Aus den Reihen der AfD war in den letzten Jahren immer wieder zu hören, man solle in der Geschichtsschreibung nicht auf die Nazi-Herrschaft fokussieren, sondern öfter mal andere Kapitel der deutschen Geschichte aufschlagen – Kapitel, in denen das Positive zu Tage tritt. Als Beispiel wird gerne die Ära der deutschen Romantik genannt. So sagte der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider 2017 im Landtag von Sachsen-Anhalt: „In der deutschen Romantik finden wir Deutschen zu uns selbst. Die deutsche Romantik ist die Entdeckung des Volksgeistes und die Entdeckung der Nationalkultur, was erklärt, weshalb sie an Schulen und Universitäten heute kaum noch eine Rolle spielt. Umso wichtiger sind Institutionen außerhalb des staatlichen Bildungsbetriebes, die sich der Romantik annehmen.“
Videozusammenfassung von und mit Jörg Scheller
Schon im Jahr 2016 hatte der völkische Flügel der AfD verlautbart: Was mit „Fug und Recht“ als deutsch gelten könne, das seien „die deutsche Sprache, die deutsche Romantik, der deutsche Idealismus“. Jüngst steckte sich der mittlerweile aus der AfD ausgetretene rechtsradikale Politiker André Poggenburg eine blaue Kornblume ans Revers – gemeint sei selbstredend nicht das gleichartige Nazi-Symbol, sondern die blaue Blume der deutschen Romantik, mithin ein Symbol, das der Dichter Novalis in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1800) einführte.
Das „Volk“ der Romantik
Novalis ist es vielleicht auch, den Tillschneider vor dem geistigen Auge hatte, als er die deutsche Romantik mit Volksgeist und Nationalkultur identifizierte. Denn von Novalis stammt der wohl erste Versuch, die Deutschen durch das massenhaft verbreitete Bild einer charismatischen Identifikationsfigur als Volk und Nation zu einen. In seiner Schrift Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798) schlägt der Adelsspross vor, das Porträt der Königin Luise von Mecklenburg-Strelitz in allen deutschen Haushalten aufzuhängen, um für „ächte[n] Patriotism“ zu sorgen. Novalis’ ästhetischer Pluralismus – Gedichte bezeichnete er, die modernistische Fragment-Ästhetik antizipierend, als „Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen“ – wird somit begleitet von schwachen Vorzeichen eines charismatischen Totalitarismus. Allerdings weiss man bei den formal schwer zu verortenden Textfragmenten der Frühromantiker nur selten, ob spezifische Formulierungen als politische Äußerungen der Autoren oder als ästhetische Capriccios zu verstehen sind – es sei denn natürlich, man heisst Tillschneider.
Würden die Deutschromantiker der AfD die deutsche Romantik tatsächlich ernst nehmen, ja würden sie deren Empirie auch nur halbwegs durchdrungen haben, so könnten sie in der gleichen Ära genauso gut die Wegbereiterin von Gender, Gleichstellung, Transkulturalität, Relativismus und Entgrenzung erkennen: Goethe lobte Amerika und verfasste den West-östlichen Divan („Und wer franzet oder britet, / Italienert oder teutschet: / Einer will nur wie der Andre, / Was die Eigenliebe heischet“), Schelling ehelichte die emanzipierte, zwölf Jahre ältere Caroline Schlegel, Heine polemisierte gegen deutschen Nationalismus und prophezeite „brutale germanische Kampflust“, Friedrich Schlegel schrieb „alle Wahrheit ist relativ“ und behauptete: „Überhaupt übertrifft Asien Europa bei weitem an Reichtum und Größe.“
Die Vertreter der deutschen Romantik waren, daran besteht kein Zweifel, ein hochgradig hybrider Haufen von polyamourösen Vagabunden, reaktionären Esoterikern, religiösen Wendehälsen, mystischen Freigeistern, zarten Dichterseelen, hippiesken Träumern, aufklärerischen Progressisten, nationalpatriotischen Hardlinern und ulkigen Bohemiens. Als Individuen wie auch als Gruppe verkörpern sie eine Heterogenität, wie sie die AfD heute ablehnt: Sie stehen für eine hybride, verworrene, komplexe Zeit, eine Zeit voller Ambivalenz und Diversität, eine Zeit, die sich selbst gegenüber reflexiv und damit fremd wird.
Wenn Tillschneider dementgegen unterstellt, dass eine Zu-sich-selbst-Findung der Deutschen in der Romantik den Kern des heutigen Deutschseins bilden könne, so zeigt er aufs Vortrefflichste, dass die AfD keine „Volkspartei“ ist und auch keine Volkspartei, also eine integrative Partei, sein kann. Wie die Partei nur einen Teil der heutigen Deutschen, nämlich ihre eigene Anhängerschaft, zu „dem“ deutschen Volk erklärt, so erklärt Tillschneider nur einen Teil der deutschen Romantik zu „der“ deutschen Romantik. Gemeint ist jene Romantik, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine nationale, konservative und traditionalistische Wende erfuhr. Der Rest wird ausgegrenzt oder totgeschwiegen.
