Zu den geschichtspolitischen Strategien der AfD gehört die Selbstverlängerung in die Romantik. Kaum etwas könnte beim näheren Hinsehen absurder sein, denn in der Romantik sieht man alles, was die AfD gerne ausschliessen würde.

  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de

Aus den Reihen der AfD war in den letzten Jahren immer wieder zu hören, man solle in der Geschichts­schrei­bung nicht auf die Nazi-Herrschaft fokus­sieren, sondern öfter mal andere Kapitel der deut­schen Geschichte aufschlagen – Kapitel, in denen das Posi­tive zu Tage tritt. Als Beispiel wird gerne die Ära der deut­schen Romantik genannt. So sagte der AfD-Politiker Hans-Thomas Till­schneider 2017 im Landtag von Sachsen-Anhalt: „In der deut­schen Romantik finden wir Deut­schen zu uns selbst. Die deut­sche Romantik ist die Entde­ckung des Volks­geistes und die Entde­ckung der Natio­nal­kultur, was erklärt, weshalb sie an Schulen und Univer­si­täten heute kaum noch eine Rolle spielt. Umso wich­tiger sind Insti­tu­tionen außer­halb des staat­li­chen Bildungs­be­triebes, die sich der Romantik annehmen.“ 

Video­zu­sam­men­fas­sung von und mit Jörg Scheller

Schon im Jahr 2016 hatte der völki­sche Flügel der AfD verlaut­bart: Was mit „Fug und Recht“ als deutsch gelten könne, das seien „die deut­sche Sprache, die deut­sche Romantik, der deut­sche Idea­lismus“. Jüngst steckte sich der mitt­ler­weile aus der AfD ausge­tre­tene rechts­ra­di­kale Poli­tiker André Poggen­burg eine blaue Korn­blume ans Revers – gemeint sei selbst­re­dend nicht das gleich­ar­tige Nazi-Symbol, sondern die blaue Blume der deut­schen Romantik, mithin ein Symbol, das der Dichter Novalis in seinem Roman­frag­ment Hein­rich von Ofter­dingen (1800) einführte.

Das „Volk“ der Romantik

Novalis ist es viel­leicht auch, den Till­schneider vor dem geis­tigen Auge hatte, als er die deut­sche Romantik mit Volks­geist und Natio­nal­kultur iden­ti­fi­zierte. Denn von Novalis stammt der wohl erste Versuch, die Deut­schen durch das massen­haft verbrei­tete Bild einer charis­ma­ti­schen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur als Volk und Nation zu einen. In seiner Schrift Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798) schlägt der Adels­spross vor, das Porträt der Königin Luise von Mecklenburg-Strelitz in allen deut­schen Haus­halten aufzu­hängen, um für „ächte[n] Patrio­tism“ zu sorgen. Novalis’ ästhe­ti­scher Plura­lismus – Gedichte bezeich­nete er, die moder­nis­ti­sche Fragment-Ästhetik anti­zi­pie­rend, als „Bruch­stücke aus den verschie­den­ar­tigsten Dingen“ – wird somit begleitet von schwa­chen Vorzei­chen eines charis­ma­ti­schen Tota­li­ta­rismus. Aller­dings weiss man bei den formal schwer zu veror­tenden Text­frag­menten der Früh­ro­man­tiker nur selten, ob spezi­fi­sche Formu­lie­rungen als poli­ti­sche Äuße­rungen der Autoren oder als ästhe­ti­sche Capric­cios zu verstehen sind – es sei denn natür­lich, man heisst Tillschneider.

Würden die Deutschro­man­tiker der AfD die deut­sche Romantik tatsäch­lich ernst nehmen, ja würden sie deren Empirie auch nur halb­wegs durch­drungen haben, so könnten sie in der glei­chen Ära genauso gut die Wegbe­rei­terin von Gender, Gleich­stel­lung, Trans­kul­tu­ra­lität, Rela­ti­vismus und Entgren­zung erkennen: Goethe lobte Amerika und verfasste den West-östlichen Divan („Und wer franzet oder britet, / Italie­nert oder teut­schet: / Einer will nur wie der Andre, / Was die Eigen­liebe heischet“), Schel­ling ehelichte die eman­zi­pierte, zwölf Jahre ältere Caro­line Schlegel, Heine pole­mi­sierte gegen deut­schen Natio­na­lismus und prophe­zeite „brutale germa­ni­sche Kampf­lust“, Fried­rich Schlegel schrieb „alle Wahr­heit ist relativ“ und behaup­tete: „Über­haupt über­trifft Asien Europa bei weitem an Reichtum und Größe.“

