Vor mehr als sechzig Jahren machten sich E.P. Thompson und Richard Hoggart in West Yorkshire auf die Suche nach Gemeinschaft in der Industriegesellschaft. Lässt sie sich dort auch noch heute finden? Zwei Fernsehserien geben Aufschluss.

  • Moritz Föllmer

    Moritz Föllmer lehrt Neueste Ge­schichte an der Uni­versität Amster­dam. Er be­schäftigt sich unter anderem mit der Ge­schichte der Indivi­dualität in Deut­schland und West­europa im 20. Jahr­hundert.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Auf der Suche nach Gemein­schaft. Zwei Fern­seh­se­rien über West Yorkshire
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Quelle: eightox.org

Wie ist in der modernen Gesell­schaft Gemein­schaft möglich? Die inter­es­san­testen Antworten auf diese Frage sind von undog­ma­ti­schen Linken formu­liert worden, insbe­son­dere in England, wo der Begriff anders als in Deutsch­land nicht mit einer rechts­ra­di­kalen Tradi­tion belastet ist. In seiner bis heute einfluss­rei­chen Studie The Making of the English Working Class (1963) zeigte der Sozi­al­his­to­riker E.P. Thompson, wie sich die Arbei­ter­schaft des frühen 19. Jahr­hun­derts in Vereinen und Gewerk­schaften zusam­men­fand, um dem doppelten Diszi­pli­nie­rungs­druck durch die Indus­tria­li­sie­rung und die protes­tan­ti­schen Kirchen eine selbst­be­stimmte commu­nity entge­gen­zu­setzen. In seinem ebenso einfluss­rei­chen, semi­au­to­bio­gra­fi­schen Buch The Uses of Literacy (1957) blickte Richard Hoggart zurück auf seine eigene Kind­heit im prole­ta­ri­schen Milieu der Zwischen­kriegs­zeit. Weniger auf Politik gerichtet als Thompson fand der Pionier der Cultural Studies Gemein­schaft­lich­keit in Chören, Blas­ka­pellen und Tauben­züch­ter­ver­einen, vor allem aber in der alltäg­li­chen nach­bar­schaft­li­chen Kommunikation.

Quelle: youthclubarchive.com

Beide Autoren beschrieben Lebens­formen, welche durch Moder­ni­sie­rungs­pro­zesse bedroht waren: die sich immer stärker durch­set­zende Logik des indus­tri­ellen Kapi­ta­lismus bei Thompson, der Vormarsch der kommer­zi­ellen Massen­kultur bei Hoggart. Sowohl der Sozi­al­his­to­riker als auch der Kultur­wis­sen­schaftler ließen sich auf die lokalen Perspek­tiven vermeint­li­cher Verlierer der Geschichte ein, die versuchten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – oder schlicht mit diesem zurecht­zu­kommen. Im Schluss­satz von The Making of the English Working Class dankte Thompson seinen Prot­ago­nisten für „years of heroic culture“. Hoggart, dem die Binnen­per­spek­tive des Arbei­ter­mi­lieus ebenso vertraut war wie die Rand­stän­dig­keit des begabten Schü­lers, äußerte sich skep­ti­scher. Ange­sichts innerer Span­nungen und Zwänge erklärte er, den Begriff der commu­nity mit seinen posi­tiven Konno­ta­tionen lieber vermeiden zu wollen. Gemeinsam war beiden der Bezug zu West York­shire: Thomp­sons Werk entstand während seiner Zeit an der Univer­sity of Leeds, während derer er sich eine umfas­sende Kenntnis regio­naler Quellen aneig­nete. Den auto­bio­gra­fi­schen Kern von Hoggarts The Uses of Literacy bildeten seine Kindheits- und Jugend­jahre in Hunslet, einem prole­ta­ri­schen Viertel südlich des Leeds City Centre.

