Bescheidenheit war seine Sache nicht. Als der Regisseur, Produzent, Schauspieler und Autor Rainer Werner Fassbinder im Frühjahr 1981 in den Drehpausen zu seinem aktuellen Film Lola für einen Freund in der Rückschau auf ein gutes Jahrzehnt filmerischen Aufbruchs in Deutschland eine Bestenliste zusammenstellen sollte, fand sich sein Name schließlich nicht nur an der Spitze der Rubrik: „Die zehn wichtigsten Regisseure des Neuen Deutschen Films“. Auch viele seiner bis dahin gedrehten 34 Spielfilme schafften den Sprung auf die in verschiedene Abschnitte gegliederte Liste, immerhin in positiver wie negativer Hinsicht. Zu den „besten“ und „wichtigsten“ Filmen der zu Ende gehenden langen 1970er Jahre zählte er unter anderem: Die Ehe der Maria Braun, Fontane Effi Briest, Der Händler der vier Jahreszeiten, Deutschland im Herbst, Die dritte Generation. Zu den „ekelhaftesten“ und „enttäuschendsten“: Katzelmacher, Wildwechsel, Pioniere in Ingolstadt. Zu den „schönsten“: Angst essen Seele auf.
Angst essen Seele auf – Die Geschichte von Emmi und Ali
Zumindest seinem letzten Urteil lässt sich schwerlich widersprechen. Obgleich im September 1973 in nur vier Wochen gedreht und fertiggestellt, gehört der Film noch immer zu den berührendsten und poetischsten Werken, die das deutsche Kino hervorgebracht hat. Er erzählt die Geschichte der Putzfrau Emmi und des deutlich jüngeren Gastarbeiters Ali, die sich eines Abends in einer Kneipe treffen, die vornehmlich von Migranten besucht wird. Die beiden tanzen zusammen. Ali begleitet Emmi durch den strömenden Regen nach Hause. Nach einem verlegenen Gespräch im Hausflur bittet sie ihn in ihre Wohnung. Trotz des gebrochenen Deutsch, das Ali spricht, trotz des Altersunterschiedes, der die beiden trennt, entwickelt sich zwischen ihnen eine große Vertrautheit. Beide sind glücklich, jemanden zum Reden zu haben. Emmi erzählt aus ihrem Leben, von ihrer ersten Ehe mit einem polnischen Zwangsarbeiter. Ali spricht von seiner Familie in Marokko, dem Leben in Deutschland, den beengten Wohnverhältnissen in seinem Zimmer, das er mit fünf weiteren Gastarbeitern bewohnt. Dorthin möchte ihn Emmi nicht zurückschicken. Sie macht ihm das Gästebett, damit er bei ihr übernachten kann. Doch Ali liegt wach, kommt in ihr Zimmer, um sich weiter zu unterhalten. Schließlich schlafen die beiden miteinander. Der nächste Morgen nimmt nichts von der Nähe, die zwischen ihnen entstanden ist, und die Emmi so sehr überwältigt, dass sie zu weinen beginnt. Hieraus entspinnt sich der Dialog, dem der Titel des Filmes entstammt: Ali: Bitte nix weinen. Ja? Warum weinen? Emmi: Weil ich so glücklich bin und weil ich solche Angst habe. Ali: Angst nix gut. Angst essen Seele auf.