Die Vertreter der deut­schen Romantik waren, daran besteht kein Zweifel, ein hoch­gradig hybrider Haufen von poly­amou­rösen Vaga­bunden, reak­tio­nären Esote­ri­kern, reli­giösen Wende­hälsen, mysti­schen Frei­geis­tern, zarten Dich­ter­seelen, hippiesken Träu­mern, aufklä­re­ri­schen Progres­sisten, natio­nal­pa­trio­ti­schen Hard­li­nern und ulkigen Bohe­miens. Als Indi­vi­duen wie auch als Gruppe verkör­pern sie eine Hete­ro­ge­nität, wie sie die AfD heute ablehnt: Sie stehen für eine hybride, verwor­rene, komplexe Zeit, eine Zeit voller Ambi­va­lenz und Diver­sität, eine Zeit, die sich selbst gegen­über reflexiv und damit fremd wird.

Wenn Till­schneider dementgegen unter­stellt, dass eine Zu-sich-selbst-Findung der Deut­schen in der Romantik den Kern des heutigen Deutsch­seins bilden könne, so zeigt er aufs Vortreff­lichste, dass die AfD keine „Volks­partei“ ist und auch keine Volks­partei, also eine inte­gra­tive Partei, sein kann. Wie die Partei nur einen Teil der heutigen Deut­schen, nämlich ihre eigene Anhän­ger­schaft, zu „dem“ deut­schen Volk erklärt, so erklärt Till­schneider nur einen Teil der deut­schen Romantik zu „der“ deut­schen Romantik. Gemeint ist jene Romantik, die zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts eine natio­nale, konser­va­tive und tradi­tio­na­lis­ti­sche Wende erfuhr. Der Rest wird ausge­grenzt oder totgeschwiegen.

Die klien­te­lis­ti­schen Romantik-Exegeten der AfD fabri­zieren sich ihre tages­po­li­tik­ge­rechte Romantik und blenden aus, dass der natio­nale „Volks­geist“, der da in der Romantik erwacht, äusserst poly­phon war. Zwar war die Natio­nal­be­we­gung Mitglied dieses Chors, ihre Stimme war laut und kräftig – immerhin galt es, gegen den kriegs­lüs­ternen Napo­leon anzu­singen. Aber da waren noch andere Stimmen, die sie wie in einem Kanon beglei­teten und mitunter überlagerten.

Schlegel als Genderplayer

Ausge­rechnet einer der wirk­mäch­tigsten Prot­ago­nisten der deut­schen Romantik, kein Gerin­gerer als Fried­rich Schlegel, tat sich als Gender­pro­gres­si­vist hervor. So schrieb er 1799 in einem Brief an seine Geliebte Doro­thea, der 1800 in der Zeit­schrift Athe­näum publi­ziert wurde: „In der Tat sind die Männ­lich­keit und die Weib­lich­keit, so wie sie gewöhn­lich genommen und getrieben werden, die gefähr­lichsten Hinder­nisse der Menschlichkeit.“

Ein solcher Satz aus dem Munde eines AfD-Politikers – undenkbar. Ebenso der folgende: „Die Frauen müssen wohl prüde bleiben, so lange Männer senti­mental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fordern.“ Oder dieser: „Bey dem jetzigen Verhältniß der Familie kann die Repu­blik gar nicht statt finden.“ Für Schlegel galt, dass Männer und Frauen zwar nicht dasselbe sind oder dasselbe werden sollen. Doch sie sollten „vonein­ander lernen, indem der männ­liche Part seine weib­li­chen Elemente, der weib­liche hingegen seine männ­li­chen entdeckt und stärker ausprägt“ (Birgit Rehme-Iffert, 2001).

