Der Einzug der AfD in den Bundestag ist kein Grund zu feiern, keine Frage. Wir sollten aber aufpassen, aus der Enttäuschung heraus vorschnell einen „Rechtsruck“ herbeizureden und in Panik, Pessimismus oder gar zynischen Fatalismus zu verfallen. Ich bin 1978 in Köln geboren und wurde in den 1980er und 1990er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland sozialisiert. Unsere Generation ist mit den Brandanschlägen in Hünxe, Solingen, Mölln und mit den rassistischen Pogromen in Rostock und Hoyerswerda aufgewachsen. Wir haben miterlebt, wie in den „Wir sind das Volk“-Rufen der Wende und im schwarzrotgoldenen Fahnenmeer der Verbrüderung alle diejenigen vergessen wurden, die hüben wie drüben sowieso immer nur als „Ausländer“ galten, egal wie lange sie schon faktisch Mitbürger waren. Die schüchternen „Wir sind auch das Volk“-Rufe unserer Eltern wurden schlicht übergangen.

Der Vater und die Schwester des Autors bei einer Demonstration für das Bleiberecht von Asylbewerbern, Köln 1991; Quelle: Kölner Stadtanzeiger 1991, Privatbesitz
Diese Zeit war traumatisch für viele von uns. Um zu wissen, dass eine rassistische rechte Politik in Deutschland eine Wählerbasis von sicher mal 20% hat, musste ich nicht erst so alt werden, um die Einstellungsstudien der Sozialforschung zu verstehen. Dieser Anteil ist bis heute recht stabil. Hier gibt es keinen Rechtsrutsch, sondern vielmehr eine lange Kontinuität im rechten Bodensatz. Diese Leute waren immer da, auch vor meiner Zeit, und sind auch heute noch da. Vorher haben sie CDU, CSU, FDP und andere gewählt, oder nicht gewählt, heute zum Teil halt AfD. Man kann darüber streiten, inwiefern es einen Unterschied macht, ob es rechts der CSU noch eine Partei im Bundestag gibt oder nicht, bzw. welchen genau. Man müsste zum Beispiel genau im Blick behalten, welche staatlichen Ressourcen, Foren und Instrumente den Rechten nun neu zur Verfügung stehen. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass Franz-Joseph Strauß mit seiner Doktrin, es dürfe rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Partei mehr geben, vor allem die eigene Vormachtstellung in Bayern sichern wollte.
Die soziale Realität des Rassismus und Rechtsextremismus war nie weg. Und sie hatte mitnichten immer eine Glatze und Springerstiefel an. Verschwunden war sie nur für diejenigen, die das Privileg hatten, wegschauen, verdrängen und/oder vergessen zu können. Die Morde der NSU zwischen 2000 und 2007 und die skandalöse Schützenhilfe des Verfassungsschutzes haben den Rechtsextremismus der 1990er im neuen Jahrtausend fortgeführt, bis hin zu Sarrazin, Pegida und AfD. Vieles von dem was in der Zeit im Alltag an rassistischen und rechtsextremen Übergriffen passierte, ist längst nicht in die offiziellen Statistiken eingegangen. Trotz alledem hat sich Deutschland in vielerlei Hinsicht positiv verändert, was die Akzeptanz der Einwanderungsrealität und migrationsbedingter Vielfalt sowie Rassismuskritik angeht. Wer das nicht glaubt, soll mal mit People of Color reden, die in den 1960er/70er Jahren in der BRD gelebt haben, z.B. mit meinen Eltern, deren „gemischte“ Beziehung von vielen braven Bürgerinnen und Bürgern als Rassenschande angesehen wurden. Viele Dinge sind heute in Deutschland denkbar und möglich, von denen meine Eltern in den 1960/70ern und wir in den 1980/90ern nur träumen konnten.