Die klientelistischen Romantik-Exegeten der AfD fabrizieren sich ihre tagespolitikgerechte Romantik und blenden aus, dass der nationale „Volksgeist“, der da in der Romantik erwacht, äusserst polyphon war. Zwar war die Nationalbewegung Mitglied dieses Chors, ihre Stimme war laut und kräftig – immerhin galt es, gegen den kriegslüsternen Napoleon anzusingen. Aber da waren noch andere Stimmen, die sie wie in einem Kanon begleiteten und mitunter überlagerten.
Schlegel als Genderplayer
Ausgerechnet einer der wirkmächtigsten Protagonisten der deutschen Romantik, kein Geringerer als Friedrich Schlegel, tat sich als Genderprogressivist hervor. So schrieb er 1799 in einem Brief an seine Geliebte Dorothea, der 1800 in der Zeitschrift Athenäum publiziert wurde: „In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit.“
Ein solcher Satz aus dem Munde eines AfD-Politikers – undenkbar. Ebenso der folgende: „Die Frauen müssen wohl prüde bleiben, so lange Männer sentimental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fordern.“ Oder dieser: „Bey dem jetzigen Verhältniß der Familie kann die Republik gar nicht statt finden.“ Für Schlegel galt, dass Männer und Frauen zwar nicht dasselbe sind oder dasselbe werden sollen. Doch sie sollten „voneinander lernen, indem der männliche Part seine weiblichen Elemente, der weibliche hingegen seine männlichen entdeckt und stärker ausprägt“ (Birgit Rehme-Iffert, 2001).
Die AfD hingegen ist angetreten, mit postmodernem Relativismus und „Gender-Gaga“ Schluss zu machen, denn: „Wo ,Gleichstellung‛ steht, ist ‚Gleichschaltung‛ nicht weit“, so der AfD-Politiker und Geisterwissenschaftler Marc Jongen. Gemäss Parteilinie wirkt der postmodern-sozialkonstruktivistische Hokuspokus des „Genderismus“ zersetzend, ja er zerstört die traditionelle Familie als Grundeinheit der guten Gesellschaft und des guten Staates. Folglich verficht die AfD trotz sporadischer libertärer Anwandlungen ein weitestgehend essenzialistisches, binäres Verständnis der Geschlechter.

Quelle: Serie von Eric Jarosinski auf Twitter
Street Credibility als Vorkämpfer für Gleichberechtigung hat ihr politisches Personal, wenig überraschend, nicht vorzuweisen; Kritik an Gewalt gegen oder Diskriminierung von Frauen wird aus ihren Reihen meist nur dann laut, wenn sie gegen Nicht-Deutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund gerichtet werden kann. Von Friedrich Schlegel könnte die AfD indes lernen, dass Impulse für die spätere Gendertheorie bereits um 1800 von deutschen Romantikern und Romatikerinnen ausgingen. Aber dafür gälte es eben, überhaupt erst denken und lernen zu wollen, anstatt zu meinen und zu ideologisieren. Dass die AfD hinter Schlegel zurückfällt, zeigt, dass sie keine konservative, sondern eine regressive Partei ist.
Postmoderne Angriffe bei Tieck
Auch der romantische Autor Ludwig Tieck passt nicht ins Raster des nationalistisch-völkischen Zu-sich-selbst-Kommens. Tieck war zwar ein Patriot, aber ein kritischer und ambivalenter. 1816 skizzierte er seine schwer greifbare Position in einem Brief an Karl Wilhelm Ferdinand Solger: „Sie sehn hier meine Hypochondrie, […] die mich seit zwanzig Jahren dahin bringt, den Verächtern der Deutschen als ein Enthusiast und fanatischer German, und den leeren vaterländischen Sanguinikern und blinden Patrioten […] als ein kalter, unentschlossener Mensch zu erscheinen, der nicht fähig ist, der guten Sache beizutreten.“
Nicht nur hinsichtlich seiner differenzierten politischen Position, auch hinsichtlich seiner künstlerischen Handschrift dürfte Tieck nicht nach dem Geschmack der AfD sein. So verwandte sich Tillschneider mit Blick auf Theaterstücke gegen eine „Formlosigkeit, die keinen Begriff für Stil kennt“. Und aus Sicht seines Kollegen Gottfried Backhaus dient Theater schlicht „der Nationalbildung“. In Tiecks Werk sind dagegen so ziemlich alle Stilmittel, die die Partei als postmoderne Angriffe auf die hohe Kunst verunglimpft hat, angelegt.
