Identitätspolitik muss derzeit für vieles herhalten – in den USA mehr noch als auf dieser Seite des Atlantiks. Von unterschiedlichen politischen Positionen aus wird einer „emanzipatorisch“ und vielleicht „links“ zu nennenden Identitätspolitik vorgehalten, sich um Befindlichkeiten zu drehen und den Blick für das Wesentliche zu vernebeln, US-amerikanische Geschichte zu verzerren und eine Traumatisierung weißer und straighter Amerikaner:innen und ihrer Kinder zu bewirken, populistische, reaktionäre Politiken zu befeuern und so die Gesellschaft zu spalten.
Gleichheit statt Gefühligkeit

Ta-Nehisi Coates; Quelle: thaatlantic.com

Quelle: amazon.in
Eine Geschichte der Gegenwart entzieht dieser Kritik den Boden. Sie kann erstens zeigen, dass emanzipatorische Identitätspolitik auf eine politische Praxis reagiert, die in Rückbindung an identitär gedachte Kategorien wie Geschlecht, Begehren und Hautfarbe über Jahrhunderte gesellschaftliche Hegemonieverhältnisse hervorgebracht, Privilegien etabliert, Menschen ausgegrenzt und ihrerseits Gesellschaft gespalten hat. Der prominente afroamerikanische Essayist Ta-Nehisi Coates bezeichnet vor allem die Politiken weißer Privilegierung als „America’s original identity politics.“ Im Jahr 1977 machten die Frauen des Combahee River Collective „Identität“ ja genau deshalb zum Ausgangspunkt ihrer Politik, um so die an ihr Schwarz-, Frau- und Lesbischsein gekoppelten Unterdrückungsverhältnisse in der US-amerikanischen Gesellschaft aufzubrechen, die historisch tief verankerte gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und eine Anerkennung als gleichberechtigte Menschen zu erkämpfen.
Ein historisierender Blick auf Identitätspolitik zeigt zweitens, dass sich diese nicht auf bloße Befindlichkeiten richtet. Vollumfängliche Anerkennung bedeutet gleichberechtigte Teilhabe an Gesellschaft und ihrer Gestaltung, an den Möglichkeiten, Sicherheiten und Ressourcen, die sie bietet. Identitätspolitik zielt also auf knallharte Realitäten wie Gesundheit, Schutz vor Gewalt, Zugang zum Recht und zu Bildung, Einkommen, Eigentum und mehr. Diese als Befindlichkeit und nicht wesentlich abzutun, heißt, existenziellen Bedürfnissen aus einer privilegierten Position heraus die Anerkennung zu verweigern.
‚Racial wealth gap‘
Eine dieser Realitäten ist der „racial wealth gap“. Im 21. Jahrhundert besitzt eine durchschnittliche Schwarze Familie nur etwa 7% des Eigentums einer durchschnittlichen weißen Familie. Dieses gegenwärtige Ungleichheitsverhältnis ist ein Effekt historischer Politiken, die über Identitätskategorien operiert haben, weiße Privilegierung und Schwarze Ausgrenzung in die US-amerikanische Gesellschaft eingefräst haben und deren Spuren bis in das 17. Jahrhundert zurückführen. Das Recht auf Eigentum ist eines der zentralen US-amerikanischen Versprechen an alle Menschen, doch in der Möglichkeit, dieses Versprechen für sich einzulösen, sind Schwarze Amerikaner:innen systematisch benachteiligt und weiße bevorteilt worden. Der Blick auf drei Schlüsselmomente in der Geschichte von race und Eigentum, nämlich 1669, 1789 und 1865, vermag die Wirkungsweise dieser, so Coates, „original identity politics“ zu verdeutlichen und emanzipatorische Identitätspolitik historisch zu perspektivieren.
