In zwei Tagen wird ein Rechtspopulist neuer US-Präsident. Man sagt, er wurde demokratisch gewählt. Aber haben wir es beim amerikanischen Zwei-Parteiensystem überhaupt noch mit einer funktionierenden Demokratie zu tun? In den letzten Jahrzehnten bestand die Politik dieser beiden Parteien fast nur noch darin, sich unter Lähmung und Instrumentalisierung der demokratischen Institutionen gegenseitig zu blockieren und die nur noch präsidial durchsetzbaren Entscheidungen beim nächsten Machtwechsel rückgängig zu machen. Das wird auch jetzt passieren: Von der Gesundheitsreform über die Klimapolitik bis zu den diversen Handelsabkommen wird Trump alles kassieren oder entstellen, was Obama mühsam durchgeboxt hat.
Denn das Volk wollte es so. Trotz Clintons numerischen Vorsprungs im popular vote hat es Trump geschafft, bei genau den Wählergruppen zu punkten, von denen man glaubte, sie seien zumindest mehrheitlich gegenüber seinen Parolen immun: die Frauen, die weißen Arbeiter, die etablierte, gebildete Mittelschicht und sogar Migranten der zweiten Generation. Damit und mit einem republikanisch dominierten Kongress sitzt er fester im Sattel, als es Georg W. Bush je tat. Ausgerechnet jenes Elektoren-System, das ursprünglich Populismus und Demagogentum verhindern sollte, hat nun dazu beigetragen, eine diffuse, aber landesweite Unzufriedenheit mit den demokratischen Einrichtungen politisch zu kanalisieren. Hinzu kam jene neue, von Medienwissenschaftlern bereits zur fünften Gewalt geadelte digitale Öffentlichkeit, in der falsche Nachrichten vor allem verbreitet werden, um den politischen Gegnern das Verbreiten falscher Nachrichten vorwerfen zu können (von Trump soeben professionell vorgeführt). Das führt paradoxerweise dazu, dass sicherheitshalber erst einmal alles geglaubt, zumindest ernst genommen wird, was man im globalen Nachrichtendschungel raunen und zwitschern hört.
Der Bedeutungsverlust des repräsentativen Systems
Sicher ist die amerikanische Demokratie die älteste und stabilste der Moderne und nur wenige stellen sie in Frage. Dennoch überwiegt gerade bei dieser Wahl der Eindruck, dass es sich eigentlich gar nicht um eine demokratische Wahl gehandelt hatte, sondern um eine spektakuläre Volksabstimmung. Und gewonnen hat derjenige, der seinen Wahlkampf auch exakt so führte. Derjenige nämlich, der sich gerade in all seiner Unerfahrenheit und Inkompetenz als die einzige und wahre Stimme jenes Volkes darstellte, das sich weit unterhalb und diesseits aller staatlich-demokratischen Institutionen nur noch als deren hilf- und willenloses Objekt begreift und daher lautstark nach der Entmachtung seiner eigenen Vertretungsorgane ruft. Das aber zeigt eher einen grundlegenden Strukturwandel heutiger Demokratiewahrnehmung an, als den Sieg eines bestimmten und sei es radikalen politischen Meinungsmusters.