Den zärtlichen, zugleich stets entrückten Bildern von dem ungleichen Paar, die der Film einfängt, steht die Ablehnung entgegen, auf die ihre Liebesbeziehung in ihrem Umfeld trifft. An ihr zeigt sich schnell, wie Recht Emmi mit ihrer Angst behalten wird. Schon der nächtliche Besuch von Ali wird von einer Nachbarin aufmerksam beobachtet, die die Neuigkeit gleich in dem Mietshaus verbreitet. Als Emmi ihren Arbeitskolleginnen gegenüber Andeutungen macht, stößt sie auf harte rassistische Vorurteile. Die Reaktion ihrer Tochter und deren Ehemanns, denen sie bei einem Besuch erzählt, sich in einen jüngeren Marokkaner verliebt zu haben, ist ebenso schroff wie verachtend. Zum Bruch kommt es, als Emmi und Ali – mehr aus einem Zufall heraus – heiraten. Emmis zusammengerufene Kinder beschimpfen sie als Hure, als sie ihnen ihren neuen Mann vorstellt, und wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Im Lebensmittelgeschäft weigert sich der Verkäufer, seine langjährige Kundin weiter zu bedienen. Die Nachbarinnen beschimpfen Ali als Terroristen und rufen die Polizei, als arabische Musik aus Emmis Wohnung zu hören ist. Ihre Arbeitskolleginnen reden nicht mehr mit ihr und lassen sie in der Mittagspause alleine sitzen. Von ihrer Familie, ihren Nachbarinnen und Kolleginnen verstoßen bricht Emmi schließlich abermals in Tränen aus. In einem leeren Gartenlokal, wo sie und Ali die einzigen, von den zusammenstehenden Angestellten argwöhnisch beäugten Gäste sind, greift sie das Gespräch nach ihrer ersten Nacht wieder auf: „weil ich so glücklich bin auf der einen Seite, und auf der anderen halte ich das alles nicht aus. Dieser Haß von den Menschen. Von allen, allen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre mit dir ganz allein auf der Welt und keiner um uns rum. Ich tu nämlich immer so, als machte mir das alles gar nichts aus, aber natürlich macht es mir etwas aus. Es macht mich kaputt. Keiner sieht einem mehr richtig ins Gesicht. Alle haben immer so ein widerliches Grinsen. Lauter Schweine. Schreit: Lauter dreckige Schweine! Glotzt doch nicht, ihr blöden Schweine! Das ist mein Mann, mein Mann.“
Zeitdokument und Gegenwartskommentar
Angst essen Seele auf war nicht der erste Film, in dem sich Fassbinder mit der gesellschaftlichen Lage der Gastarbeiter auseinandersetzte. Schon sein zweiter Spielfilm Katzelmacher, mit dem er 1969 bekannt geworden war, handelte von der Ablehnung den Migranten gegenüber. Auch den konkreten Stoff zu Angst essen Seele auf, den Fassbinder einer Zeitungsnotiz entnommen hatte, trug er lange mit sich herum. Er hatte ihn sogar bereits zuvor in einer Variante am Rande eines anderen Films verwandt. Doch Angst essen Seele auf entstand in einem besonderen Moment, zu einer Zeit, als die Diskussion um die Migration in der Bundesrepublik ihre erste wichtige Kehre machte: Der in München lebende Fassbinder beobachtete selbst die Verschärfung der Situation der „Araber“ in der Stadt nach dem blutigen Olympiaattentat 1972; im Film ist es wiederholt Thema. Vor allem der wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten verhängte Anwerbestopp, die vor dem Hintergrund der Ölkrise getroffene Entscheidung, die seit Mitte der 1950er Jahre praktizierte Rekrutierung von Arbeitskräften in Südeuropa und der Türkei zu beenden, leitete eine Wende in der Ausländerpolitik ein. Mit ihr traten vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise und der steigenden Arbeitslosigkeit schon lange bestehende Feindseligkeit, Ausgrenzung und Missgunst besonders deutlich zu Tage. In dieser Situation ließ sich Angst essen Seele auf leicht lesen als eine politische Intervention, und noch heute stellt der Film ein eindrückliches Zeugnis der schwierigen Lage der Gastarbeiter in einem noch immer durch rassistische Stereotype geprägten Deutschland der 1970er Jahre dar.
Doch Angst essen Seele auf ist mehr als Geschichte. Fassbinder widmete sich in diesem Film – anders als in seinen vorherigen – bereits einem gesellschaftlichen Problem, das mit dem Anwerbestopp virulent wurde und die Debatte um Migration bis heute bestimmt: die Frage, wie Ausgrenzung überwunden und Migranten integriert werden können. Bis dies in der politischen Diskussion in den Mittelpunkt trat, dauerte es nach dem Anwerbestopp allerdings noch einige Zeit, obwohl rasch sichtbar wurde, dass die zur Arbeit geholten Migranten entgegen früherer Hoffnungen auch jetzt nicht vollständig in ihre Heimatländer zurückkehrten. Ihr Anteil an der Bevölkerung nahm durch Familiennachzüge weiter zu. Doch erst 1979 machte der neu berufene „Ausländerbeauftragte der Bundesregierung“ in seinem Bericht über „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien“ die Frage nach dem Platz der Migranten in der Bundesrepublik und den Begriff „Integration“ zum Kern der migrationspolitischen Debatten. Insofern ist es verständlich, dass der Kommentar, den Fassbinder in Angst essen Seele auf zu diesem Problem bereits 1973 formulierte, in der zeitgenössischen Rezeption des Filmes kaum beachtet wurde.
