In den öffentlichen und akademischen Debatten wurde Antisemitismus in den USA in den letzten Jahren häufig als ein Phänomen der Linken beschrieben. Eine Vielzahl von Vorfällen an (liberalen) Universitäten sowie die zunehmende Popularität der antiisraelischen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) wurden als Ausdruck eines linken Antizionismus kritisiert, der häufig auch Schnittstellen zu antisemitischen Diskursen aufweist. Dieser Fokussierung auf linke antisemitische Haltungen und Sichtweisen haben die zahlreichen gewalttätigen antisemitischen Vorkommnisse in den letzten Wochen und Monaten zumindest vorerst ein Ende gesetzt. Denn seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten hat die Zahl antisemitisch motivierter Gewalttaten in den USA drastisch zugenommen. Neben Hakenkreuzschmierereien, der Verwüstung jüdischer Friedhöfe sowie den zahlreichen Einschüchterungsversuchen und Drohungen gegenüber jüdischen Journalist_innen, aber auch anderen Jüdinnen und Juden, kam es zu zahlreichen Anschlagsdrohungen gegen Gemeindezentren und Schulen.

Vandalisierter jüdischer Friedhof, Philadelphia, Februar 2017; Quelle: dw.com
Trumps Flip-Flop gegenüber dem Antisemitismus
Anstatt sich dieser Ausweitung und Radikalisierung des Antisemitismus von Anfang an entgegenzustellen, weigerte sich Trump zunächst wiederholt, ein deutliches und klares Statement gegen Antisemitismus abzugeben. Stattdessen bezichtigte er einen jüdisch-orthodoxen Journalisten der Lüge, der es auf einer Pressekonferenz gewagt hatte, ihn auf den sich ausbreitenden Antisemitismus anzusprechen. An anderer Stelle verdächtigte Trump im Stile antisemitischer Verschwörungstheoretiker gar Juden und Jüdinnen hinter den antisemitischen Vorfällen zu stehen, um auf diese Weise seine Präsidentschaft zu diskreditieren.
Ende Februar sprach sich Trump dann erstmals auf einer Pressekonferenz öffentlich gegen Antisemitismus aus und bezeichnete die Vorkommnisse und Angriffe als „entsetzlich“. Zugleich versprach er im üblichen Duktus, sich während seiner Präsidentschaft dafür einzusetzen, „Hass und Vorurteilen und dem Bösen“ den Nährboden zu entziehen. Während eine solche, wenn auch vorsichtige Verurteilung des Antisemitismus sicherlich zu begrüßen ist, hat sie vor dem Hintergrund des von Trump geführten Wahlkampfes zumindest einen faden Beigeschmack. Wiederholt hatte er auf antisemitische Verschwörungsnarrative zurückgegriffen und damit den Antisemitismus im rechten politischen Lager befeuert. So bezichtigte er seine Widersacherin Hillary Clinton in einer Wahlkampfrede, die Souveränität der USA zu unterminieren: „Hillary Clinton meets in secret with international banks to plot the destruction of U.S. sovereignty in order to enrich these global financial powers, her special interest friends and her donors.” In dem letzten Werbespot seiner Wahlkampagne machte Trump dann auch explizit deutlich, um wen es sich seiner Meinung nach bei den ‚internationalen Finanzeliten‘ handelte: um Juden und Jüdinnen. So wurden in dem Spot George Soros, Janet Yellen und Lloyd Blankfein in den Momenten eingeblendet, als Trump von der „global power structure“ und ‚dem Establishment‘ fabulierte, das für die angebliche Misere der ‚einfachen‘ Bevölkerung in den USA verantwortlich sei. Auch mit der Ernennung von Steve Bannon zu seinem (unterdessen offenbar in Ungnade gefallenen) Chefberater trug Trump wesentlich dazu bei, Antisemitismus in konservativen Kreisen jenseits des rechtsradikalen Spektrums salonfähig zu machen.
