

Quelle: eightox.org
Wie ist in der modernen Gesellschaft Gemeinschaft möglich? Die interessantesten Antworten auf diese Frage sind von undogmatischen Linken formuliert worden, insbesondere in England, wo der Begriff anders als in Deutschland nicht mit einer rechtsradikalen Tradition belastet ist. In seiner bis heute einflussreichen Studie The Making of the English Working Class (1963) zeigte der Sozialhistoriker E.P. Thompson, wie sich die Arbeiterschaft des frühen 19. Jahrhunderts in Vereinen und Gewerkschaften zusammenfand, um dem doppelten Disziplinierungsdruck durch die Industrialisierung und die protestantischen Kirchen eine selbstbestimmte community entgegenzusetzen. In seinem ebenso einflussreichen, semiautobiografischen Buch The Uses of Literacy (1957) blickte Richard Hoggart zurück auf seine eigene Kindheit im proletarischen Milieu der Zwischenkriegszeit. Weniger auf Politik gerichtet als Thompson fand der Pionier der Cultural Studies Gemeinschaftlichkeit in Chören, Blaskapellen und Taubenzüchtervereinen, vor allem aber in der alltäglichen nachbarschaftlichen Kommunikation.

Quelle: youthclubarchive.com
Beide Autoren beschrieben Lebensformen, welche durch Modernisierungsprozesse bedroht waren: die sich immer stärker durchsetzende Logik des industriellen Kapitalismus bei Thompson, der Vormarsch der kommerziellen Massenkultur bei Hoggart. Sowohl der Sozialhistoriker als auch der Kulturwissenschaftler ließen sich auf die lokalen Perspektiven vermeintlicher Verlierer der Geschichte ein, die versuchten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – oder schlicht mit diesem zurechtzukommen. Im Schlusssatz von The Making of the English Working Class dankte Thompson seinen Protagonisten für „years of heroic culture“. Hoggart, dem die Binnenperspektive des Arbeitermilieus ebenso vertraut war wie die Randständigkeit des begabten Schülers, äußerte sich skeptischer. Angesichts innerer Spannungen und Zwänge erklärte er, den Begriff der community mit seinen positiven Konnotationen lieber vermeiden zu wollen. Gemeinsam war beiden der Bezug zu West Yorkshire: Thompsons Werk entstand während seiner Zeit an der University of Leeds, während derer er sich eine umfassende Kenntnis regionaler Quellen aneignete. Den autobiografischen Kern von Hoggarts The Uses of Literacy bildeten seine Kindheits- und Jugendjahre in Hunslet, einem proletarischen Viertel südlich des Leeds City Centre.
Krimiserie und Schulserie
Den eigenen gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu betonen, ist in West Yorkshire ebenso topisch wie in anderen ehemaligen Industrieprovinzen Westeuropas. Doch was ist davon im 21. Jahrhundert tatsächlich übriggeblieben? Eine feuilletonistische Annäherung ermöglichen die Krimiserie Happy Valley und die Schulserie Ackley Bridge. Happy Valley kreist um Sergeant Catherine Cawood, die sich in einem dunklen Tal westlich von Leeds so robust wie nonchalant mit Kleinkriminellen und Drogensüchtigen herumschlägt. Aus ihrem Berufsalltag wird Cawood herausgerissen, als sie immer stärker in einen existenziellen Zweikampf mit einem Schwerverbrecher gerät, der einst ihre Tochter vergewaltigte und diese damit in den Suizid trieb. Ackley Bridge ist der Name einer (fiktiven) postindustriellen Kleinstadt, in der eine neu gegründete Schule zuvor voneinander getrennte weiße und muslimische Jugendliche integrieren soll. Verschiedene Lehrer*innen versuchen, eine bildungsferne und teilweise bitterarme Schülerschaft, die gleichzeitig nach ihrer eigenen Logik interagiert, so gut es geht zu unterrichten.

Upper Calder Valley; Quelle: wikipedia.org
Wie hat sich nun die regionale Gesellschaft verändert, wenn man sich erlaubt, von diesen Fernsehserien statt von journalistischen Reportagen oder soziologischen Studien auszugehen? Noch immer weiden Schafe auf grünen Hügeln, erinnern Reihenhäuser aus gelbgrauem Sandstein an das 19. Jahrhundert, ist der Akzent ebenso ausgeprägt wie das Eigenbewusstsein. Doch stehen diesen Kontinuitäten tiefgreifende Veränderungen gegenüber: Marktorientierte Modernisierungsprojekte, insbesondere von Thatcherismus und New Labour, haben aller Partizipationsrhetorik zum Trotz den Raum für lokale Mitbestimmung nachhaltig reduziert. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich an den Bemühungen der Schuldirektorin, das als semiautonome academy organisierte Ackley Bridge College finanziell über Wasser zu halten, zentrale Vorgaben zu erfüllen und gleichzeitig einer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. Die Einbindung in globale Märkte schlägt sich längst nicht mehr in Import und Verarbeitung von Baumwolle, sondern in der Präsenz aller möglichen Weinsorten und Automarken nieder – und in der Verbreitung von Drogen, deren zerstörerische Auswirkungen in beiden Serien thematisiert werden.

