folgen mit einge­schlossen werden. Das ist eine ethi­sche Frage, aber es ist vor allem ein Gebot heutiger wissen­schaft­li­cher Stan­dards, hinter die man nicht zurück­fallen sollte.