Manchmal sind literarische Biografien die besten Geschichtsbücher. Im Idealfall beleuchten sie nämlich nicht nur den Lebenslauf einer einzelnen Person, sondern auch große historische Zusammenhänge, die man ohne die skizzierte Person so nicht in den Blick bekommen hätte. Das gilt im besonderen Maße auch für den diesjährigen Gewinner des Deutschen Buchpreises, Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“. Erzählt wird darin in rhythmisch freien Versen (was stilistisch außergewöhnlich ist, aber das ist eine andere Geschichte) die Lebensgeschichte der heute 97-jährigen Französin Anne Beaumanoir.

Anne Beaumanoir, ca. 1940. Quelle: righteous.yadvashem.org
Annette, wie die Protagonistin im Buch zum Zwecke der literarischen Distanzierung genannt wird, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der Résistance, rettete Juden vor der Deportation und engagierte sich später während des Algerienkriegs für die algerische Unabhängigkeitsbewegung, was zu Gefängnis und einem Leben auf der Flucht führte. Es ist ein Buch über Mut, Widerstand und Freiheit und zugleich eine Geschichte, in der sich das 20. Jahrhundert mit seinen vielen Konflikten, Brüchen und Katastrophen spiegelt.
Das historisch Besondere an Webers Erzählung ist das Spannungsfeld, das zwischen den beiden geschichtlichen Epochen – Weltkrieg und NS-Regime auf der einen und Dekolonisierung und Algerienkrieg auf der anderen Seite – entsteht. Die wirkliche Anne Beaumanoir hatte in ihren Memoiren, die eine Grundlage von Webers Versepos bilden und 2019 und 2020 auch auf Deutsch erschienen sind, die zwei entscheidendsten Abschnitte ihres Lebens noch fein säuberlich auseinandergehalten. Weber hingegen zieht immer wieder Verbindungen zwischen Annettes Kampf gegen die Nazis und ihrem Kampf für die algerische Unabhängigkeit. Es bleiben zwei unterschiedliche Konflikte, aber Annette verhält sich in beiden letztlich gleich – es ist ihre Umgebung, in der sie je nach politischer Großwetterlage entweder als bewunderte Heldin oder als gefährliche Terroristin angesehen wird. Mit solchen Überschneidungen und Vergleichen wirft das Buch aber auch einen Blick auf das Verhältnis von Weltkrieg und Kolonialismus bzw. Dekolonisierung sowie auf das von Antisemitismus und Kolonialrassismus – und es lädt uns Leser:innen dazu ein, genauer über dieses Verhältnis nachzudenken.
Exkursionen in zweifaches Terrain
Zum Beispiel, wenn von Annettes Erlebnissen während der Befreiung von Marseille durch die Alliierten im August 1944 erzählt wird. Beiläufig erfährt man, wie tief eigentlich die kolonialen Verhältnisse ins unmittelbare Kampfgeschehen hineinreichten. Während die Streitkräfte der Résistance von innen gegen die deutschen Besatzer vorgingen, kämpften Hundertausende alliierte Soldaten an der Südfront. Die Hälfte davon waren Franzosen der Armee Charles de Gaulles, aber im Grunde waren es in ihrer großen Mehrzahl Soldaten der sogenannten „Kolonialtruppen“, also Algerier, Marokkaner oder Senegalesen, die keine Staatsbürger Frankreichs, sondern im damaligen Sprachgebrauch „Indigene“ waren, aber trotzdem für Frankreich kämpfen mussten – ein Umstand, der damals und später gerne übersehen und teilweise bewusst kaschiert wurde. Dabei war es nicht zuletzt dem Einsatz von algerischen Infanteristen und senegalesischen Tirailleurs zu verdanken, dass sich die Deutschen in Marseille letztlich geschlagen gaben.
Die erhoffte Anerkennung für diesen Einsatz und eine Veränderung des Kolonialstatuts blieben nach dem Krieg aber aus. Symbolisch steht dafür der 8. Mai 1945, der für Frankreich das Ende des Zweiten Weltkriegs, aber – wie in einer Art historischer Staffelübergabe – auch den Beginn der Dekolonisierung einläutet. Für Europa ein Tag der Befreiung, ist der 8. Mai 1945 etwa für Algerien ein blutiges Datum: In Sétif und anderen algerischen Städten wurden bei Demonstrationen für mehr algerische Selbstbestimmung Zehntausende durch französische Kolonialisten und Truppen getötet. Der Algerienkrieg begann erst im November 1954, aber in dem „Massaker von Sétif“ hatte er einen seiner Vorboten. Für diese Genealogie hat die Erzählerin im Buch einen wunderbar einfachen und gleichzeitig weisen Satz parat: „Immer fängt alles schon viel früher an.“
Während des Algerienkriegs ist es dann vor allem das Thema der Folter, das den Ausschlag für Annettes Wiederaufnahme des Kampfes gibt. Als es in der französischen Öffentlichkeit nämlich zu ersten Berichten über Folterungen von Algeriern und französischen Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung durch die Sicherheitsbehörden kommt, ruft dies bei Annette Erinnerungen an die dunkle NS-Zeit hervor: „Hat sie vielleicht/ den Kopf für dieses Land riskiert, damit es ein paar/ Jahre drauf die Methoden der SS anwendet?/ Erbitterung und Wut.“
Annettes Frage berührt einen sensiblen Punkt: die Umkehrung der Rollen (vom Opfer zum Täter), aber auch die historische Abfolge von nationalsozialistischen Gräueltaten und französischen Kolonialverbrechen. Schaut man in die Zeitgeschichte, stellten viele zeitgenössische Intellektuelle (von Germaine Tillion über Marguerite Duras bis hin zu Hans Magnus Enzensberger) das Vorgehen des französischen Staats in Algerien in die Kontinuität der NS-Verbrechen – insofern steht Annette mit ihrer Frage im historischen Sinne nicht allein da. Ihre Reaktion darauf ist aber vergleichsweise singulär: Sie leitet aus den Erfahrungen der NS-Zeit eine aktuelle Pflicht zur Solidarität mit der algerischen Befreiungsbewegung ab und stürzt sich, ihrer eigenen Tugendlehre folgend, erneut in den Widerstand.