Titelbild des Dokumentarfilms Shed Your Tears and Walk Away (2009) über Drogenabhängigkeit in Hebden Bridge. © Jez Lewis.
Ferner ist die Gegend seit den 1950er und 1960er Jahren multiethnisch geworden. Noch wichtiger als das sich in Chapeltown nördlich des Leeds City Centre bildende afrokaribische Viertel war die Einwanderung aus Pakistan aufgrund des Arbeitskräftebedarfs der regionalen Textilindustrie kurz vor deren finaler Krise. Die muslimische Minderheit kommt in der Krimiserie eher selbstverständlich und am Rande vor, während ihre Präsenz sich in der Schulserie spannungsreich mit jugendlichen und auch erwachsenen Selbstfindungsprozessen überlagert.
Gemeinschaft oder Gemeinschaftlichkeit?
Bietet das lokale Gemeinschaftsbewusstsein noch Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Die Bilanz fällt zwiespältig aus. In Happy Valley stößt die Polizei verschiedentlich auf Menschen, die vom Leben überforderte Außenseiterfiguren regelrecht verlachen, statt ihnen irgendwelche Unterstützung anzubieten. Die örtliche Verankerung der Institution zeigt sich daran, dass sie ein ihr wohlgesonnenes Gemeinderatsmitglied auch dann nicht der Staatsanwaltschaft zuführt, wenn es angetrunken einen Auffahrunfall verursacht und zudem ein Päckchen Kokain bei sich trägt. Ackley Bridge verschweigt keineswegs, dass einerseits residuale Arbeiterkultur mit rassistischer Abgrenzung und andererseits muslimische Identität mit selbstgerechter Abschottung einhergehen kann. Nicht bloß in dieser Hinsicht erinnert die Serie zuweilen an Hoggarts Überlegungen zum Zusammenhang von Gruppenbildung und Konformitätszwang, wenn Familien gegenüber der community den Anschein von Normalität zu wahren versuchen und die Schülerschaft Gerüchte oder verfängliche Bilder über soziale Medien verbreitet. Sowohl Happy Valley als auch Ackley Bridge deuten an, wie der Wohlstandszuwachs der letzten Jahrzehnte weite Teile der Bevölkerung entweder von vornherein ausgelassen hat oder aber mit den ebenfalls steigenden Ansprüchen – auf große Häuser oder Privatschulen für die Kinder – nicht Schritt halten kann.
Gibt es angesichts dieser Gegensätze und Verwerfungen überhaupt noch so etwas wie Gemeinschaft, die nicht auf Ressentiment hinausläuft? Womöglich ist die Frage falsch gestellt, weil sie auf essentialistischen Voraussetzungen beruht. Hoggarts Zweifel an der empirischen Angemessenheit des Begriffs wird von den Soziologen Matthias Grundmann und Frank Osterloh geteilt, die zudem eine konzeptionelle Alternative vorschlagen. Sie plädieren für eine relationale und akteurszentrierte Begrifflichkeit, mit dem sich die „gemeinsame Handlungspraxis“ ebenso erfassen lässt wie „divergente Vergemeinschaftungsprozesse“. Was Grundmann und Osterloh für dörfliche Kontexte entwickelt haben, lässt sich auf Polizei und Schule, Familie, Nachbarschaft und Freundschaft übertragen, wie sie in Happy Valley und Ackley Bridge geschildert werden.
Eine Polizistin, ein Lehrerkollegium und eine Kantinenfrau

Einsam und gemeinschaftlich: Catherine Cawood (Sarah Lancashire); Quelle: oldaintdead.com
In der Krimiserie ist es vor allem Catherine Cawood selbst, die im gemeinschaftlichen Sinne handelt. Gegenüber polizeilichen Hierarchie und Kriminellen tritt sie – durchaus genretypisch, nur ohne die übliche maskuline Konnotation – als raubeinige Individualistin auf, die sich immer wieder über Regeln und Anweisungen hinwegsetzt. Gleichzeitig schlägt die Frau in den Fünfzigern die Brücke zwischen älterer Gemeinschaftsethik und modernem Emanzipationsanspruch. Cawood fühlt sich gleich mehrfach verantwortlich, ist jüngeren Kolleginnen eine Mentorin und bringt Prostituierten Sandwiches vorbei. Sie versucht, den Rückfall ihrer Schwester in Alkoholismus und Drogensucht zu verhindern und ihren verhaltensauffälligen Enkel großzuziehen – den Sohn der verstorbenen Tochter und des Gewaltverbrechers, den unschädlich zu machen sie entschlossen ist. Unter der Last dieses Verantwortungsgefühls, das durch immer neue Wendungen auf existentielle Proben gestellt wird, bricht Cawood beinahe zusammen. Sie verletzt die Gefühle anderer, erlebt Momente der Einsamkeit und Phasen der Depression. Die Szenen der Harmonie sind hart erkämpft, wenn sie am Ende der zweiten Serie mit Schwester, Sohn und Enkel über die von steinernen Mäuerchen durchzogenen Hügel läuft und dabei Tränen in den Augen hat.