Gemeinschaft und Gesellschaft in Angst essen Seele auf
Erst der Historiker Rüdiger Graf hat vor einiger Zeit in einem lesenswerten Aufsatz hierauf hingewiesen, indem er den Film mit dem Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft neu gelesen hat. Die Unterscheidung geht zurück auf Ferdinand Tönnies, einem der Gründerväter der Soziologie, der damit zwei verschiedene Grundformen beschrieb, mit denen soziale Beziehungen zwischen Menschen gestiftet werden können. Gemeinschaftliche Beziehungen sind bestimmt von enger persönlicher Bekanntschaft. Sie basieren auf gemeinsamen Wertvorstellungen, Überzeugungen oder gegenseitigem Vertrauen und stiften emotionale Beziehungen zwischen Menschen, etwa in Familien oder Freundschaften. Gesellschaftliche Beziehungen setzen demgegenüber persönliche Bekanntschaft oder Sympathie nicht voraus. Sie gründen auf individuellen Willensentscheidungen und dem Tauschprinzip und schaffen damit funktionale Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Mietern und Vermietern etwa oder Vorgesetzten und Angestellten. In letzteren werden Menschen also in ihrer sozialen Funktion oder Rolle angesprochen, während erstere sie als Persönlichkeiten mit ihren individuellen Eigenarten auf der Grundlage von allen Gemeinschaftsmitgliedern geteilten Sitten oder Überzeugungen wahrnehmen und einbinden.
Angst essen Seele auf führt diese Unterscheidung geradezu idealtypisch vor, allerdings mit einer spezifischen Pointe. Dies zeigt sich schon an der Ausgrenzung, die Emmi und Ali im bisher geschilderten ersten Teil des Filmes erfahren. Sie dient dramaturgisch immer auch dazu, Einigkeit zwischen den Anderen herzustellen und stiftet so erst jene Gemeinschaften, von denen das ungleiche Paar ausgeschlossen bleibt. Als Emmi ihre Tochter Krista besucht, beginnt die Szene vor Emmis Ankunft mit dem alltäglichen Ehestreit, der zwischen Krista und deren Ehemann Eugen schwelt: Eugen: Bring mir ein Bier. / Krista: Hol dir doch selber eins. / Eugen: Wenn ich aufsteh, dann fängst eine. / Krista: Soviel Aktivität bringst Du doch gar nicht mehr auf. / Eugen: Das wirst dann schon sehen. Der Streit hält auch an, als Emmi die Wohnung betritt. Erst im gemeinsamen Spott und Entsetzen über ihre Liebe zu dem jungen Gastarbeiter findet das Ehepaar zueinander. Ähnlich ist es in anderen Szenen: In Angst essen Seele auf sind Gemeinschaften nicht bestimmt durch harmonische Beziehungen, die auf geteilten Werten, Vorstellungen oder gegenseitigen Sympathien gründen. Sie sind geprägt durch Gewalt, Konflikte und Macht und finden ihre Basis nur in der Abgrenzung nach außen. Auch Emmi und Ali sind davon nicht frei. Deren Liebesbeziehung wird im weiteren Verlauf des Films gerade dadurch bedroht, dass sie sich jeweils auf Kosten des Anderen in Gemeinschaften fügen: Emmi macht Ali zum Schauobjekt, als sie die Chance bekommt, wieder in den Kreis ihrer Arbeitskolleginnen aufgenommen zu werden. Ali lacht mit seinen Kollegen über die alte Frau, als Emmi ihn in seiner Werkstatt aufsucht.