Krimi­serie und Schulserie

Den eigenen gemein­schaft­li­chen Zusam­men­halt zu betonen, ist in West York­shire ebenso topisch wie in anderen ehema­ligen Indus­trie­pro­vinzen West­eu­ropas. Doch was ist davon im 21. Jahr­hun­dert tatsäch­lich übrig­ge­blieben? Eine feuil­le­to­nis­ti­sche Annä­he­rung ermög­li­chen die Krimi­serie Happy Valley und die Schul­serie Ackley Bridge. Happy Valley kreist um Sergeant Cathe­rine Cawood, die sich in einem dunklen Tal west­lich von Leeds so robust wie noncha­lant mit Klein­kri­mi­nellen und Drogen­süch­tigen herum­schlägt. Aus ihrem Berufs­alltag wird Cawood heraus­ge­rissen, als sie immer stärker in einen exis­ten­zi­ellen Zwei­kampf mit einem Schwer­ver­bre­cher gerät, der einst ihre Tochter verge­wal­tigte und diese damit in den Suizid trieb. Ackley Bridge ist der Name einer (fiktiven) post­in­dus­tri­ellen Klein­stadt, in der eine neu gegrün­dete Schule zuvor vonein­ander getrennte weiße und musli­mi­sche Jugend­liche inte­grieren soll. Verschie­dene Lehrer*innen versu­chen, eine bildungs­ferne und teil­weise bitter­arme Schü­ler­schaft, die gleich­zeitig nach ihrer eigenen Logik inter­agiert, so gut es geht zu unterrichten.

Upper Calder Valley; Quelle: wikipedia.org

Wie hat sich nun die regio­nale Gesell­schaft verän­dert, wenn man sich erlaubt, von diesen Fern­seh­se­rien statt von jour­na­lis­ti­schen Repor­tagen oder sozio­lo­gi­schen Studien auszu­gehen? Noch immer weiden Schafe auf grünen Hügeln, erin­nern Reihen­häuser aus gelb­grauem Sand­stein an das 19. Jahr­hun­dert, ist der Akzent ebenso ausge­prägt wie das Eigen­be­wusst­sein. Doch stehen diesen Konti­nui­täten tief­grei­fende Verän­de­rungen gegen­über: Markt­ori­en­tierte Moder­ni­sie­rungs­pro­jekte, insbe­son­dere von That­che­rismus und New Labour, haben aller Parti­zi­pa­ti­ons­rhe­torik zum Trotz den Raum für lokale Mitbe­stim­mung nach­haltig redu­ziert. Dieses Span­nungs­ver­hältnis zeigt sich an den Bemü­hungen der Schul­di­rek­torin, das als semi­au­to­nome academy orga­ni­sierte Ackley Bridge College finan­ziell über Wasser zu halten, zentrale Vorgaben zu erfüllen und gleich­zeitig einer hete­ro­genen Schü­ler­schaft gerecht zu werden. Die Einbin­dung in globale Märkte schlägt sich längst nicht mehr in Import und Verar­bei­tung von Baum­wolle, sondern in der Präsenz aller mögli­chen Wein­sorten und Auto­marken nieder – und in der Verbrei­tung von Drogen, deren zerstö­re­ri­sche Auswir­kungen in beiden Serien thema­ti­siert werden.

Titel­bild des Doku­men­tar­films Shed Your Tears and Walk Away (2009) über Drogen­ab­hän­gig­keit in Hebden Bridge. © Jez Lewis.

Ferner ist die Gegend seit den 1950er und 1960er Jahren multi­eth­nisch geworden. Noch wich­tiger als das sich in Chapel­town nörd­lich des Leeds City Centre bildende afro­ka­ri­bi­sche Viertel war die Einwan­de­rung aus Paki­stan aufgrund des Arbeits­kräf­te­be­darfs der regio­nalen Textil­in­dus­trie kurz vor deren finaler Krise. Die musli­mi­sche Minder­heit kommt in der Krimi­serie eher selbst­ver­ständ­lich und am Rande vor, während ihre Präsenz sich in der Schul­serie span­nungs­reich mit jugend­li­chen und auch erwach­senen Selbst­fin­dungs­pro­zessen überlagert.

Gemein­schaft oder Gemeinschaftlichkeit?