Erkämpfte Fortschritte nicht vergessen
Diese Erfolge, die nicht vom Himmel gefallen sind, sondern erkämpft wurden, jetzt einfach zu vergessen, ist analytisch und strategisch falsch. Und es tut denjenigen Unrecht, die sich jahrelang für Verbesserungen eingesetzt haben. Das soll nicht heißen, dass die alte „Wir sind kein Einwanderungsland“-BRD gänzlich verschwunden ist – man denke nur an die fortlaufenden Verschärfungen des Asylrechts. Selbstverständlich gibt es auch neue Herausforderungen, etwa aufgrund des Internets und anderer globaler Entwicklungen. Aber selbst der heute so dominante antimuslimische Rassismus kam nicht erst nach 9/11 auf – auch dies kann ich als jemand bestätigen, der am Schwarzen Freitag der Iranischen Revolution geboren worden ist.
Die Entwicklungen in „postmigrantischen Gesellschaften“ sind, wie die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan zurecht feststellt, vorsichtig formuliert ambivalent oder vielmehr widersprüchlich, und zwar deswegen, weil die Frage, wer dazu gehört und wer nicht, symbolisch und institutionell umkämpft ist. Dass man über diese Frage heute streitet, ist ein großer Fortschritt gegenüber den 1990ern, wo die Kräfteverhältnisse diesbezüglich noch ganz anders gelagert waren. Vor diesem Hintergrund könnte man es durchaus auch als ein Zeichen der Schwäche der deutschen Rechten deuten, dass sie ihr Wählerpotenzial nicht bundesweit ausschöpfen konnte. Und das obwohl ihr die Parteien von links bis konservativ sowie vor allem die Medien wie üblich massiv zugearbeitet haben. Die AfD wurde im politmedialen Spektakelbetrieb vor lauter politischer Naivität, vor allem aber auch aufgrund der Ökonomisierung der Medienwelt überrepräsentiert: Quotenlogik, Absatz, Klickzahlen – all das favorisiert platte, skandalisierende, emotionalisierende Hetze, Schwarzweiss-Denken und allzu einfache Feindbilder.
Deutschland – Schweiz: Ein wechselseitiger Blick von außen
Manchmal ist es wichtig, ein bisschen Abstand zu den Dingen zu haben. Als Deutsch-Iraner, der als Arbeitsmigrant in der Schweiz lebt, würde ich sagen, dass der vergleichende Blick aus Deutschland in das kleine Nachbarland durchaus lehrreich sein könnte: In der Schweiz gibt es, wie der Politologe Claude Longchamp gezeigt hat, aller Unterschiede im politischen System zum Trotz wie in Deutschland einstellungsmässig eine ähnliche, d.h. fremdenfeindliche Wählerbasis von 20-25%. Anders als in Deutschland schafft es das Pendent zur AfD, die Schweizerische Volkspartei SVP, nicht nur regelmäßig bis zu 30% der Wählerstimmen zu holen. Für Volksabstimmungen mobilisiert sie mit hohem finanziellen Mitteleinsatz für flächendeckende Werbung, zusammengekaufter Medienmacht und dubiosen rechten Netzwerken nicht selten absolute Mehrheiten. Man müsste genauer untersuchen, in wie weit die Tatsache, dass es in Deutschland anders als in der Schweiz immer noch diskursive „rote Linien“ bzgl. rechtsradikaler Aussagen gibt, die Wählerinnen und Wähler in Deutschland etwas mehr als in der Schweiz darin bremst, sich für Parteien mit offenem Rassismus zu entscheiden. Allerdings wurde Roger Köppel quasi als Dauergast in deutsche Talkshows eingeladen, um – man könnte meinen wie ein Hassprediger – Dinge zu sagen, die in Deutschland sonst (noch) nicht einfach sagbar sind, getragen von dem (aus deutscher Sicht) harmlos-putzig klingenden Schweizer Akzent und der ganzen Autorität der „direkten Demokratie“.
