Im politischen Diskurs ist „Nationalismus“ beinahe ein Schimpfwort. Chauvinismus, Krieg, Faschismus sind die gängigen Assoziationen. Mit diesen Verknüpfungen spielen auch Vladimir Putin und die russische Propaganda, wenn sie behaupten, mit einer „Denazifizierungs“-Kampagne gegen den Nationalismus der Ukrainer:innen vorgehen zu müssen. Die bloße Idee eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats soll in die Nähe von Faschismus und ethnischer Diskriminierung gerückt werden. Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus ist aber ungleich komplexer als Putin behauptet, der in ihm nur den künstlichen Versuch ausländischer Mächte sieht, ein feindliches „Anti-Russland“ zu konstruieren. Zwar war er tatsächlich oft gegen Russland gerichtet, aber längst nicht immer gegen die russische Kultur. Vielmehr war er von Beginn an ein politisches Projekt, das die Grundlage des russischen Imperiums in Frage stellte.
In der Geschichtswissenschaft wird der Begriff „Nationalismus“ meist nicht wertend gebraucht. Einfach gesagt, beschreibt er zwei politische Prämissen: Erstens die Idee, dass die Menschheit sich in kulturell klar voneinander abgegrenzte Nationen einteilen lässt. Und zweitens die Folgerung, dass diese Nationen die wichtigste Grundlage politischer Legitimität sind, dass also letztlich jeder Nation ein eigener Staat zusteht. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich diese Ideen zunächst in den intellektuellen Eliten aller europäischen Länder, die zunehmend die Herrschaft der dynastisch legitimierten Imperien in Frage stellten. Deutlich langsamer kamen nationale Kategorien in der breiten Bevölkerung an; bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sie jedoch zum fast unhinterfragten Allgemeingut.
Eine demokratische Bewegung

Taras Ševčenko, Nationalidol, ca. 1840: Quelle: wikipedia.org

Taras Ševčenko, 1858; Quelle: encyclopediaofukraine.com

Graffito in Kiev mit dem Portrait des Dichters und Malers Taras Ševčenko; Quelle: theworld.org
Die Ukraine ist in dieser Hinsicht ein typisches, wenn auch etwas verspätetes Beispiel. Ihr heutiges Territorium gehörte im 19. Jahrhundert größtenteils zum Russländischen Reich; ein kleiner Zipfel im Westen war österreichisch. Während die Eliten des Landes aus polnischen Adligen und russischsprachigen Beamten bestanden und große Teile der Stadtbevölkerung jüdisch waren, sprachen die orthodoxen Bäuerinnen und Bauern eine Vielzahl ostslawischer Dialekte. Im frühen 19. Jahrhundert waren es zunächst Akademiker, die sich für die Kultur dieser Landbevölkerung zu interessieren begannen. Sie sammelten ethnographische Artefakte und volkstümliche Lieder, die sie im Geiste der Herderschen Romantik als Ausdruck einer ursprünglichen Nationalkultur interpretierten. In der Mitte des Jahrhunderts postulierten „ukrainophile“ Denker wie der Historiker Mykola Kostomarov und der Dichter und Maler Taras Ševčenko auf dieser Grundlage die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation. Diese wurde einerseits als Erbin der glorreichen Kosakenzeit imaginiert, andererseits als egalitäres Volk, das wegen des Fehlens einer „eigenen“ adligen Elite besonders demokratisch eingestellt sei. In den folgenden Jahrzehnten widmeten sich ukrainische Nationalist:innen der Standardisierung der ukrainischen Bauerndialekte zur modernen Literatursprache, der Erforschung der ukrainischen Geschichte und der Entwicklung einer ukrainischsprachigen Hochkultur.
Aufgrund der bäuerlichen Demographie seines Zielpublikums wurde der ukrainische Nationalismus im 19. Jahrhundert fast gleichbedeutend mit einer lokalen Ausprägung des Bauernsozialismus der russischen Narodniki. Dementsprechend schrieb 1891 der linke Intellektuelle Mychajlo Drahomanov: „Wer in der Ukraine das Ukrainertum nicht anerkennt, ist ein unvollständiger Radikaler, und ein Ukrainophiler, der sich noch nicht radikalisiert hat, ist ein schlechter Ukrainophiler.“ Die ukrainische Nationalität im modernen Sinne war zu dieser Zeit Ausdruck einer bewussten politischen Entscheidung, nicht einer ethnischen Abstammung. In der Kiever Hromada etwa, einer geheimen Gruppe ukrainischer Patriot:innen der 1860er- und 1870er-Jahre, versammelten sich neben russischsprachigen Abkömmlingen des kosakischen Adels auch Intellektuelle russischer, polnischer, jüdischer, schwedischer und sogar schweizerischer Herkunft. Die selbsterklärten Ukrainer:innen verband das gemeinsame Projekt einer demokratischen Bauernnation und einer föderalen Neuordnung des Imperiums. Erst in einem zweiten Schritt erlernten diese städtischen Aktivist:innen die ukrainische Sprache der Bäuer:innen und erzogen auch ihre Kinder im ukrainisch-nationalen Geist.
Das Zarenreich begriff den ukrainischen Nationalismus von Anfang an als politische Herausforderung. Der Staat bezeichnete die Ukraine als Kleinrussland, eine untrennbar mit Russland verbundene Region, deren Bevölkerung zusammen mit (Groß-)Russ:innen und Weißruss:innen eine übergeordnete, „dreieinige“ russische Nation bilde – eine Weltsicht, die Vladimir Putin heute wieder aufnimmt. Den Zusammenhalt dieses vermeintlichen Kerns des Imperiums bedrohten die ukrainischen Nationalist:innen mit ihren Forderungen nach Föderalismus und kultureller Eigenständigkeit. Auch innerhalb der Intelligenzia in der Ukraine regte sich Widerspruch. Konservative „kleinrussische“ Intellektuelle bekämpften den ukrainischen Nationalismus und wurden ihrerseits zur Avantgarde des russischen Nationalismus im Zarenreich. Nach dem Fall des Zarenreichs 1917 kulminierte dieser Konflikt in einem blutigen Bürgerkrieg auf ukrainischem Territorium, in dem sich die Ukrainische Volksrepublik – eine Gründung ukrainisch-nationaler Sozialist:innen – und die russisch-imperiale Freiwilligenarmee unter General Denikin unversöhnlich gegenüberstanden. Den Sieg trug schließlich eine dritte Kraft davon: die Rote Armee der Bolschewiki, die nebst der Unterstützung vieler aufständischer Bäuer:innen auch auf Support und Nachschub aus Russland zählen konnte.
Dialektik von Inklusion und Exklusion

Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN): „300 Karbowanez für den Kriegsfonds, für den selbständigen, vereinigten ukrainischen Staat“, ca. 1940; Quelle: hwph.de
Nach der Niederlage im Bürgerkrieg wandten sich viele ukrainische Politiker im europäischen Exil einem extremeren Nationalismus zu. In einer Zeit, in der sich die Nationalismen in ganz Europa radikalisierten, definierten sie die ukrainische Nation zunehmend als exklusive ethnische Gemeinschaft und befürworteten autoritäre Regierungsformen. So predigte etwa der Ultranationalist Dmytro Doncov eine prinzipielle Amoralität (amoral’nist’), da das höchste Ziel der nationalen Selbstverwirklichung jegliche politischen Mittel rechtfertige. Von Doncov war es nur noch ein kleiner Schritt zum Extremismus der „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN), die in der nun zu Polen gehörenden Westukraine terroristische Akte ausführte. Teile der OUN kollaborierten im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis und waren am Holocaust beteiligt. Im „Zeitalter der Extreme“ (E. Hobsbawm) bildete sich so eine faschistoide Extremform des ukrainischen Nationalismus heraus, deren Vertreter vor Genozid und Vertreibung nicht zurückschreckten. Auf diese Zeit bezieht sich die Putinsche Propaganda, wenn sie die „Denazifizierung“ der Ukraine fordert.
Es wäre aber zu einfach, einen guten politischen ukrainischen Nationalismus eindeutig von einer schlechten ethnischen Version abgrenzen zu wollen. Vielmehr wohnte den meisten historischen Nationalismen eine Dialektik von Inklusion und Exklusion inne: Einerseits boten sie der Mehrheitsbevölkerung die politische Emanzipation von imperialer oder aristokratischer Herrschaft an und ermöglichten ihr den sozialen Aufstieg in der eigenen Sprache und ohne Assimilation ans imperiale Zentrum. Nebst den Bauern gestanden die Nationalisten auch Frauen eine wichtige Rolle in der nationalen Gemeinschaft zu, etwa als Vermittlerinnen nationaler Kultur an zukünftige Generationen. Andererseits schlossen sie Minderheiten, die in der imperialen Ordnung ökonomisch privilegiert waren, meist von der Nation aus. So auch im ukrainischen Fall: Selbst der progressive Drahomanov war nicht gefeit vor Vorurteilen gegenüber vermeintlich parasitären jüdischen Schankwirten oder polnischen Adligen. Fedir Vovk, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch Schädelvermessungen die anthropologische Andersartigkeit von Ukrainern und Russen beweisen wollte und so den Weg für rassistische Strömungen der Zwischenkriegszeit bereitete, war wiederum ein Liberaler, arbeitete mit russischen Kollegen zusammen und deklarierte seine Forschung als unpolitisch.

