Da steht sie auf der Bühne, beim Wahlabend 2021, fast verdeckt zwischen den anderen CDU-Politiker:innen, in bekannter Zurückhaltung. Während Kanzlerkandidat Armin Laschet am Mikrophon einen angeblichen Regierungsauftrag beschwört, bleibt Angela Merkel an diesem Abend im Hintergrund. Dieser Auftritt ist, wie viele ihrer derzeitigen Auftritte, Teil eines langgezogenen Abschieds von ihrer 16-jährigen Amtszeit als Bundeskanzlerin. Es ist viel geschrieben worden, wie authentisch Angela Merkel auftritt. Man rühmte ihr erstaunlich emotionales Auftreten während der Coronakrise. Man wertschätzt ihre unprätentiöse Art. Wie wenig sie sich in den Vordergrund stellt, wie bodenständig ihre Ansprüche bleiben: die Datsche in der Uckermark, der alljährliche Urlaub in Tirol. Angela Merkels zurückhaltendes Auftreten entfaltet überaus starke Wirkungen. Wenige Politiker:innen können von sich sagen, dass man ihnen eine Geste als Alleinstellungsmerkmal zuspricht. Doch die ‚Merkel-Raute‘, das rautenförmige Aneinanderlegen der Hände, ist derart bekannt und beliebt, dass sich sogar Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, dazu verleiten ließ, mit Raute für ein Titelblatt zu posieren – wohl um seinen Anspruch kundzutun, Merkels Nachfolge anzutreten. Angela Merkel wirkt authentisch, gerade wegen ihrer bescheidenen, scheinbar unbeholfenen Art in der Öffentlichkeit. Was als ein Zuwenig an Inszenierung daherkommt, ist allerdings auf höchst geschickte Weise in Szene gesetzt.
Die Nichtinszenierung als Inszenierung
Symptomatisch für die geschickte Authentizitätsinszenierung ist ihr Spruch „Sie kennen mich.“ aus dem Wahlkampf 2013, der insgesamt stark auf ihre Person zugeschnitten war. Ein kurzer Satz, der so viel suggeriert: Eine Vertraulichkeit und Vertrautheit zwischen ihr und den Bürger:innen, die keinerlei Erklärungen bedarf. Eine Verlässlichkeit, die keiner großen Worte benötigt. Was so simpel daherkommt, entfacht enorme Sogkraft und beruht auf einer durchdachten Medienstrategie. Für Barbara Hans, die zu Authentizität in der Politik arbeitet, ist Merkel „eben kein Gegenbeispiel politischer Inszenierungen, sondern der Inbegriff politischer Inszenierung. Sie hat die Inszenierung perfektioniert.“ Wie Merkels Biograph Gerd Langguth so treffend feststellt, besteht in der vermeintlichen Nichtinszenierung ihre Inszenierung. Eben darin liegt die hohe Kunst des authentischen Auftretens in der Politik: die Inszenierung muss als solche verschleiert werden. Und Angela Merkel ist eine Meisterin dieser Kunst. Gerade indem Ihr Auftreten ein Weniger anstatt ein Mehr an Machtgesten anbietet, verschiebt es die gängigen Vorstellungen von politischer Autorität.
Zur Verfallsgeschichte männlicher Autorität
Autorität wird traditionell mit Männlichkeit assoziiert, woran die Philosophinnen Hilge Landweer und Catherine Newmark erinnern:
Die klassische Begründung für Autorität im politischen Sinne beruht auf der Äquivalenzkette Gott – König – Familienvater und gibt eine – transzendent eingeführte und deshalb als quasi-natürlich angesehene – Herrschafts- und Gesellschaftsordnung vor. Wie Gott-Vater über die Welt und seine Erdenkinder, so herrscht der König über sein Volk und der Familienvater über seine Familie: gütig, weise – und unangefochten.
So überkommen diese patriarchale Autoritätstradition ist, so wirkmächtig bleibt die Vorstellungswelt von politischer Führerschaft. Die Vorstellungen von Macht sind unauflöslich mit den Bildern der Mächtigen verbunden, in den Sinn kommen zuvorderst männliche, und größtenteils weiße Führerfiguren: seien es totalitäre Herrscher wie Hitler oder Stalin, aber auch berühmte Berufspolitiker wie Otto von Bismarck, Abraham Lincoln, John F. Kennedy. Führt man diese Liste in Richtung Gegenwart fort, verändert sie sich: Neben Nelson Mandela und Barack Obama ließe sich Margret Thatcher anführen, erste britische Premierministerin, die sich die Anerkennung ihrer Autorität mit neoliberaler Härte erkämpfte und als Iron Lady berühmt und berüchtigt wurde. Dass die Auflistung an politischer Autorität vielfältiger wird, liegt auch daran, dass sich die traditionelle Autorität im Niedergang befindet. Denn ab der zweiten Hafte des 20. Jahrhunderts – spätestens ab den anti-autoritären Bewegungen rund um 1968 – zeigt sich die Geschichte der Autorität als Verfallsgeschichte, wie Hilge Landweer und Catherine Newmark schreiben. Doch auch unter sich verändernden Vorzeichen wirkt Autorität weiterhin fort – nicht zuletzt aufgrund des Aufwinds, den autoritative Kräfte erfahren.