Ein Paradebeispiel für einen Angriff auf jene „strenge“ Form, die Tillschneider sich wünschen würde, bietet Tiecks mit damaligen Mitteln unaufführbares und selbst für heutige Begriffe bizarres Anti-Bühnenstück Prinz Zerbino. Ein deutsches Lustspiel in sechs Akten (1799). Unter anderem treten auf: „Ein Jäger“, „ein Andrer“, „Fremder Doktor“, „Simonides“, „Stallmeister / Der Hund“, „Satan“, „Einige Andere“, „Marionetten (König und Königin)“, „die Genien“, „der Wald“, „Rosen“, „die Gebüsche“, „das Himmelblau“, „Dante“, „Hans Sachs“, „die Blumen“, „Sophokles“, „ein Schrank“, „der Braten“, „die Berggeister“, „Nathanael von Malsinski“, „Einige in der Nation“, „die Nation“ sowie „Alle“. Auf der Bühne wird über die Bühne gesprochen und die „vierte Wand“ wird beständig durchbrochen. Typische Dialoge verlaufen wie folgt:
LEANDER. Ist es erlaubt, den Prinzen Zerbino zu besuchen?
ARZT. Nein, mein Herr, er läßt sich jetzt nicht sprechen.
LEANDER. Warum nicht?
ARZT. Ich habe ihn mit viel Mühe zum Schlafen gebracht.
LEANDER. Ich spräche ihn gar zu gern,
SICAMBER. Was haben Sie an ihn.
LEANDER. Ich habe hier ein Buch geschrieben, das ich ihm dezidieren und vorlesen möchte. Es ist ganz eigen für seinen Zustand eingerichtet.
CURIO. Wie heißt es denn?
LEANDER. GRUNDSÄTZE DER KRITIK und ist in zwei Bänden abgefaßt. Es soll dazu dienen, die gespannte Phantasie wieder etwas herabzustimmen, den Verstand aufzuklären, indem wir das Unförmliche einsehn, und uns so in der Poesie unvermerkt zum Klassischen und Vollendeten führen.
CURIO. Nun, das ist ein wahrlich christlicher Vorsatz.
HANSWURST. Man soll den Prinzen schnell aufwecken, damit man ihn in den Schlaf lesen könnte, so kam‘ er doch zur Ruhe.
Man stelle sich vor, dieses durch und durch verspulte Stück würde heute, da endlich die erforderlichen technischen Mittel zur Verfügung stehen, anonym oder unter Pseudonym aufgeführt werden – ein Großteil der AfD-Kulturexperten würde sich vermutlich über den Niedergang des Theaters infolge postmoderner Spielereien, Frivolität, Albernheit und Dekonstruktion echauffieren, würde nach mehr Ernsthaftigkeit, mehr Heroismus, nach mehr männlicher Größe, kurz: nach weniger deutscher Romantik, wie sie wirklich war, rufen.
Eichendorff on the road
Joseph Freiherr von Eichendorff schliesslich verfasste mit der Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) die Blaupause für jenen Lebensstil, den AfDler gerne mit Vokabeln wie „verlottert“ oder „versifft“ bedenken. Ein anonymer Amazon-Rezensent schrieb 2017 treffend über das Buch: „Before Kerouac there was Eichendorff, the first classic on the road romantic story.“ Aber, so würden AfD-Nationalromantiker erwidern, es könne doch nicht bestritten werden, dass es Eichendorff immer auch um die Heimat zu tun war! Kämpfte er nicht tapfer im Lützower Freikorps gegen Napoleon? Man denke überdies an sein Gedicht Die Heimat, wo das „geheime Singen“ der Heimat auf den fernen Wegen des lyrischen Ichs niemals verstummt! Wohin es auch geht, das Heimweh folgt ihm. Genau so ist es. Heimweh ist nicht gleich Heimat.
Dazu schrieb ausgerechnet Rüdiger Safranski, der zwar kein AfD-Mitglied ist, aber anschlussfähige Positionen an den liberal- wie auch nationalkonservativen Flügel der Partei vertritt: „Die Hingabe ans unendlich aufgeschobene Reiseziel ist das Einverständnis mit der unendlich aufgeschobenen Sinnerfüllung. Eichendorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt.“ Die AfD indes erträgt den Aufschub nicht. Sie will Erfüllung. Klarheit. Eindeutigkeit. Somit ist die Partei tatsächlich, wie Marc-Felix Serrao, auch er alles andere als ein linker Hyperprogressist, einmal treffend in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, „inländerfeindlich“. Sie betreibt eine zweite Teilung Deutschlands, indem sie eine Mauer durch die Romantik zieht. Die Romantik der AfD ist eine antideutsche Romantik.