Bietet das lokale Gemein­schafts­be­wusst­sein noch Antworten auf die Heraus­for­de­rungen des 21. Jahr­hun­derts? Die Bilanz fällt zwie­spältig aus. In Happy Valley stößt die Polizei verschie­dent­lich auf Menschen, die vom Leben über­for­derte Außen­sei­ter­fi­guren regel­recht verla­chen, statt ihnen irgend­welche Unter­stüt­zung anzu­bieten. Die örtliche Veran­ke­rung der Insti­tu­tion zeigt sich daran, dass sie ein ihr wohl­ge­son­nenes Gemein­de­rats­mit­glied auch dann nicht der Staats­an­walt­schaft zuführt, wenn es ange­trunken einen Auffahr­un­fall verur­sacht und zudem ein Päck­chen Kokain bei sich trägt. Ackley Bridge verschweigt keines­wegs, dass einer­seits resi­duale Arbei­ter­kultur mit rassis­ti­scher Abgren­zung und ande­rer­seits musli­mi­sche Iden­tität mit selbst­ge­rechter Abschot­tung einher­gehen kann. Nicht bloß in dieser Hinsicht erin­nert die Serie zuweilen an Hoggarts Über­le­gungen zum Zusam­men­hang von Grup­pen­bil­dung und Konfor­mi­täts­zwang, wenn Fami­lien gegen­über der commu­nity den Anschein von Norma­lität zu wahren versu­chen und die Schü­ler­schaft Gerüchte oder verfäng­liche Bilder über soziale Medien verbreitet. Sowohl Happy Valley als auch Ackley Bridge deuten an, wie der Wohl­stands­zu­wachs der letzten Jahr­zehnte weite Teile der Bevöl­ke­rung entweder von vorn­herein ausge­lassen hat oder aber mit den eben­falls stei­genden Ansprü­chen – auf große Häuser oder Privat­schulen für die Kinder – nicht Schritt halten kann.

Gibt es ange­sichts dieser Gegen­sätze und Verwer­fungen über­haupt noch so etwas wie Gemein­schaft, die nicht auf Ressen­ti­ment hinaus­läuft? Womög­lich ist die Frage falsch gestellt, weil sie auf essen­tia­lis­ti­schen Voraus­set­zungen beruht. Hoggarts Zweifel an der empi­ri­schen Ange­mes­sen­heit des Begriffs wird von den Sozio­logen Matthias Grund­mann und Frank Osterloh geteilt, die zudem eine konzep­tio­nelle Alter­na­tive vorschlagen. Sie plädieren für eine rela­tio­nale und akteurs­zen­trierte Begriff­lich­keit, mit dem sich die „gemein­same Hand­lungs­praxis“ ebenso erfassen lässt wie „diver­gente Verge­mein­schaf­tungs­pro­zesse“. Was Grund­mann und Osterloh für dörf­liche Kontexte entwi­ckelt haben, lässt sich auf Polizei und Schule, Familie, Nach­bar­schaft und Freund­schaft über­tragen, wie sie in Happy Valley und Ackley Bridge geschil­dert werden.

Eine Poli­zistin, ein Lehrer­kol­le­gium und eine Kantinenfrau

Einsam und gemein­schaft­lich: Cathe­rine Cawood (Sarah Lancashire); Quelle: oldaintdead.com

In der Krimi­serie ist es vor allem Cathe­rine Cawood selbst, die im gemein­schaft­li­chen Sinne handelt. Gegen­über poli­zei­li­chen Hier­ar­chie und Krimi­nellen tritt sie – durchaus genre­ty­pisch, nur ohne die übliche masku­line Konno­ta­tion – als raubei­nige Indi­vi­dua­listin auf, die sich immer wieder über Regeln und Anwei­sungen hinweg­setzt. Gleich­zeitig schlägt die Frau in den Fünf­zi­gern die Brücke zwischen älterer Gemein­schafts­ethik und modernem Eman­zi­pa­ti­ons­an­spruch. Cawood fühlt sich gleich mehr­fach verant­wort­lich, ist jüngeren Kolle­ginnen eine Mentorin und bringt Prosti­tu­ierten Sand­wi­ches vorbei. Sie versucht, den Rück­fall ihrer Schwester in Alko­ho­lismus und Drogen­sucht zu verhin­dern und ihren verhal­tens­auf­fäl­ligen Enkel groß­zu­ziehen – den Sohn der verstor­benen Tochter und des Gewalt­ver­bre­chers, den unschäd­lich zu machen sie entschlossen ist. Unter der Last dieses Verant­wor­tungs­ge­fühls, das durch immer neue Wendungen auf exis­ten­ti­elle Proben gestellt wird, bricht Cawood beinahe zusammen. Sie verletzt die Gefühle anderer, erlebt Momente der Einsam­keit und Phasen der Depres­sion. Die Szenen der Harmonie sind hart erkämpft, wenn sie am Ende der zweiten Serie mit Schwester, Sohn und Enkel über die von stei­nernen Mäuer­chen durch­zo­genen Hügel läuft und dabei Tränen in den Augen hat.