Authentisches Auftreten in Zeiten des Politainments
Ein Merkmal, das für die Inszenierung von Autorität seit der Aufklärung wichtig war, ist Glaubwürdigkeit. Wenn Macht nicht, wie im Falle des Königs, als Gottgesandtheit erscheint, sondern von demokratischen Wahlen abhängt, müssen die Gewählten möglichst glaubwürdig wirken, sie müssen vermitteln, dass ihre Ansichten als private und als öffentliche Person deckungsgleich sind. Je wichtiger es wird, Aufmerksamkeit zu erringen, umso gewichtiger wird authentisches Auftreten. Im deutschsprachigen Raum machte man in den 1990ern mit dem Einzug des ‚Medienkanzlers‘ Gerhard Schröder das Phänomen des Politainments aus. Schröder aß Currywurst, forderte: „Hol‘ mir mal ‚ne Flasche Bier!“, trat nach seiner Amtszeit in einer Koch-Show auf und posiert heutzutage auf Instagram. Schröders markige Anpackerart setzt althergebrachtes Männlichkeitsgebaren in Szene, angefangen von der Anekdote, dass er einst betrunken an den Stäben des Kanzleramtes rüttelte und lautstark kundtat: „Ich will da rein!“ Obwohl Schröder als Medienmarke einige Jahre lang punkten konnte, übertrumpfte ihn Merkel in der Elefantenrunde der Bundestagswahl 2005. Schröder bekundete großspurig, er werde der neue Kanzler: Merkel sagte: nichts. Zog leicht die Brauen nach oben und schwieg. Kurz darauf wurde sie Kanzlerin. Es ist genau diese ihr so eigene Art, sich zurückzunehmen, die in den folgenden Jahren als ihre ganz eigene Authentizität bekannt und beliebt wurde.
Neue Sachlichkeit
In Angela Merkels Anfangszeiten unterschätzte man sie als ‚Kohls Mädchen‘, man machte sich über ihre Frisur lustig, brüskierte sich über ihr Dekolleté, amüsierte sich über ihr Äußeres. All diese Zuschreibungen zeigen, wie stark in der Politik Autorität und Authentizität mit männlichen Merkmalen assoziiert werden. Die Körper der anzugtragenden Berufspolitiker bilden die unsichtbare Norm, von der sich Angela Merkels Körper unweigerlich abhob. Sogleich wurde er mit sämtlichen sexistischen Stereotypen überhäuft, vor denen selbst eine so gnadenlos autoritäre Politikerin wie einst Margaret Thatcher nicht gefeit war, vielfach wurde die ‚Helmfrisur‘ der Iron Lady kommentiert. Merkel und ihr Stab bemühten sich zu Beginn ihrer Amtszeit, ein möglichst neutrales Outfit zu entwerfen, das in jeden Rahmen passt und den Körper der Kanzlerin der öffentlichen Aufmerksamkeit entzieht. Derweilen beharrte sie auf ihrem unprätentiösen Auftreten, das zunächst als Schwäche wahrgenommen, jedoch schnell als Stärke gewertschätzt wurde.
Gerade neben einem Donald Trump verkörperte Merkel eine neue Sachlichkeit, die dessen Provokationen ins Leere laufen ließen. Trumps Präsidentschaft, seine gesamte Medienpräsenz bildet ein abschreckendes Paradebeispiel dafür, wie stark die Inszenierung von authentischer Autorität mit toxischer Männlichkeit verbunden ist. Seine Hire&Fire-Politik, seine aggressive, abwertende Art, die cholerischen Ausfälle. Und selbst ein technokratischer Politiker wie Emmanuel Macron führt noch alte Autoritätsformen fort. Gegenüber den protestierenden Gelbwesten gebärdete er sich als Hardliner, in der Pandemie präsentierte er sich in kriegerischer Pose im Kampf gegen das Virus – allesamt altbackene Männlichkeitsposen. Und Angela Merkel? Sprach von der Verwundbarkeit, die wir teilen und die uns das Virus vor Augen führt.