Auch die heikle Analogie von Holocaust und Kolonialismus taucht im Buch auf. Allerdings lässt die Erzählerin diesen Vergleich nicht von Annette persönlich ziehen, sondern von Aimé Césaire, dem martinikanischen Dichter, Politiker und Mitbegründer der „Négritude“, der neben anderen zeitgenössischen Intellektuellenfiguren (wie Sartre, Camus, Beauvoir und Fanon) hier als Zitatgeber zu Wort kommt. Césaire machte in seiner Schrift „Über den Kolonialismus“ von 1950, also im Bewusstsein des Holocaust, dem Pseudohumanismus seiner Zeit folgenden großen Vorwurf: Was der humanistisch-christliche Bourgeois des 20. Jahrhunderts Hitler nicht verzeihe, sei nicht das Verbrechen an sich, auch nicht das Verbrechen gegen den Menschen, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen und die Tatsache, dass Hitler kolonialistische Methoden auf Europa angewendet habe, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Schwarzen Afrikas ausgesetzt gewesen seien. An Césaires Sätzen scheiden sich seitdem die Geister. Die Erzählerin lässt ebenso ihre Meinung durchblicken, behält aber den Ton: „Ob das so richtig ist, darüber kann man streiten.“
Die Politik des Vergleichs
Über die Beziehung von Holocaust und Kolonialismus wurde und wird auch im Jahr 2020 viel gestritten. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen von Webers Buch begann im Frühjahr die sogenannte „Mbembe-Debatte“ die Feuilletons zu beherrschen. Sie entzündete sich primär an den Vorwürfen des Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein, wonach der kamerunische Philosoph Achille Mbembe in seinem Werk antisemitische Tendenzen zeige und den Holocaust relativiere, indem er letzteren durch Vergleiche mit anderen Verbrechen gleichsetze. Zu den irritierendsten Momenten des Streits gehörte – neben dem Antisemitismusvorwurf – die Unterstellung, dass Mbembe als „ein Philosoph Afrikas“ und „ausländischer Wissenschaftler“ (Felix Klein) eigentlich nicht wirklich berechtigt sei, Vergleiche zwischen der deutschen und anderen historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu ziehen.
Wenn die Causa Mbembe nach dem ganzen unversöhnlichen Streit letzten Endes doch noch einen gesellschaftlichen Lerneffekt besitzt, dann ist dies vor allem jenen Stimmen zu verdanken, die zur langersehnten Versachlichung der Debatte beitrugen, indem sie weniger auf die Person und das Werk Mbembes zielten als vielmehr auf den thematisch interessanten Kern der Diskussion, nämlich auf die Logik und Politik des Vergleichs. Eine der überzeugendsten Positionen stammt (hier und hier) vom Historiker Michael Rothberg, der sich auf seine Forschungen zu eben diesem komplizierten Verhältnis von Holocaust-Erinnerung und Dekolonisierungsbestrebungen stützt. In seinem Buch „Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization“ zeigt Rothberg, dass der Vergleich von kolonialer Gewalt mit dem Völkermord der Nationalsozialisten eine Tradition aufweist, die bis in die frühen Nachkriegsjahre zurückgeht und vor allem in Frankreich verankert war. Er zeigt auch, dass sich die zwei unterschiedlichen Erinnerungsstränge von Holocaust und Kolonialismus nicht in einer Art Nullsummenspiel oder Entweder-Oder gegenseitig ausschließen müssen, sondern im Rahmen einer pluralen Erinnerungskultur produktiv miteinander verflechtet werden können. Rothbergs Buch erscheint im Dezember 2020 endlich auch auf Deutsch, und es ist zu hoffen, dass es der Mbembe-Debatte nochmals eine besonnenere Richtung gibt.
Nun hat Anne Webers Versepos über die Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir nicht direkt etwas mit der Causa Mbembe zu tun. Aber die der Debatte übergeordneten Fragen nach der Erinnerung und dem Umgang mit dem Verhältnis der großen historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts werden auch bei der Erzählung von Annettes Leben aufgeworfen – nur eben auf literarische Weise, mit Gespür für den historischen Sinn und entlang eines einzelnen Lebens voller Gewalterfahrungen und Widerstandsakte. Annette kämpfte gegen die deutschen Besatzer, sie rettete Juden vor der Deportation, verlor ihren Partner an die Faschisten – und sie kämpfte gegen den französischen Kolonialismus, rettete Algerier vor der Verhaftung und verlor ein gutes Stück ihres politischen Glaubens an die Verheißungen der algerischen Befreiung. Zwei unterschiedliche Kämpfe, durchaus. Aber zwei Kämpfe, die sich zumindest für Annette nicht gegenseitig widersprechen und ausschließen mussten, sondern auch in Bezug zueinander stehen konnten – wie auch immer man diesen Bezug historisch und erinnerungspolitisch beurteilen mag. Webers Heldinnengesang sollten daher nicht nur jene lesen, die nicht bis Dezember auf Rothbergs Buch warten wollen.
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Berlin: Matthes & Seitz 2020