Freund­schaft­lich und nach­bar­schaft­lich: Missy Both (Poppy Lee Friars) und Nasreen Paracha (Amy-Leigh Hickman); Quelle: testar.in

Im comedy-drama über die Schule dagegen ist gemein­schaft­li­ches Handeln poly­zen­trisch ange­legt. Verschie­dene Lehrer*innen bilden aus ihrer hete­ro­genen Klientel ein Shakespeare-Ensemble oder Rugbyteam und versu­chen unter Vernach­läs­si­gung der profes­sio­nellen Distanz alles, um Jugend­liche aus schwie­rigsten Verhält­nissen nicht zu verlieren. Die Kanti­nen­frau Kaneez Paracha hat ein Leben lang zwischen Punjabi-Tradition und eigenen Bedürf­nissen navi­giert und will ihrer Tochter Nasreen denselben Balan­ceakt ersparen. Sie unter­stützt sie, als der Grup­pen­druck unter musli­mi­schen Mädchen deren Freund­schaft zur charis­ma­ti­schen Nach­bars­tochter Missy zu sprengen droht, und nach anfäng­li­chem Schock auch noch dann, als Nasreen ihre lesbi­sche Sexua­lität offen­bart. Und es sind die Teen­ager selbst, die mit ihren kompli­zierten Fami­lien ringen, über kultu­relle und soziale Barrieren hinweg Freund­schaften schließen und sich zuneh­mend mit dem ökono­misch abge­hängten Ackley Bridge identifizieren.

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Sally Wain­w­right, Ayub Khan Din, Penny Woolcock

Mit Happy Valley hat die Dreh­buch­au­torin und Produ­zentin Sally Wain­w­right, intro­ver­tiert und nach eigener Aussage „fat and nort­hern“, den inter­na­tio­nalen Durch­bruch geschafft. Sie hat ihrer Verbun­den­heit mit West York­shire Ausdruck verliehen und ihren lang­jäh­rigen Einsatz für mehr weib­liche und ältere Haupt­rollen fort­ge­setzt. Der koope­ra­tive Produk­ti­ons­pro­zess brachte eine Reihe exzel­lenter Schauspieler*innen zusammen und ließ loca­tion manager, Kostüm­de­si­gner und Masken­bild­nerin viel Raum für eigene Initiativen.

Für Ackley Bridge gilt noch mehr, dass gemein­schaft­li­ches Handeln nicht nur in der Serie vorkommt, sondern auch hinter ihr steht. Dreh­buch­autor und Produ­zent Ayub Khan Din (East is East) schlägt einmal mehr die Brücke zwischen Minder­heits­er­fah­rungen und kultu­rellem Main­stream, diesmal auf der Grund­lage zahl­rei­cher Gespräche mit Jugend­li­chen aus der Region. Regis­seurin Penny Wool­cock, eine heraus­ra­gende Vertre­terin des sozial enga­gierten Spiel- und Doku­men­tar­films (unter anderem 1 Day und One Mile Away über Gangs in Birmingham), gibt ihr Seri­en­debüt. Für die Neben­rollen hat sie, wie für die meisten ihrer Projekte, junge Laien gecastet, die dann in den Dreh­pausen neue Bekannt­schaften unter­ein­ander schlossen. Die Ausstrah­lung der Serie stößt inso­fern Gemein­schaft­lich­keit an, als eine Publi­kums­ge­ne­ra­tion, die nur noch schwer für das Fern­sehen zu begeis­tern ist, über Snap­chat und Insta­gram Hand­lung und Charak­tere diskutiert.

Die drei Fernsehmacher*innen bieten düstere, komi­sche und bewe­gende Geschichten über eine Gegend, die nicht gerade für ihre Emotio­na­lität berühmt ist. Darüber hinaus inspi­rieren sie zum Nach­denken über die Verän­de­rungen von Gemein­schaft nach dem Unter­gang der Arbei­ter­klasse, wie Thompson und Hoggart sie vor sechs Jahr­zehnten beschrieben. Der Diszi­pli­nie­rungs­druck von außen ist seitdem diffuser, die Kohä­si­ons­stif­tung von innen schwie­riger geworden. In einer diffe­ren­zierten Gesell­schaft lässt sich Gemein­schaft nur noch als Suche statt als Substanz verstehen. Doch gerade dafür eröffnen die Verflüs­si­gung von Geschlech­ter­rollen und die Präsenz unter­schied­li­cher Kulturen mehr Chancen, als es die Narra­tive des post­in­dus­tri­ellen Nieder­gangs und des popu­lis­ti­schen Brexit­land wahr­zu­nehmen erlauben. Inso­fern eröffnen Happy Valley und Ackley Bridge eine verhalten opti­mis­ti­sche Perspek­tive, die um gemein­schaft­li­ches Handeln kreist, ohne in Gemein­schafts­ro­mantik zu verfallen.