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Die AfD hingegen ist ange­treten, mit post­mo­dernem Rela­ti­vismus und „Gender-Gaga“ Schluss zu machen, denn: „Wo ,Gleich­stel­lung‛ steht, ist ‚Gleich­schal­tung‛ nicht weit“, so der AfD-Politiker und Geis­ter­wis­sen­schaftler Marc Jongen. Gemäss Partei­linie wirkt der postmodern-sozialkonstruktivistische Hokus­pokus des „Gende­rismus“ zerset­zend, ja er zerstört die tradi­tio­nelle Familie als Grund­ein­heit der guten Gesell­schaft und des guten Staates. Folg­lich verficht die AfD trotz spora­di­scher liber­tärer Anwand­lungen ein weitest­ge­hend essen­zia­lis­ti­sches, binäres Verständnis der Geschlechter.

Quelle: Serie von Eric Jaro­sinski auf Twitter

Street Credi­bi­lity als Vorkämpfer für Gleich­be­rech­ti­gung hat ihr poli­ti­sches Personal, wenig über­ra­schend, nicht vorzu­weisen; Kritik an Gewalt gegen oder Diskri­mi­nie­rung von Frauen wird aus ihren Reihen meist nur dann laut, wenn sie gegen Nicht-Deutsche oder Deut­sche mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gerichtet werden kann. Von Fried­rich Schlegel könnte die AfD indes lernen, dass Impulse für die spätere Gender­theorie bereits um 1800 von deut­schen Roman­ti­kern und Roma­ti­ke­rinnen ausgingen. Aber dafür gälte es eben, über­haupt erst denken und lernen zu wollen, anstatt zu meinen und zu ideo­lo­gi­sieren. Dass die AfD hinter Schlegel zurück­fällt, zeigt, dass sie keine konser­va­tive, sondern eine regres­sive Partei ist.

Post­mo­derne Angriffe bei Tieck

Auch der roman­ti­sche Autor Ludwig Tieck passt nicht ins Raster des nationalistisch-völkischen Zu-sich-selbst-Kommens. Tieck war zwar ein Patriot, aber ein kriti­scher und ambi­va­lenter. 1816 skiz­zierte er seine schwer greif­bare Posi­tion in einem Brief an Karl Wilhelm Ferdi­nand Solger: „Sie sehn hier meine Hypo­chon­drie, […] die mich seit zwanzig Jahren dahin bringt, den Veräch­tern der Deut­schen als ein Enthu­siast und fana­ti­scher German, und den leeren vater­län­di­schen Sangui­ni­kern und blinden Patrioten […] als ein kalter, unent­schlos­sener Mensch zu erscheinen, der nicht fähig ist, der guten Sache beizutreten.“

Nicht nur hinsicht­lich seiner diffe­ren­zierten poli­ti­schen Posi­tion, auch hinsicht­lich seiner künst­le­ri­schen Hand­schrift dürfte Tieck nicht nach dem Geschmack der AfD sein. So verwandte sich Till­schneider mit Blick auf Thea­ter­stücke gegen eine „Form­lo­sig­keit, die keinen Begriff für Stil kennt“. Und aus Sicht seines Kollegen Gott­fried Back­haus dient Theater schlicht „der Natio­nal­bil­dung“. In Tiecks Werk sind dagegen so ziem­lich alle Stil­mittel, die die Partei als post­mo­derne Angriffe auf die hohe Kunst verun­glimpft hat, angelegt.

Ein Para­de­bei­spiel für einen Angriff auf jene „strenge“ Form, die Till­schneider sich wünschen würde, bietet Tiecks mit dama­ligen Mitteln unauf­führ­bares und selbst für heutige Begriffe bizarres Anti-Bühnenstück Prinz Zerbino. Ein deut­sches Lust­spiel in sechs Akten (1799). Unter anderem treten auf: „Ein Jäger“, „ein Andrer“, „Fremder Doktor“, „Simo­nides“, „Stall­meister / Der Hund“, „Satan“, „Einige Andere“, „Mario­netten (König und Königin)“, „die Genien“, „der Wald“, „Rosen“, „die Gebü­sche“, „das Himmel­blau“, „Dante“, „Hans Sachs“, „die Blumen“, „Sopho­kles“, „ein Schrank“, „der Braten“, „die Berg­geister“, „Natha­nael von Mals­inski“, „Einige in der Nation“, „die Nation“ sowie „Alle“. Auf der Bühne wird über die Bühne gespro­chen und die „vierte Wand“ wird beständig durch­bro­chen. Typi­sche Dialoge verlaufen wie folgt:

LEANDER. Ist es erlaubt, den Prinzen Zerbino zu besuchen?