Was man ohne Zweifel festhalten kann: In der Schweiz ist die Rechte seit Jahren überrepräsentiert und hegemonial. Wer meint – dies ist eher an LeserInnen aus der Schweiz gerichtet –, es gäbe da einen grundlegenden Unterschied zwischen der Ausrichtung der SVP und der AfD, sollte sich die Mühe machen, die politischen Programme aber auch die politische Praxis genau anzuschauen. Man denke hier an die unverhohlenen persönlichen Verleumdungen, um politische Gegner und kritische Stimmen mundtot zu machen, und an all die „Fake News“ und inszenierten Tabubrüche in parteinahen Medien wie der Weltwoche. Ein wichtiger Unterschied ist, dass die SVP es sich leisten kann, viel gelassener und weniger schrill aufzutreten. Das hat nicht nur etwas mit dem Schweizer Stil zu tun, bei dem es noch sachlich klingt, wenn geflüchteten Mitmenschen der letzte Rappen zum Leben geraubt wird, wie letzten Sonntag per Volksvotum in Zürich geschehen. Es hat auch mit dem Privileg zu tun, als finanzkräftige Partei aus dem Sessel der Macht heraus ruhig und gelassen bleiben zu können. Die AfD hingegen agiert aus der Wadenbeißer-underdog-Position heraus. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es selbstverständlich auch viele Unterschiede zwischen den Parteien, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten entstanden sind. Je nach Perspektive mag das eine oder andere betont werden; klar ist jedoch, dass längst eine transnationale Vernetzung der rechten Parteien existiert und funktioniert.
Europas Rechte und was gegen sie zu tun ist
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist nicht nur Propaganda-Expertise, sondern sind auch Gelder über die Grenze in den „großen Kanton“ geflossen. Dass die AfD umgekehrt permanent auf die Schweizer Volksmacht (in Form von Volksabstimmungen) als Vorbild verweist, zeigt, dass es zu kurz greift, nur auf die einzelnen Länder zu schauen. Die Rechte ist transnational vernetzt, und ebenso sollten das auch unser analytischer Blick, unsere politischen Allianzen und unser strategischer Erfahrungsaustausch sein. Wir sollten die aktuellen Entwicklungen europa- und weltweit sehr ernst nehmen, aber nicht in Angst erstarren. Die Rechte ist nicht übermächtig und unaufhaltbar. Fünf Monate in den USA, von wo ich gerade in die Schweiz zurückgekehrt bin, haben mir gezeigt, dass dies auch für Trumpland gilt. Selbst die SVP, das Zugpferd des europäischen Rechtspopulismus, scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Wie die Entwicklung weitergeht, hängt auch von unseren politischen Reaktionen ab. So sehr das Wahlergebnis schmerzt, eine nüchterne Analyse der Situation, der Chancen und Gefahren tut Not, um sinnvoll und effektiv Widerstand leisten zu können, in Deutschland wie der Schweiz und anderswo.

Werbung für die „Arsch huh“-Kampagne gegen Rechtsextremismus in Köln, 30.3.-27.8.2017; Quelle: wdr.de
Keine Panik, Freunde, aber Arsch huh, Zäng ussenander, wie schon 1992 in Köln, als 100’000 Leute auf dem Chlodwigplatz gegen Rechts ansangen. Ich war damals vierzehn Jahre alt und erinnere mich, dass diese geballte zivilgesellschaftliche Solidarität bei mir in Anbetracht des mörderischen Fremdenhasses in Deutschland einen schlimmeren emotionalen und psychologischen Schaden verhinderte. In den folgenden Jahren fand ich dann zunehmend, dass bürgerlich-liberale Lichterketten und derlei Aktionen und Bekenntnisse in Anbetracht des Alltagsrassismus, der einem häufig auch von Seiten derjenigen entgegenschlug, die „gegen Nazis“ und „für Multikulti“ waren, verlogen seien. Der strukturelle Rassismus in Deutschland kann eben nicht einfach an den rechten Rand delegiert und somit moralisch entsorgt werden. Heute würde ich sagen, an beidem ist irgendwie etwas Wahres dran. Große zivilgesellschaftliche Allianzen sind überlebenswichtig im Kampf gegen Rechts, aber eine gesunde Skepsis und kritische Wachsamkeit gegenüber „der Mitte“ sowie eine fundierte Rassismusanalyse auch. Am besten alles gleichzeitig.