Vor allem führt der zweite Teil des Films aber in lehrstückhafter Weise vor, wie Interaktion mit Fremden gelingen kann. Er beginnt mit der Rückkehr von Emmi und Ali aus ihrem Urlaub, in den sich die beiden nach Emmis Wutausbruch in dem Gartenlokal mit der Hoffnung geflüchtet hatten, danach würde alles anders werden. Und in der Tat verhält sich das Umfeld dem Paar gegenüber nun freundlicher: Der Verkäufer des Lebensmittelgeschäfts grüßt Emmi wieder, weil er auf sie als Kundin nicht verzichten will. Die Nachbarinnen halten sie nun für eine „nette“ und „hilfsbereite Frau“, weil Emmi ihnen einen Teil ihres Kellers überlässt, um Möbel unterzustellen. Einer ihrer Söhne entschuldigt sich bei ihr, weil er sie darum bitten möchte, auf seine Kinder aufzupassen, wenn seine Frau wieder arbeiten geht. Auch gesellschaftliche Funktionsträger verhalten sich in dem Film dem Paar gegenüber stets korrekt: Die Polizisten, die ihre Nachbarinnen im ersten Teil des Films rufen, sind ausgesprochen höflich und treten den rassistischen Anschuldigungen der Nachbarinnen entgegen. Und ihr Vermieter hat gleichfalls nur ein Interesse daran, dass die Regelungen des Mietvertrages eingehalten werden. Etwas „Unanständiges“, wie es ihm eine Nachbarin sagt, kann er an der Beziehung der Beiden nicht entdecken.
Gesellschaftliche Beziehungen in Stellung bringen
Mit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft gelesen offenbart Angst essen Seele auf eine eindrucksvolle Konsequenz: Gemeinschaften sind bestimmt von Ausgrenzung und Macht. Es sind gesellschaftliche Prinzipien, die einen Austausch mit Anderen erlauben, bei denen diese nicht abgewertet, sondern als Andere wahrgenommen und akzeptiert werden können. Sie gewährleisten im Film Integration. Bei seinem Erscheinen blieb dies weitgehend unerkannt. Harry Baer, ein enger Weggefährte von Fassbinder, konnte in dem veränderten Verhalten der Nachbarn, Verwandten und Arbeitskolleginnen nur „unaufrichtige, herablassende Freundlichkeit“ erkennen, die nur darauf zielte, Emmi und Ali auszunützen. Doch die Pointe des Films ist damit kaum beschrieben. Fassbinder überlegte in einem Interview während der Vorbereitungen zum Film selbst, ein paar Jahren zuvor hätte er die Geschichte sicher noch so erzählt, dass
die Gesellschaft nicht zuläßt, daß eine alte Frau und ein junger Gastarbeiter zusammenleben. Aber jetzt geht’s mir darum zu zeigen, wie man sich wehren kann und es trotzdem irgendwie schafft. Heute glaube ich eher, daß man, wenn man diese deprimierenden Verhältnisse nur reproduziert, sie damit verstärkt. Deshalb sollte man eher die herrschenden Verhältnisse durchschaubar darstellen, damit bewußt wird, daß sie überwunden werden können.
Es ist sein Plädoyer für die integrative Kraft gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Ausweg weisen. Darum ist Angst essen Seele auf heute mehr als ein „schöner“ und poetischer Film. In ihm lässt sich noch immer die Grundspannung sozialer Beziehungen ebenso präzise wie eindrücklich beobachten: eine Spannung, welche die Diskussion um Migranten und Integration auch in der Gegenwart prägt, in der Gemeinschaftsvorstellungen weiter ihren Platz besitzen – sei es in der Hoffnung auf eine umfassende Willkommenskultur, sei es in den Sorgen um den Verlust eigener Identität durch die Fremden. Vor diesem Hintergrund kann nicht nur die heutige Perspektive Neues an dem Film entdecken. Auch der Film kann heute dabei helfen, den Blick auf die Gegenwart zu schärfen. Angst essen Seele auf hätte sich auch zu den „wichtigsten“ Filmen des Neuen Deutschen Films zählen lassen.