1669
Im Jahr 1669 einigten sich die acht Eigentümer der britischen Kolonie Carolina auf ein schriftliches Dokument, das regelte, wie die Kolonie organisiert werden sollte. Der 110. Artikel der sogenannten Fundamental Constitutions of Carolina gab jedem freien Siedler das Recht, Schwarze Menschen zu versklaven. Wörtlich heißt es dort: „Every freeman of Carolina shall have absolute power and authority over his negro slaves.” Die Freiheit der einen war also mit Macht und Autorität, der Ausbeutung und dem Besitz anderer verbunden und de facto als weißes Recht konzipiert.

John Locke (1632-1704), Porträt von Godfrey Kneller, 1697; Quelle: wikipedia.org
Zunächst einmal kann dieser Artikel 110 nicht wirklich überraschen. Denn koloniale Expansion und Versklavung waren auf das engste miteinander verquickt. Zudem sollte keine andere der letztlich 13 britischen Kolonien in Nordamerika so sehr auf Versklavung bauen, wie die beiden Carolinas, insbesondere Südcarolina. Trotzdem haben deren Fundamental Constitutions mit ihrem Passus zur Sklaverei bis heute immer wieder besonders große Aufmerksamkeit bekommen. Der Grund dafür ist, dass sie von niemand anderem verfasst worden sind als von John Locke. Der englische Philosoph gilt mit seinen Two Treatises of Government (1689) als Wegbereiter einer freiheitlichen Gesellschafts- und Verfassungsordnung und Erfinder des liberalen Besitzindividualismus – also der Vorstellung, dass jeder Mensch nur sich selbst gehöre und ein unveräußerliches Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum habe.
Im Jahr 1669 arbeitete Locke als Sekretär für die Eigentümer der Carolinas, und er hat deren Fundamental Constitutions mitgestaltet und geschrieben. Danach war er für den Council on Foreign Plantations tätig, ein von der britischen Krone eingesetztes Gremium, um den Handel mit den Überseekolonien voranzutreiben. Vom Council ließ sich Locke mit Anteilen an der Royal African Company bezahlen, die ein großer Player im globalen Sklavenhandel war.
Die ideengeschichtliche Forschung streitet über die direkte Verbindung von Lockes Arbeit um 1670, als er die Sklaverei guthieß und an dieser verdiente, zu den 1680er Jahren, als er zu dem Cheftheoretiker liberaler Regierung wurde. Und sie streitet über Lockes persönliche Schuld. Entscheidender ist allerdings, dass die verschiedenen Arbeiten Lockes offenlegen, wie sich zwischen 1669 und 1689 ein diskursiver und politischer Raum öffnete, in dem ein unveräußerliches Recht aller Menschen auf „life, health, liberty, and possessions“ mit der Versklavung Schwarzer Menschen vereinbar schien. Dieser Raum wird nur erfassbar, wenn wir race als Kategorie einbeziehen, von der politische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe abgeleitet wurden. Während Weißsein als identitärer Marker an das Recht auf Freiheit, Unversehrtheit und Eigentum gebunden wurde, konnte Schwarzsein bedeuten, unfrei und absoluter Macht unterworfen zu sein, nicht Eigentum zu besitzen, sondern Eigentum zu sein.
1789
Am 9. März 1789 trat die US-amerikanische Verfassung in Kraft. „We the people of the United States“ sollten, so ihre Präambel, den Segen der Freiheit genießen dürfen. Dafür schuf man in bester Locke’scher Manier eine Verfassung, die die drei Gewalten voneinander trennte. Der erste Artikel der Verfassung konstituiert die gesetzgebende Gewalt. Die Zahl der Delegierten, die jeder Staat in das nationale Repräsentantenhaus entsenden durfte, wurde dabei von der Zahl der Einwohner:innen des jeweiligen Staates abhängig gemacht. Entscheidend war die Frage, wen man wie mitzählte. Die Zahl sollte bestimmt werden, so Artikel 1, “by adding to the whole Number of free Persons […] three fifths of all other Persons”. Da es für American Indians und Menschen in temporärer Knechtschaft Sonderregeln gab, bezeichnete „other persons“ in der sogenannten 3/5-Regel ausschließlich Schwarze Sklav:innen. Die Verfassung zog also eine Trennlinie zwischen den Menschen, die politisch voll zählten, und denjenigen, die nicht voll zählten, und zwar entlang von race und dem Verhältnis von Person und Eigentum. Wenn also von „we the people“ die Rede war, waren versklavte Schwarze nicht gemeint. Mehr noch: Die Verfassung gestand weißen Sklavenhaltern zu, die andere Menschen als ihr Eigentum betrachteten und sie ihrer Rechte beraubten, in der wichtigsten nationalen politischen Körperschaft überproportional repräsentiert zu sein. Für South Carolina z.B. bedeutete die 3/5-Regel etwa 50% mehr Sitze im Repräsentantenhaus.