Doch es ist nicht allein ihr öffentliches Auftreten, das einen entscheidenden Unterschied macht. Es ist ihre andere Art, Politik zu betreiben: In Verhandlungen nicht in Bockigkeit zu verfallen, wie so manch einer ihrer internationalen Kollegen, sondern im Gespräch zu bleiben. Keine Drohgebärden zu machen, wie es Vladimir Putin tat, der, wohl wissend um Merkels Angst vor Hunden, beim Gespräch mit ihr seinen Hund herumlaufen ließ. Anders ist auch: Die Sorge- und Hausarbeit, die zumeist in die Hände von Frauen fällt und nicht als Arbeit anerkannt wird, ein Stück weit in die Politik zu tragen. So sehr man ihre neoliberale Phase kritisieren kann, sie machte die schwäbische Hausfrau zum wirtschaftlichen Vorzeigemodell. Und da sie freitags stets ihre Wocheneinkäufe erledigt, nahm Angela Merkel 2014 kurzerhand ihrem Staatsgast, den chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqian, mit in den Supermarkt. In den letzten Monaten ihrer Amtszeit hob sie sich deutlich von der CDU-Riege ab. Während Armin Laschet und Markus Söder den Wahlkampf geltungssüchtig vergifteten, konzentrierte sie sich auf das Amtsgeschäft. Als das Hochwasser im Ahrtal Menschenleben mit sich riss und Ortschaften zerstörte, fiel Kanzlerkandidat Laschet dadurch auf, dass er feixend mit seinen Kollegen im Hintergrund stand, während Bundespräsident Frank-Walter eine Ansprache hielt. Das prägendste Bild von Merkel war wohl, wie sie mit fester Hand Malu Dreyer stützte, der erkrankten Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und mir ihr durch die verwüsteten Hochwassergebiete ging. Es sind eben diese Bilder, durch die sich Vorstellungen von Autorität verändern.
Ein anderes Anlitz der Autorität
Margret Thatcher, Indira Ghandi, Hillary Clinton, Rita Süssmuth, Angela Merkel, Michelle Obama, Dilma Roussef. Jacinda Ardern, Sarah Wagenknecht, Alexandria Ocasio-Cortez, Annalena Baerbock – so unterschiedlich ihre Ausrichtungen und ihr Auftreten sind, auf ihre Arten und Weisen ändern sie allesamt das Antlitz von Autorität. Nicht unbedingt, weil sie es wollen, schließlich war Thatcher bemüht, traditionelle Autorität auszuüben. Doch unweigerlich wandelt sich durch prominente Politikerinnen das Aussehen der Autorität, wenn auch, wie im Falle Thatchers, nicht zwangsläufig zum Guten. Man möchte, bei aller berechtigten Kritik an ihrer Regierung, anmerken: Im Fall von Angela Merkel verändern sich Autoritätsvorstellungen zum Guten. Sie zeigt eine Politik auf, in der das Platzhirschverhalten und die vergiftende Geltungssucht als Ballast aufscheinen, als kindische Zänkereien, für die es angesichts der vielen Krisen, nicht zuletzt angesichts der epochalen Klimakrise, keinen Raum mehr geben darf. Indem sie sich den großen Gesten der Macht, die in Zeiten des Rechtsrucks zunehmen, verweigert, führt sie eine andere Art der Autorität vor Augen. Ihr Beitrag liegt in ihrem Willen, Probleme zu lösen, anstatt sich als Person zu profilieren. Während ihrer letzten Sommerpressekonferenz wurde sie gefragt, welche Unterschiede sie zwischen Politikerinnen und Politikern sehe. Sie antwortete, dass es auch unter Frauen in der Politik große Unterschiede gebe, dass es schwer möglich sei, zwischen den Geschlechtern klare Charakteristika auszumachen. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu, dass sie tendenziell bei Politikerinnen eine größere Sehnsucht nach Effizienz erkenne. Geschlechtertheoretisch trifft ihre Einschätzung zu, dass es keine Wahrheit des Geschlechts gibt, keine ewig weiblichen Wesenszüge. Wohl aber geht es um Habitus, um Haltung und Verhalten.
Ein Feld wie die Politik, das stark durch einen männlichen Habitus geprägt ist, erfordert von Politikerinnen einen habituellen Bruch: Sie müssen andere Formen des Auftretens und Agierens finden und erfinden. So etabliert Politikerinnen wie Merkel oder Clinton inzwischen erscheinen, der eben beendete Wahlkampf machte deutlich, wie stark Autorität mit Männlichkeit verbunden bleibt. Während sich die Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und Armin Laschet in den TV-Triellen miteinander kebbelten oder alten Sermon mit neu entdecktem Vokabular versahen (‚Markt entfesseln‘ bei Laschet und ‚Respekt‘ bei Scholz), gab Annalena Baerbock wohlinformierte Antworten und machte, gerade mit Blick auf Klimapolitik, konkrete Vorschläge. Das brachte ihr bei den Zuschauumfragen zwar den höchsten Sympathiewert ein, zugleich wurde sie als am wenigsten kompetent bewertet. Angela Merkel dürfte solch eine Bewertung bekannt vorkommen. Man darf gespannt sein, welche Beobachtungen sie nach ihrer Amtszeit teilen wird, in leisen, scharfsinnigen Sätzen.