ARZT. Nein, mein Herr, er läßt sich jetzt nicht sprechen.

LEANDER. Warum nicht?

ARZT. Ich habe ihn mit viel Mühe zum Schlafen gebracht.

LEANDER. Ich spräche ihn gar zu gern,

SICAMBER. Was haben Sie an ihn.

LEANDER. Ich habe hier ein Buch geschrieben, das ich ihm dezi­dieren und vorlesen möchte. Es ist ganz eigen für seinen Zustand eingerichtet.

CURIO. Wie heißt es denn?

LEANDER. GRUNDSÄTZE DER KRITIK und ist in zwei Bänden abge­faßt. Es soll dazu dienen, die gespannte Phan­tasie wieder etwas herab­zu­stimmen, den Verstand aufzu­klären, indem wir das Unförm­liche einsehn, und uns so in der Poesie unver­merkt zum Klas­si­schen und Voll­endeten führen.

CURIO. Nun, das ist ein wahr­lich christ­li­cher Vorsatz.

HANSWURST. Man soll den Prinzen schnell aufwe­cken, damit man ihn in den Schlaf lesen könnte, so kam‘ er doch zur Ruhe.

Man stelle sich vor, dieses durch und durch verspulte Stück würde heute, da endlich die erfor­der­li­chen tech­ni­schen Mittel zur Verfü­gung stehen, anonym oder unter Pseud­onym aufge­führt werden – ein Groß­teil der AfD-Kulturexperten würde sich vermut­lich über den Nieder­gang des Thea­ters infolge post­mo­derner Spie­le­reien, Frivo­lität, Albern­heit und Dekon­struk­tion echauf­fieren, würde nach mehr Ernst­haf­tig­keit, mehr Hero­ismus, nach mehr männ­li­cher Größe, kurz: nach weniger deut­scher Romantik, wie sie wirk­lich war, rufen.

Eichen­dorff on the road

Joseph Frei­herr von Eichen­dorff schliess­lich verfasste mit der Novelle Aus dem Leben eines Tauge­nichts (1826) die Blau­pause für jenen Lebens­stil, den AfDler gerne mit Voka­beln wie „verlot­tert“ oder „versifft“ bedenken. Ein anonymer Amazon-Rezensent schrieb 2017 tref­fend über das Buch: „Before Kerouac there was Eichen­dorff, the first classic on the road romantic story.“ Aber, so würden AfD-Nationalromantiker erwi­dern, es könne doch nicht bestritten werden, dass es Eichen­dorff immer auch um die Heimat zu tun war! Kämpfte er nicht tapfer im Lützower Frei­korps gegen Napo­leon? Man denke über­dies an sein Gedicht Die Heimat, wo das „geheime Singen“ der Heimat auf den fernen Wegen des lyri­schen Ichs niemals verstummt! Wohin es auch geht, das Heimweh folgt ihm. Genau so ist es. Heimweh ist nicht gleich Heimat.

Dazu schrieb ausge­rechnet Rüdiger Safranski, der zwar kein AfD-Mitglied ist, aber anschluss­fä­hige Posi­tionen an den liberal- wie auch natio­nal­kon­ser­va­tiven Flügel der Partei vertritt: „Die Hingabe ans unend­lich aufge­scho­bene Reise­ziel ist das Einver­ständnis mit der unend­lich aufge­scho­benen Sinn­erfül­lung. Eichen­dorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heim­wehs, nicht des erfüllten Augen­blicks, sondern der Sehn­sucht, nicht des Ankom­mens, sondern der Abfahrt.“ Die AfD indes erträgt den Aufschub nicht. Sie will Erfül­lung. Klar­heit. Eindeu­tig­keit. Somit ist die Partei tatsäch­lich, wie Marc-Felix Serrao, auch er alles andere als ein linker Hyper­pro­gres­sist, einmal tref­fend in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, „inlän­der­feind­lich“. Sie betreibt eine zweite Teilung Deutsch­lands, indem sie eine Mauer durch die Romantik zieht. Die Romantik der AfD ist eine anti­deut­sche Romantik.