Die an der Verfassungsgebung beteiligten Kräfte hatten um die Versklavung insgesamt sowie um diesen Passus lange gerungen. Letztlich war den Eigentumsrechten weißer Sklavenhalter größeres Gewicht beigemessen worden als dem Freiheitsrecht Schwarzer Menschen. Mehr noch: Das Argument weißer Sklavenhalter, dass Freiheit vor allem das Recht auf Eigentum bedeutete und dies auch das Eigentum an anderen Menschen sein konnte, war politisch und verfassungsrechtlich validiert worden. Bei allen Zwischentönen, die die politische und alltägliche Praxis fortan zuließen, waren Freiheit, das Recht auf Eigentum sowie das Recht und die Befähigung zur politischen Teilhabe grundsätzlich weiß und auch männlich gedacht.
1865

General William T. Sherman, 1863; Quelle: washingtonpost.com
Am 12. Januar 1865 trafen sich zwanzig Vertreter der Black Community in Savannah in Georgia mit Major General William Tecumseh Sherman. Die Unionstruppen unter Sherman waren im Amerikanischen Bürgerkrieg auf ihrem Marsch durch den Süden bis an die Küste Georgias vorgedrungen. Gefolgt waren ihnen mehr und mehr ehemals Versklavte, deren Zahl am Ende in die Tausende ging. Das Treffen in Savannah sollte klären, wie sie ein Leben in Freiheit würden führen können. Vier Tage nach dem Treffen gab Sherman den Befehl, große Landgebiete an der Küste Georgias zu konfiszieren und an Schwarze Familien zu verteilen; 40 Acre (16 Hektar bzw. 160.000 m2) an jede Familie, und dazu sollte es ein altes Maultier von der Unionsarmee geben.
Die Freiheit, die mit dem Ende der Versklavung kam, sollte also mehr bedeuten, als sich selbst zu besitzen. Auch Land sollten die ehemals Versklavten ihr Eigentum nennen können. Im Laufe des Bürgerkrieges hatten freie Schwarze regelmäßig gefordert, das Land der Plantagen zu bekommen, auf denen sie versklavt worden waren. Schließlich hatten sie mit ihren Körpern und den Körpern ihrer Lieben dafür bezahlt; und sie hatten den Boden mit ihren eigenen Händen bestellt. Shermans sogenannte „Field Order No. 15“ war die erste offizielle Anerkennung dieser Forderungen, also des Rechtes ehemaliger Versklavter auf Eigentum. Sie sollte als „40 acres and a mule“ fortan für diese Forderung stehen, und zwar bis in unsere Gegenwart: Der seit 1989 bis heute jedes Jahr wieder eingebrachte Gesetzentwurf zur Forderung von Reparationen für Nachfahr:innen von Versklavten heißt H.R.40.