Exceptionalism und Antisemitismus
Dass der von Trump mehr oder weniger offen antisemitisch geführte Wahlkampf in den USA erfolgreich war und er diesen Kurs auch nach seinem Amtsantritt fortführte, hat viele Beobachter_innen überrascht. Die Ursache dafür liegt u.a. auch in der bis heute dominanten These des ‚American Exceptionalism‘, die besagt, dass Antisemitismus in den USA, im Gegensatz zu Europa, historisch keine signifikante Wirkung habe erzielen können. Es ist unbestritten richtig, dass Antisemitismus im späten 19. sowie im 20. Jahrhundert in den USA bei weitem nicht eine derart gewalttätige und tödliche Potenz entfaltet hat wie in Europa, und zur Abwehr geschichtsrevisionistischer und antiamerikanistischer Deutungen und Narrative ist es auch wichtig, diese bedeutende Differenz zu betonen. Doch verstellt die These des ‚American Exceptionalism‘ mitunter den Blick auf die Existenz und die Effekte antisemitischer Diskurse in der Geschichte der USA, denn es lassen sich auch hier antisemitische Verschwörungsnarrative bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Bereits während des Bürgerkriegs galten Juden sowohl im Norden als auch im Süden als unpatriotische Profiteure des Krieges. Diese antisemitischen Vorurteile führten mitunter zu diskriminierenden Maßnahmen und in den Jahren nach Kriegsende entstanden bereits vereinzelt Ansätze antisemitischer Verschwörungsnarrative. So wurde Juden zum Beispiel vorgeworfen, zu ihrem eigenen ökonomischen Vorteil und durch den Einsatz monetärer Mittel Einfluss auf die Kriegsführung der Unionstruppen ausgeübt zu haben.
Allerdings entwickelte dieser Antisemitismus während des Bürgerkriegs und in den Jahren danach zunächst eine geringe Wirkmacht. Dies sollte sich am Ende des 19. Jahrhunderts ändern. Vor dem Hintergrund gravierender ökonomischer Probleme weiter Teile des Agrarsektors fanden Verschwörungstheorien große Verbreitung unter (weißen) Farmern. So identifizierten diese zum Beispiel eine vermeintlich von „den Rothschilds“ und „Shylocks“ ausgehende finanzielle Verschwörung gegen die Farmer als Ursache des Preisverfalls agrarischer Produkte in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Zudem sahen sie in Juden die heimlichen Regenten der USA, welche die Politik wie auch die Medien aus dem Hintergrund kontrollieren und damit die republikanische Ordnung der USA erodieren würden. Zumindest in einigen Bundesstaaten wie Louisiana oder Mississippi führte die Idee einer jüdischen Verschwörung, die in Diskurse der White Supremacy eingebettet war, zu Einschüchterungen und Gewalttaten gegenüber dort lebenden Juden und Jüdinnen.
Leo Frank – ein Mord am Beginn des kohärenten Antisemitismus

Leo Frank (1884-1915); Quelle: georgiainfo.galileo.usg.edu
Eine zentrale Stellung innerhalb der Geschichte des Antisemitismus in den USA nimmt der Leo Frank Case ein. Am 26. April 1913 war eine junge, angloamerikanische Lohnarbeiterin auf dem Gelände der von Leo Frank geleiteten Fabrik ermordet aufgefunden worden. In einem zweifelhaften Indizienprozess wurde Frank zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde jedoch später vom damaligen Gouverneur von Georgia, John M. Slaton in lebenslängliche Haft umgewandelt. Um diesen Mordfall entspannten sich hitzige Debatten, in denen rassifizierte Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen eine enorme Wirkmacht entfalteten. Im Verlauf der antisemitischen Affäre wurde allerdings nicht nur die antisemitische Vorstellung von einer ‚perversen‘ jüdischen Sexualität weit über die gesamten USA gestreut – so sollten Orgien und Vergewaltigungen in der von Frank geleiteten Fabrik stattgefunden haben – vielmehr kam es auch zu qualitativen Transformationen des Antisemitismus. Zuvor lose nebeneinander bestehende antisemitische Diskursstränge wurden zu einer kohärenten antisemitischen Welterklärung verflochten.
Für die weitere Geschichte des Antisemitismus in den USA sollte der Leo Frank Case aber auch in anderer Hinsicht eine bedeutende Rolle spielen. Die Neugründung des Ku Klux Klan (KKK) ist aufs engste mit dem Fall verknüpft: Sie erfolgte nur wenige Wochen nach dem Lynching an Leo Frank durch einen Mob, zu dem auch Rechtsanwälte und ein Staatsanwalt gehörten. Mit dem rasanten Aufstieg des Klan seit den frühen 1920er Jahren zur ersten Massenorganisation in den USA mit dezidiert antisemitischer Programmatik und Stoßrichtung wurde dieser neuartige moderne Antisemitismus über die gesamten USA verbreitet und beeinflusste die Weltsicht von Millionen von US-Amerikaner_innen. Ein weiterer bedeutender Akteur dieser rasanten Expansion des Antisemitismus war der Großindustrielle Henry Ford, der über den in seinem Besitz befindlichen Dearborn Independent die Protokolle der Weisen von Zion in den USA verbreitete und damit eine derartige Massenwirkung erzielte, dass er von Adolf Hitler in Mein Kampf als „seine Inspiration“ bezeichnet wurde.
