"Sie kennen mich". Mit diesem Slogan gewann Angela Merkel 2013 den Wahlkampf. Sie hat ihr authentisches Auftreten stets geschickt in Szene gesetzt – zugleich hat sie mit althergebrachten Autoritätsvorstellungen gebrochen.

  • Jule Govrin

    Jule Govrin ist Philosoph:in und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie, Feministischer Philosophie und Ästhetik, aktuell arbeitet sie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zur politischen Dimension von Körpern und zu Verwundbarkeit als Modus der Gleichheit. Zu ihren Publikationen zählen "Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosphische Studie" (de Gryuter 2020) und „Politische Körper. Von Sorge und Solidarität“ ( Matthes & Seitz 2022). Neben ihrer Forschung ist sie als Redakteur:in bei Geschichte der Gegenwart tätig.

Da steht sie auf der Bühne, beim Wahl­abend 2021, fast verdeckt zwischen den anderen CDU-Politiker:innen, in bekannter Zurück­hal­tung. Während Kanz­ler­kan­didat Armin Laschet am Mikro­phon einen angeb­li­chen Regie­rungs­auf­trag beschwört, bleibt Angela Merkel an diesem Abend im Hinter­grund. Dieser Auftritt ist, wie viele ihrer derzei­tigen Auftritte, Teil eines lang­ge­zo­genen Abschieds von ihrer 16-jährigen Amts­zeit als Bundes­kanz­lerin. Es ist viel geschrieben worden, wie authen­tisch Angela Merkel auftritt. Man rühmte ihr erstaun­lich emotio­nales Auftreten während der Coro­na­krise. Man wert­schätzt ihre unprä­ten­tiöse Art. Wie wenig sie sich in den Vorder­grund stellt, wie boden­ständig ihre Ansprüche bleiben: die Datsche in der Ucker­mark, der alljähr­liche Urlaub in Tirol. Angela Merkels zurück­hal­tendes Auftreten entfaltet überaus starke Wirkungen. Wenige Politiker:innen können von sich sagen, dass man ihnen eine Geste als Allein­stel­lungs­merkmal zuspricht. Doch die ‚Merkel-Raute‘, das rauten­för­mige Anein­an­der­legen der Hände, ist derart bekannt und beliebt, dass sich sogar Olaf Scholz, Kanz­ler­kan­didat der SPD, dazu verleiten ließ, mit Raute für ein Titel­blatt zu posieren – wohl um seinen Anspruch kund­zutun, Merkels Nach­folge anzu­treten. Angela Merkel wirkt authen­tisch, gerade wegen ihrer beschei­denen, scheinbar unbe­hol­fenen Art in der Öffent­lich­keit. Was als ein Zuwenig an Insze­nie­rung daher­kommt, ist aller­dings auf höchst geschickte Weise in Szene gesetzt.

Die Nicht­in­sze­nie­rung als Inszenierung

Sympto­ma­tisch für die geschickte Authen­ti­zi­täts­in­sze­nie­rung ist ihr Spruch „Sie kennen mich.“ aus dem Wahl­kampf 2013, der insge­samt stark auf ihre Person zuge­schnitten war. Ein kurzer Satz, der so viel sugge­riert: Eine Vertrau­lich­keit und Vertraut­heit zwischen ihr und den Bürger:innen, die keinerlei Erklä­rungen bedarf. Eine Verläss­lich­keit, die keiner großen Worte benö­tigt. Was so simpel daher­kommt, entfacht enorme Sogkraft und beruht auf einer durch­dachten Medi­enstra­tegie. Für Barbara Hans, die zu Authen­ti­zität in der Politik arbeitet, ist Merkel „eben kein Gegen­bei­spiel poli­ti­scher Insze­nie­rungen, sondern der Inbe­griff poli­ti­scher Insze­nie­rung. Sie hat die Insze­nie­rung perfek­tio­niert.“  Wie Merkels Biograph Gerd Lang­guth so tref­fend fest­stellt, besteht in der vermeint­li­chen Nicht­in­sze­nie­rung ihre Insze­nie­rung. Eben darin liegt die hohe Kunst des authen­ti­schen Auftre­tens in der Politik: die Insze­nie­rung muss als solche verschleiert werden. Und Angela Merkel ist eine Meis­terin dieser Kunst. Gerade indem Ihr Auftreten ein Weniger anstatt ein Mehr an Macht­gesten anbietet, verschiebt es die gängigen Vorstel­lungen von poli­ti­scher Autorität.