1. Mai-Parade in Kiev 1986, vier Tage nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl; Quelle: euromaidanpress.com
Der Fall des Zarenreichs und die Gründung der Sowjetunion war eine entscheidende Zäsur der ukrainischen Geschichte, weil die Bolschewiki im Gegensatz zu den Zaren ihren Staat nach nationalen Kategorien ordneten. Sie anerkannten die Ukrainer:innen als eine eigenständige Nationalität und begründeten mit der Ukrainischen Sowjetrepublik die erste beständige ukrainische Staatlichkeit der Moderne. Auch wenn die Sowjetherrschaft unfassbares Leid über die Ukraine brachte – zuvorderst mit der menschengemachten Hungerkatastrophe von 1932 und 1933 – konsolidierte sie doch die Vorstellung einer selbständigen ukrainischen Nation mit eigener Kultur und eigenem Territorium. Als 1991 über die Loslösung von der Sowjetunion abgestimmt wurde, war es auch für die meisten Russischsprachigen vorstellbar, Ukrainer:innen in einem ukrainischen Staat zu werden. 92 Prozent der Einwohner:innen stimmten für die Unabhängigkeit.
Eine pluralistische Gesellschaft
Seither hat sich viel getan in der ukrainischen Politik. Es hat sich eine pluralistische Demokratie etabliert, die zwar von Korruption und oligarchischen Interessen mitgeprägt wird, aber dem Land in dreißig Jahren schon sechs verschiedene Präsidenten eingebracht hat. Radikale Nationalisten, die etwa die Erinnerung an die nationalistischen Extremisten der Zwischenkriegszeit rehabilitiert haben und die russische Sprache aus der Öffentlichkeit verdrängen wollen, haben besonders in den intellektuellen Schichten gewissen Zulauf erhalten (und Putin damit Munition für seine Propaganda geliefert). Für eine Mehrheit der Ukrainer:innen steht die nationale Unabhängigkeit heute aber in erster Linie für eine demokratische Entwicklung des Landes und die Öffnung gegenüber Europa nach dem Vorbild der zentraleuropäischen Nachbarländer. Es ist der Wille, dieses Modell weiterzuverfolgen und notfalls mit Gewalt zu verteidigen, der die ukrainische Bevölkerung – inklusive der Russischsprachigen im Süden und Osten – in diesem Krieg eint.

Der Wahlsieg von Volodymyr Zelens’kyj am 21.4.2019; Quelle: warsawinstitute.review
Es ist kein Zufall, dass dieses Projekt mit dem zweisprachigen jüdischen Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj seine Galionsfigur gefunden hat, wurde er doch 2019 vor allem aufgrund des Versprechens gewählt, anstelle nationaler Symbolpolitik auf pragmatische Verbesserungen des Alltags und eine Entspannung des Verhältnisses zu Russland zu setzen. Selbst im Krieg verzichtet er auf ethnische Rhetorik und betont stattdessen die Vorzüge der ukrainischen Demokratie. In einem Interview mit russischen Journalisten stellte er sich als Garanten der demokratischen Institutionen dar, der den Weg für kommende Generationen bereiten möchte. Insofern hat Putins Rede vom ukrainischen „Anti-Russland“ eine gewissen Berechtigung: Die Ukrainer:innen haben in dreißig Jahren Unabhängigkeit ein politisches Gegenmodell zu Putins autoritärer Schablone der postsowjetischen Entwicklung geschaffen. Und es bleibt zu hoffen, dass dieses politische Projekt einer demokratischen, pluralistischen und durchaus auch mehrsprachigen Ukraine in der Bevölkerung weiterhin mehr Rückhalt haben wird als dasjenige einer monolingualen und einheitlichen Kulturnation.