Generell lässt sich für die 1920er bis 1940er Jahre mit dem Historiker Robert Michael festhalten, dass wesentliche Teile der US-Gesellschaft von antisemitischen Sichtweisen durchdrungen waren. Und obwohl der Antisemitismus in den USA auch zu dieser Hochphase nur selten zu Angriffen auf Leib und Leben führte, hatte er dennoch tödliche Konsequenzen für die auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus befindlichen Jüdinnen und Juden. Vielen von ihnen wurde die Einreise in die USA und damit die Rettung vor der antisemitischen Raserei in Europa verweigert.

Keine Landeerlaubnis in den USA: jüdische Flüchtlinge auf der „St. Louis“, 1939; Quelle: immigrationtounitedstates.org
Auch das Ende des Zweiten Weltkriege führte keineswegs zu einem Bruch mit antisemitischen Einstellungen wie sich z.B. in den Debatten um den de facto Jüdinnen und Juden diskriminierenden Displaced Persons Act von 1948 zeigte. Auch zwei nationale Umfragen, die im Jahre 1964 und 1981 durchgeführt wurden, verweisen auf ein hohes Niveau an antisemitischen Einstellungen und Haltungen. So gaben 1964 46% der Befragten an, dass sich Juden und Jüdinnen dubioser Geschäftspraktiken bedienen würden, 1981 waren es immerhin noch 22%. Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 2002 wiederum ergab, dass 65 Millionen US-Amerikaner_innen glaubten, dass Juden Jesus Christus umgebracht hätten, 58 bzw. 48 Millionen waren davon überzeugt, dass Juden die Wall Street bzw. die Medien kontrollieren würden.
Obwohl antisemitische Vorurteile also auch nach dem Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und politischen Lagern zirkulierten, wurden diese von Politiker_innen selten öffentlich verwendet. So griff zwar Richard Nixon, der 37. Präsidenten der USA, der das Land von 1969 bis 1974 regierte, in Gesprächen mit Beratern und politischen Vertrauten wiederholt auf antisemitische Topoi zurück. Allerdings geschah dies immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit, was u.a. dazu führte, dass diese Aussagen erst in den letzten Jahren über alte Tonbandaufnahmen publik wurden.
Eine Ausnahme hiervon bildeten rechtsradikale und neonazistische Gruppierungen und Organisationen wie die Christian Nationalist Party, die Aryan Nations oder der Ku Klux Klan. Diese propagierten auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin offen einen militanten Antisemitismus und schreckten auch vor Gewalttaten nicht zurück. So verübten White Supremacists zum Beispiel im Jahre 1958 einen Bombenanschlag auf den Atlanta Reform Temple, da sie in Juden Triebkräfte der Bürgerrechtsbewegung sahen.
Kontinuitäten und Modifikationen
Der während der Präsidentschaft Donald Trumps zunehmende oder zumindest deutlicher sichtbare Antisemitismus gründet also auf einer langen Geschichte des Antisemitismus und einer weiten Verbreitung des Antisemitismus in den USA. Auch ist Trump mitnichten der erste Präsident im Weißen Haus, der antisemitische Sichtweisen vertrat. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hat Donald Trump aber in seinem gegen das ‚Establishment‘ in Washington gerichteten Wahlkampf bewusst und massenmedial auf antisemitische Verschwörungsnarrative gesetzt und sich nicht gescheut, den Schulterschluss mit der radikalen und neonazistischen Rechten in den USA zu suchen. Auch wenn Donald Trump mit der Entmachtung Steve Bannons den Einfluss des offen antisemitischen Lagers wieder geschwächt hat, hat er zumindest in zweifacher Hinsicht dazu beigetragen, das Gefahrenpotenzial des in den USA, und insbesondere in der radikalen und neonazistischen Rechten, auch schon vor seinem Wahlkampf existenten antisemitischen Ressentiments zu steigern. Zum einen indem er dazu beigetragen hat, offen antisemitische Sichtweisen salonfähig zu machen, zum anderen weil rechtsradikale und neonazistische Gruppierungen in Trump einen Verbündeten und Gesinnungsgenossen sehen.