Zur Verfalls­ge­schichte männ­li­cher Autorität

Auto­rität wird tradi­tio­nell mit Männ­lich­keit asso­zi­iert, woran die Philo­so­phinnen Hilge Land­weer und Cathe­rine Newmark erinnern:

Die klas­si­sche Begrün­dung für Auto­rität im poli­ti­schen Sinne beruht auf der Äqui­va­lenz­kette Gott – König – Fami­li­en­vater und gibt eine – tran­szen­dent einge­führte und deshalb als quasi-natürlich ange­se­hene – Herrschafts- und Gesell­schafts­ord­nung vor. Wie Gott-Vater über die Welt und seine Erdenkinder, so herrscht der König über sein Volk und der Fami­li­en­vater über seine Familie: gütig, weise – und unangefochten.

So über­kommen diese patri­ar­chale Auto­ri­täts­tra­di­tion ist, so wirk­mächtig bleibt die Vorstel­lungs­welt von poli­ti­scher Führer­schaft. Die Vorstel­lungen von Macht sind unauf­lös­lich mit den Bildern der Mäch­tigen verbunden, in den Sinn kommen zuvor­derst männ­liche, und größ­ten­teils weiße Führer­fi­guren: seien es tota­li­täre Herr­scher wie Hitler oder Stalin, aber auch berühmte Berufs­po­li­tiker wie Otto von Bismarck, Abraham Lincoln, John F. Kennedy. Führt man diese Liste in Rich­tung Gegen­wart fort, verän­dert sie sich: Neben Nelson Mandela und Barack Obama ließe sich Margret That­cher anführen, erste briti­sche Premier­mi­nis­terin, die sich die Aner­ken­nung ihrer Auto­rität mit neoli­be­raler Härte erkämpfte und als Iron Lady berühmt und berüch­tigt wurde. Dass die Auflis­tung an poli­ti­scher Auto­rität viel­fäl­tiger wird, liegt auch daran, dass sich die tradi­tio­nelle Auto­rität im Nieder­gang befindet. Denn ab der zweiten Hafte des 20. Jahr­hun­derts – spätes­tens ab den anti-autoritären Bewe­gungen rund um 1968 – zeigt sich die Geschichte der Auto­rität als Verfalls­ge­schichte, wie Hilge Land­weer und Cathe­rine Newmark schreiben. Doch auch unter sich verän­dernden Vorzei­chen wirkt Auto­rität weiterhin fort – nicht zuletzt aufgrund des Aufwinds, den auto­ri­ta­tive Kräfte erfahren.

Authen­ti­sches Auftreten in Zeiten des Politainments

Ein Merkmal, das für die Insze­nie­rung von Auto­rität seit der Aufklä­rung wichtig war, ist Glaub­wür­dig­keit. Wenn Macht nicht, wie im Falle des Königs, als Gott­ge­sandt­heit erscheint, sondern von demo­kra­ti­schen Wahlen abhängt, müssen die Gewählten möglichst glaub­würdig wirken, sie müssen vermit­teln, dass ihre Ansichten als private und als öffent­liche Person deckungs­gleich sind. Je wich­tiger es wird, Aufmerk­sam­keit zu erringen, umso gewich­tiger wird authen­ti­sches Auftreten. Im deutsch­spra­chigen Raum machte man in den 1990ern mit dem Einzug des ‚Medi­en­kanz­lers‘ Gerhard Schröder das Phänomen des Poli­tain­ments aus. Schröder aß Curry­wurst, forderte: „Hol‘ mir mal ‚ne Flasche Bier!“, trat nach seiner Amts­zeit in einer Koch-Show auf und posiert heut­zu­tage auf Insta­gram. Schrö­ders markige Anpa­ckerart setzt alther­ge­brachtes Männ­lich­keits­ge­baren in Szene, ange­fangen von der Anek­dote, dass er einst betrunken an den Stäben des Kanz­ler­amtes rüttelte und laut­stark kundtat: „Ich will da rein!“ Obwohl Schröder als Medi­en­marke einige Jahre lang punkten konnte, über­trumpfte ihn Merkel in der Elefan­ten­runde der Bundes­tags­wahl 2005. Schröder bekun­dete groß­spurig, er werde der neue Kanzler: Merkel sagte: nichts. Zog leicht die Brauen nach oben und schwieg. Kurz darauf wurde sie Kanz­lerin. Es ist genau diese ihr so eigene Art, sich zurück­zu­nehmen, die in den folgenden Jahren als ihre ganz eigene Authen­ti­zität bekannt und beliebt wurde.