Baumwollplantage in Mississippi, spätes 19. Jhd.; Quelle: posterazzi.com
H.R.40 erinnert nicht nur an die Forderung, sondern zugleich daran, dass sie unerfüllt blieb. Denn am 29. Mai 1865, also kein halbes Jahr nach Shermans Zusage, erklärte der neue US-Präsident Andrew Johnson, ein Mann des Südens, die Amnestie für die Konföderierten. Das war das Ende von „40 acres and a mule”. Tausende Schwarze Familien wurden in den folgenden Monaten von ihrem Land vertrieben. Die meisten arbeiteten bald als sogenannte “sharecropper“ wieder für ehemalige Sklavenhalter. Vielen Händlern und Investoren aus dem Norden war das nur allzu recht. Denn ein den alten Großplantagen ähnliches Produktionssystem schien eher zu gewährleisten, dass Baumwolle aus den USA wieder ein Faktor auf dem Weltmarkt würde. Sally Dixon, eine ehemals Versklavte aus Macon in Georgia, erinnerte sich später: „We was told when we got freed we was going to get forty acres of land and a mule. Stead of that we didn‘t get nothing.”
Zurück in die Gegenwart
Kehren wir mit Dixon im Ohr zurück in die Gegenwart. Zwar können Schwarze Amerikaner:innen seit 1865 nicht mehr als das Eigentum anderer angesehen werden. Bemerkenswert ist aber die Beharrlichkeit, mit der ihnen fortan die Möglichkeit der Eigentumsbildung – und damit das „Streben nach Glück“ – verweigert worden ist: vom Sharecropping über das Redlining und Contract Selling zur GI Bill, zur exklusiv weißen Vervorstädterung und weiter zu dem, was man heute als “predatory inclusion” diskutiert, also der räuberischen Ausbeutung des Wunsches nach Eigentum und Teilhabe. Seit 1865 bis heute hat die Eigentumsordnung weiter über race operiert und auf diese Weise orchestriert, wer für sich wie und unter welchen Bedingungen das zentrale US-amerikanische Versprechen einlösen kann.
Solche systemischen, langfristig mit race verkoppelten Ungleichheiten arbeitet seit geraumer Zeit die Critical Race Theory heraus. Historisch haben sich Critical Race Theory und emanzipatorische Identitätspolitik gemeinsam entfaltet; politisch verfolgen sie die gleichen Ziele, nämlich bestehende Hegemonieverhältnisse zu markieren und aufzubrechen, Ungleichheiten zu beseitigen und auf Chancengleichheit und die gleichberechtigte Teilhabe alle Menschen hinzuwirken. In Form der jüngst so virulenten Debatte über „racial capitalism“ dringen entsprechende ökonomische Fragen bis in die etablierten geschichtswissenschaftlichen Foren vor.
Zugleich sind in den letzten Jahren in über der Hälfte aller US-Staaten Gesetze und Verordnungen verabschiedet worden, die verbieten, Critical Race Theory an Schulen oder Colleges zu unterrichten. Ein entsprechendes Gesetz im Staat Florida trägt den Titel „HB 7: Individual Freedom“, und es heißt, so solle die Freiheit der (weißen) US-Amerikaner:innen geschützt werden. Wieder bedeutet die Freiheit der einen die Ausgrenzung der anderen. Ihnen soll untersagt werden, sich, ihren Analysen und Positionen Gehör zu verschaffen, sich in den Diskurs einzuschreiben, emanzipatorische Politik zu betreiben und strukturellen Rassismus zu verstehen und zu beenden.
Im August und November 2022 hat der United States District Court für das nördliche Florida den „Individual Freedom Act” für verfassungswidrig erklärt und zunächst gestoppt, weil er die Meinungs- und Äußerungsfreiheit einschränke. Der Staat Florida und sein Gouverneur und möglicher US-Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis wollen gegen die Urteile Berufung einlegen und die Zensur beibehalten.
Gesetze wie Floridas „Individual Freedom-Act“ stehen somit in der Tradition all der Strategien und Taktiken, Maßnahmen und Politiken in der US-amerikanischen Geschichte, die eine rassifizierte Eigentumsordnung perpetuiert haben und die Ta-Nehisi Coates als „original identity politics“ bezeichnet hat. Denn die ungleiche Eigentumsverteilung wird nie ernsthaft verändert werden können, wenn man sich nicht deren tiefe Verankerung in der US-amerikanischen Geschichte und Gesellschaft vor Augen führen darf.