Und genau deshalb ist Trumps Sieg auch keine rein amerikanische Angelegenheit, sondern Teil eines auch in Europa wohlbekannten Phänomens: des schleichenden Bedeutungsverlusts der Demokratie als repräsentatives System – eines ausbalancierten Systems der politischen Selbst-Regierung pluraler Gesellschaften – zugunsten des archaischen Bildes vom ‚einen‘ Willen des ‚wahren‘ Volkes. Noch nie gab es so viele Volksabstimmungen wie heute – als sei die ‚Stimme des Volkes‘ das letzte Wort der Demokratie. Spätestens wenn sogar eine so urkonservative Partei wie die bayerische CSU die Forderung nach bundesweiten Referenden in ihr neues Grundsatzprogramm schreibt, und ausgerechnet Angela Merkel als die letzte Verteidigerin einer klassischen Kompromisspolitik erscheint, muss man sich ernsthaft fragen, wohin die moderne Demokratie heute steuert. Überall, so hat es den Anschein, wird ein Bemühen sichtbar, die Demokratie auf ihren archaisch-basalen Kern zurückzuschrauben: alle Macht geht vom Volke aus – und damit hätten jene Einrichtungen ausgedient, die dazu da sind, das niemals einheitliche Volk dennoch als Ganzes und eben deshalb anteilig und plural zu vertreten. Stattdessen: Volkes Wille und politische Führer, die diesen umsetzen. Der heimliche Slogan des gegenwärtigen Rufs nach mehr ‚direkter‘ Demokratie lautet: „weniger Demokratie wagen!“
Drei gefährliche Trends
Diese Einschrumpfung der Demokratie auf ihren plebiszitären Kern hat mit mindestens drei Entwicklungstendenzen der jüngsten Zeit zu tun. Zum einen hat in Europa die bewusste Beschränkung nationalstaatlicher Befugnisse und Kompetenzen im Zuge der Europäischen Einigung bei gleichzeitigem Ausbleiben einer wirklichen, verfassungs- und rechtspolitischen Vereinigung die Frage neu aufgeworfen, wer in der heutigen politischen Ordnung eigentlich noch der Souverän ist. Wo diese Frage aber aufkommt – das lässt sich aus Weimar lernen – ist der Ruf nach einem plebiszitären Führertum nicht mehr weit. Für das in fast allen Bereichen schon längst global vernetzte Amerika gilt im Grunde Ähnliches. Und hier brachte nichts den Gegensatz zwischen alter Demokratie und neuem Populismus frappierender zum Ausdruck als Obamas klassische, auf die Gründerväter und die Verfassung rekurrierende Abschiedsrede auf der einen Seite, und Trumps gleichzeitiges, völlig willkürliches Spiel mit Tweets, News und markigen Sprüchen auf der anderen. So etwas wie zu bewahrende nationale Versprechen, Werte und Interessen gibt es für den neuen Präsidenten nicht mehr. Er ist eben kein neuer Reagan oder Bush, sondern er versteht sich als die Stimme eines Volkes, dessen einzige Funktion darin besteht, ihm zuzustimmen. In diesem Sinne muss man ihm, so schwer es fällt, Charisma im Weberschen Sinne zusprechen: Seine gesamte politische Legitimität ist die ausseralltägliche Hingabe seiner Anhänger; weshalb er sie jeden Tag aufs Neue ‚überraschen‘ muss.
Eine weitere, zweite Ursache für die Sehnsucht nach der Einschrumpfung der Demokratie aufs Plebiszitäre hat mit der inzwischen langjährigen Erfahrung der Auflösung institutioneller Sicherheiten zu tun. Vom neoliberalen Abbau des Sozialstaats und den ökonomischen Krisen der jüngsten Vergangenheit, über die realen wie fiktiven Szenarien der Bedrohung durch Terror, Migration oder Islamisierung, bis zur technischen Beschleunigung alltäglicher Kommunikation und alltäglicher Lebensweisen sind die ernst zu nehmenden Zeichen eines fundamentalen historischen und gesellschaftlichen Wandels unverkennbar, dem die hergebrachten Institutionen des 20. Jahrhunderts immer weniger gewachsen scheinen. In Zeiten solcher Verunsicherung aber nach weiterer Sicherheit und Sicherung zu rufen, wie es derzeit politische Mode ist, heißt faktisch Öl ins Feuer zu gießen. Zumal Sicherheit heute fast nur noch die Sicherung gegen die Gefährdung durch Fremde und Kriminelle bedeutet, kaum aber mehr eine gemeinsame Anstrengung zur Sicherung der Lebensqualität, der sozialen Gerechtigkeit oder ökonomischer Stabilität. So kommt es, dass sich unsere Zukunftserwartungen in immer rascherem und absurderem Wechsel zwischen Science Fiction und Volkstümelei bewegen. Das Internet der Dinge, selbstfahrende Autos, Industrie 4.0 und die globale Klimarettung kommen unausweichlich und alternativlos auf uns zu – abzusichern ist diese grandiose Zukunft aber nur im banalen Alltag: mehr Videoüberwachung, härtere Strafen, schnellere Abschiebung, weniger Kopftücher, mehr Polizei, mehr Sicherheit.