Neue Sach­lich­keit

In Angela Merkels Anfangs­zeiten unter­schätzte man sie als ‚Kohls Mädchen‘, man machte sich über ihre Frisur lustig, brüs­kierte sich über ihr Dekol­leté, amüsierte sich über ihr Äußeres. All diese Zuschrei­bungen zeigen, wie stark in der Politik Auto­rität und Authen­ti­zität mit männ­li­chen Merk­malen asso­zi­iert werden. Die Körper der anzug­tra­genden Berufs­po­li­tiker bilden die unsicht­bare Norm, von der sich Angela Merkels Körper unwei­ger­lich abhob. Sogleich wurde er mit sämt­li­chen sexis­ti­schen Stereo­typen über­häuft, vor denen selbst eine so gnadenlos auto­ri­täre Poli­ti­kerin wie einst Margaret That­cher nicht gefeit war, viel­fach wurde die ‚Helm­frisur‘ der Iron Lady kommen­tiert. Merkel und ihr Stab bemühten sich zu Beginn ihrer Amts­zeit, ein möglichst neutrales Outfit zu entwerfen, das in jeden Rahmen passt und den Körper der Kanz­lerin der öffent­li­chen Aufmerk­sam­keit entzieht. Derweilen beharrte sie auf ihrem unprä­ten­tiösen Auftreten, das zunächst als Schwäche wahr­ge­nommen, jedoch schnell als Stärke gewert­schätzt wurde.

Gerade neben einem Donald Trump verkör­perte Merkel eine neue Sach­lich­keit, die dessen Provo­ka­tionen ins Leere laufen ließen. Trumps Präsi­dent­schaft, seine gesamte Medi­en­prä­senz bildet ein abschre­ckendes Para­de­bei­spiel dafür, wie stark die Insze­nie­rung von authen­ti­scher Auto­rität mit toxi­scher Männ­lich­keit verbunden ist. Seine Hire&Fire-Politik, seine aggres­sive, abwer­tende Art, die chole­ri­schen Ausfälle. Und selbst ein tech­no­kra­ti­scher Poli­tiker wie Emma­nuel Macron führt noch alte Auto­ri­täts­formen fort. Gegen­über den protes­tie­renden Gelb­westen gebär­dete er sich als Hard­liner, in der Pandemie präsen­tierte er sich in krie­ge­ri­scher Pose im Kampf gegen das Virus – alle­samt altba­ckene Männ­lich­keits­posen. Und Angela Merkel? Sprach von der Verwund­bar­keit, die wir teilen und die uns das Virus vor Augen führt.

Doch es ist nicht allein ihr öffent­li­ches Auftreten, das einen entschei­denden Unter­schied macht. Es ist ihre andere Art, Politik zu betreiben: In Verhand­lungen nicht in Bockig­keit zu verfallen, wie so manch einer ihrer inter­na­tio­nalen Kollegen, sondern im Gespräch zu bleiben. Keine Droh­ge­bärden zu machen, wie es Vladimir Putin tat, der, wohl wissend um Merkels Angst vor Hunden, beim Gespräch mit ihr seinen Hund herum­laufen ließ. Anders ist auch: Die Sorge- und Haus­ar­beit, die zumeist in die Hände von Frauen fällt und nicht als Arbeit aner­kannt wird, ein Stück weit in die Politik zu tragen. So sehr man ihre neoli­be­rale Phase kriti­sieren kann, sie machte die schwä­bi­sche Haus­frau zum wirt­schaft­li­chen Vorzei­ge­mo­dell. Und da sie frei­tags stets ihre Wochen­ein­käufe erle­digt, nahm Angela Merkel 2014 kurzer­hand ihrem Staats­gast, den chine­si­schen Minis­ter­prä­si­denten Li Keqian, mit in den Super­markt. In den letzten Monaten ihrer Amts­zeit hob sie sich deut­lich von der CDU-Riege ab. Während Armin Laschet und Markus Söder den Wahl­kampf geltungs­süchtig vergif­teten, konzen­trierte sie sich auf das Amts­ge­schäft. Als das Hoch­wasser im Ahrtal Menschen­leben mit sich riss und Ortschaften zerstörte, fiel Kanz­ler­kan­didat Laschet dadurch auf, dass er feixend mit seinen Kollegen im Hinter­grund stand, während Bundes­prä­si­dent Frank-Walter eine Ansprache hielt. Das prägendste Bild von Merkel war wohl, wie sie mit fester Hand Malu Dreyer stützte, der erkrankten Minis­ter­prä­si­dentin von Rheinland-Pfalz, und mir ihr durch die verwüs­teten Hoch­was­ser­ge­biete ging. Es sind eben diese Bilder, durch die sich Vorstel­lungen von Auto­rität verändern.