Freundschaftlich und nachbarschaftlich: Missy Both (Poppy Lee Friars) und Nasreen Paracha (Amy-Leigh Hickman); Quelle: testar.in
Im comedy-drama über die Schule dagegen ist gemeinschaftliches Handeln polyzentrisch angelegt. Verschiedene Lehrer*innen bilden aus ihrer heterogenen Klientel ein Shakespeare-Ensemble oder Rugbyteam und versuchen unter Vernachlässigung der professionellen Distanz alles, um Jugendliche aus schwierigsten Verhältnissen nicht zu verlieren. Die Kantinenfrau Kaneez Paracha hat ein Leben lang zwischen Punjabi-Tradition und eigenen Bedürfnissen navigiert und will ihrer Tochter Nasreen denselben Balanceakt ersparen. Sie unterstützt sie, als der Gruppendruck unter muslimischen Mädchen deren Freundschaft zur charismatischen Nachbarstochter Missy zu sprengen droht, und nach anfänglichem Schock auch noch dann, als Nasreen ihre lesbische Sexualität offenbart. Und es sind die Teenager selbst, die mit ihren komplizierten Familien ringen, über kulturelle und soziale Barrieren hinweg Freundschaften schließen und sich zunehmend mit dem ökonomisch abgehängten Ackley Bridge identifizieren.
Sally Wainwright, Ayub Khan Din, Penny Woolcock
Mit Happy Valley hat die Drehbuchautorin und Produzentin Sally Wainwright, introvertiert und nach eigener Aussage „fat and northern“, den internationalen Durchbruch geschafft. Sie hat ihrer Verbundenheit mit West Yorkshire Ausdruck verliehen und ihren langjährigen Einsatz für mehr weibliche und ältere Hauptrollen fortgesetzt. Der kooperative Produktionsprozess brachte eine Reihe exzellenter Schauspieler*innen zusammen und ließ location manager, Kostümdesigner und Maskenbildnerin viel Raum für eigene Initiativen.
Für Ackley Bridge gilt noch mehr, dass gemeinschaftliches Handeln nicht nur in der Serie vorkommt, sondern auch hinter ihr steht. Drehbuchautor und Produzent Ayub Khan Din (East is East) schlägt einmal mehr die Brücke zwischen Minderheitserfahrungen und kulturellem Mainstream, diesmal auf der Grundlage zahlreicher Gespräche mit Jugendlichen aus der Region. Regisseurin Penny Woolcock, eine herausragende Vertreterin des sozial engagierten Spiel- und Dokumentarfilms (unter anderem 1 Day und One Mile Away über Gangs in Birmingham), gibt ihr Seriendebüt. Für die Nebenrollen hat sie, wie für die meisten ihrer Projekte, junge Laien gecastet, die dann in den Drehpausen neue Bekanntschaften untereinander schlossen. Die Ausstrahlung der Serie stößt insofern Gemeinschaftlichkeit an, als eine Publikumsgeneration, die nur noch schwer für das Fernsehen zu begeistern ist, über Snapchat und Instagram Handlung und Charaktere diskutiert.
Die drei Fernsehmacher*innen bieten düstere, komische und bewegende Geschichten über eine Gegend, die nicht gerade für ihre Emotionalität berühmt ist. Darüber hinaus inspirieren sie zum Nachdenken über die Veränderungen von Gemeinschaft nach dem Untergang der Arbeiterklasse, wie Thompson und Hoggart sie vor sechs Jahrzehnten beschrieben. Der Disziplinierungsdruck von außen ist seitdem diffuser, die Kohäsionsstiftung von innen schwieriger geworden. In einer differenzierten Gesellschaft lässt sich Gemeinschaft nur noch als Suche statt als Substanz verstehen. Doch gerade dafür eröffnen die Verflüssigung von Geschlechterrollen und die Präsenz unterschiedlicher Kulturen mehr Chancen, als es die Narrative des postindustriellen Niedergangs und des populistischen Brexitland wahrzunehmen erlauben. Insofern eröffnen Happy Valley und Ackley Bridge eine verhalten optimistische Perspektive, die um gemeinschaftliches Handeln kreist, ohne in Gemeinschaftsromantik zu verfallen.