Dabei haben Bedrohungsgefühl und Sicherheitsbedürfnis offenbar wenig mit der politischen Weltlage zu tun, sondern speisen sich vor allem aus der vorpolitischen Wahrnehmung einer Störung und Gefährdung unseres Alltags durch Menschen, die hier angeblich nicht hingehören, die uns kulturell, körperlich, sozial, ‚mental‘ oder ‚halt irgendwie‘ fremd sind. Doch diese vielzitierten Sorgen und Ängste der Bürger sind nicht der Grund für den Aufschwung des Populismus, sondern sein Produkt – Effekt eines Kurzschlusses zwischen banalem Alltagsrassismus und jenen Stimmen, die daraus im Namen des vorpolitischen Volkes Politik machen. Wer die so entstehenden Sorgen und Ängste der Bürger ‚ernst nimmt‘, nimmt schon längst niemanden mehr als Bürger ernst. Eben darauf bezog sich Obama, als er in seiner Abschiedsrede den engagierten Bürger, den ‚citizen‘, als den eigentlichen Souverän der Demokratie beschrieb, im Unterschied zu jenen, die sich nur noch als Anhänger und ‚follower‘ politisch engagiert fühlen – und es eben deshalb nicht sind.
Zum Dritten schließlich haben uns auch die digitalen Medien geradezu trainiert, die direkte, plebiszitäre Demokratie fälschlicherweise als die einzig mögliche wahrzunehmen. ‚Liken‘ und ‚Teilen‘ gilt heute vielen als eine Form der Partizipation am öffentlichen Diskurs, die schon aufgrund ihrer alltäglichen Praxis jenes Kreuzchen, das man alle paar Jahre mit einem Kugelschreiber in einer Wahlkabine macht, weit in den Schatten stellt. Zumal der Effekt auch unmittelbarer sichtbar ist. Je mehr die Algorithmen meine Interessen und Vorlieben erfassen, desto mehr kann ich mit Recht annehmen, meine Internetwelt eigentlich selbst zu schaffen und unmittelbar mitzuwirken am großen medialen Geschehen. Darin steckt ein Stück Selbstermächtigung, das sich gegen Alternativen fast automatisch abschottet und dennoch unmittelbare und direkte Partizipation suggeriert. Die Logik dahinter aber ist die Logik des Populismus. Wenn Dr. Google und Wikipedia den Arzt und den Lehrer zu ersetzen beginnen, wenn sich im Netz virtuelle Formen der religiösen, politischen oder sozialen Vergemeinschaftung herausbilden, und wenn sich in den sogenannten digitalen ‚Shitstorms‘ immer wieder eine völlig enthemmte Hetze Bahn bricht – dann drückt sich darin gerade nicht die kollektive Stimme einer neuen Sozialformation namens ‚Netzgemeinde‘ aus. Vielmehr ist auch hier das Medium die Botschaft: es geht um den Versuch, das soziale und politische Leben, soweit es nur geht, jenseits oder besser: diesseits der politischen Institutionen und öffentlichen Kommunikationsformen zu organisieren – mit Hilfe von anonymen Vermittlungstechnologien, die genau das ermöglichen und bewerben: zu ‚erleben, was verbindet‘.
Beim Ton der letzten Posaune…
Verbindung und Zusammenhalt aber, ob politisch oder sozial, setzt das sich Einlassen auf andere, fremde, alternative Positionen und Perspektiven voraus. Echte Politik beginnt dort, wo die eigenen Interessen aufhören und diejenigen der anderen im politischen Streit zu berücksichtigen sind. In der Leugnung dieses Zusammenhangs treffen sich die Liebhaber direkter Artikulation oder besser noch: Artikulatrie mit den selbsterklärten populistischen Führern. Das eigentlich Besorgniserregende dabei ist die globale Verbreitung dieser Ideologie, der weltweite Erfolg des medialen wie des rechten Populismus. Das eigentlich Erschreckende ist, dass Trump nur einer von vielen kommenden Trumps sein könnte. Und beim Ton der letzten Posaune – könnte das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen, gekommen sein.