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Ein anderes Anlitz der Autorität

Margret That­cher, Indira Ghandi, Hillary Clinton, Rita Süss­muth, Angela Merkel, Michelle Obama, Dilma Roussef. Jacinda Ardern, Sarah Wagen­knecht, Alex­an­dria Ocasio-Cortez, Anna­lena Baer­bock – so unter­schied­lich ihre Ausrich­tungen und ihr Auftreten sind, auf ihre Arten und Weisen ändern sie alle­samt das Antlitz von Auto­rität. Nicht unbe­dingt, weil sie es wollen, schließ­lich war That­cher bemüht, tradi­tio­nelle Auto­rität auszu­üben. Doch unwei­ger­lich wandelt sich durch promi­nente Poli­ti­ke­rinnen das Aussehen der Auto­rität, wenn auch, wie im Falle That­chers, nicht zwangs­läufig zum Guten. Man möchte, bei aller berech­tigten Kritik an ihrer Regie­rung, anmerken: Im Fall von Angela Merkel verän­dern sich Auto­ri­täts­vor­stel­lungen zum Guten. Sie zeigt eine Politik auf, in der das Platz­hirsch­ver­halten und die vergif­tende Geltungs­sucht als Ballast aufscheinen, als kindi­sche Zänke­reien, für die es ange­sichts der vielen Krisen, nicht zuletzt ange­sichts der epochalen Klima­krise, keinen Raum mehr geben darf. Indem sie sich den großen Gesten der Macht, die in Zeiten des Rechts­rucks zunehmen, verwei­gert, führt sie eine andere Art der Auto­rität vor Augen. Ihr Beitrag liegt in ihrem Willen, Probleme zu lösen, anstatt sich als Person zu profi­lieren. Während ihrer letzten Sommer­pres­se­kon­fe­renz wurde sie gefragt, welche Unter­schiede sie zwischen Poli­ti­ke­rinnen und Poli­ti­kern sehe. Sie antwor­tete, dass es auch unter Frauen in der Politik große Unter­schiede gebe, dass es schwer möglich sei, zwischen den Geschlech­tern klare Charak­te­ris­tika auszu­ma­chen. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu, dass sie tenden­ziell bei Poli­ti­ke­rinnen eine größere Sehn­sucht nach Effi­zienz erkenne. Geschlech­ter­theo­re­tisch trifft ihre Einschät­zung zu, dass es keine Wahr­heit des Geschlechts gibt, keine ewig weib­li­chen Wesens­züge. Wohl aber geht es um Habitus, um Haltung und Verhalten.

Ein Feld wie die Politik, das stark durch einen männ­li­chen Habitus geprägt ist, erfor­dert von Poli­ti­ke­rinnen einen habi­tu­ellen Bruch: Sie müssen andere Formen des Auftre­tens und Agie­rens finden und erfinden. So etabliert Poli­ti­ke­rinnen wie Merkel oder Clinton inzwi­schen erscheinen, der eben been­dete Wahl­kampf machte deut­lich, wie stark Auto­rität mit Männ­lich­keit verbunden bleibt. Während sich die Kanz­ler­kan­di­daten Olaf Scholz und Armin Laschet in den TV-Triellen mitein­ander kebbelten oder alten Sermon mit neu entdecktem Voka­bular versahen (‚Markt entfes­seln‘ bei Laschet und ‚Respekt‘ bei Scholz), gab Anna­lena Baer­bock wohl­in­for­mierte Antworten und machte, gerade mit Blick auf Klima­po­litik, konkrete Vorschläge. Das brachte ihr bei den Zuschau­um­fragen zwar den höchsten Sympa­thie­wert ein, zugleich wurde sie als am wenigsten kompe­tent bewertet. Angela Merkel dürfte solch eine Bewer­tung bekannt vorkommen. Man darf gespannt sein, welche Beob­ach­tungen sie nach ihrer Amts­zeit teilen wird, in leisen, scharf­sin­nigen Sätzen.