Am 17. Juni 2015 ermordete Dylann Roof im Keller einer Kirche in Charleston, South Carolina, neun Menschen. Zwölf Gemeindemitglieder hatten sich um 20 Uhr zum Bibelstudium in der Emanuel African Methodist Episcopal Church getroffen, die zu den historisch bedeutsamen AME-Kirchen gehört. Die AME-Gemeinden haben seit dem 18. Jahrhundert für eine Gleichstellung von Schwarz und Weiß gekämpft. Die Bibelgruppe unterhielt sich über eine Stelle im Neuen Testament: „Der Sämann sät das Wort. Diese sind’s aber, die an dem Wege sind: Wo das Wort gesät wird und sie es gehört haben, so kommt alsbald der Satan und nimmt weg das Wort, das in ihr Herz gesät war.“ (Markus 4: 13)
Um 20.20 Uhr betrat ein junger Mann den Raum, ein schmaler weißer Junge in Dickies-Hosen und mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Er saß 30 Minuten stumm bei den anderen. Gegen Ende des Treffens um ca. 21 Uhr, als die zwölf Gläubigen ein Abschiedsgebet sprachen, zog Roof eine Pistole aus dem Rucksack und erschoss den Geistlichen und Senator im Oberhaus des Staates, Clementa Pinckney, mit drei Schüssen aus nächster Nähe. Reverend Daniel Simmons, ein 75-jähriger Armeeveteran, versuchte, seinem Kollegen zu helfen und wurde mit vier Schüssen getötet. Dylann Roof lud seine Glock.45 nach und schritt von Tisch zu Tisch, wobei er die am Boden kauernden Menschen seelenruhig erschoss. Myra Thompson wurde von acht Kugeln durchbohrt, Susie Jackson von elf. Für die Bibliothekarin Cynthia Hurd benötigte er sechs Schüsse. Er lud sieben Mal nach und verschoss insgesamt 77 Patronen. Nach Aussagen der Überlebenden verhielt er sich vollkommen ruhig und gesammelt. Er sagte nur vier Sätze: „Halts Maul“ (zu einer Frau, die anfing zu beten), „Ich muss das machen, weil ihr alle unsere Frauen vergewaltigt und ihr die Welt beherrschen wollt“ (zu Tywanza Sanders, 26, einem Dichter und Rapper, den er nach seiner Erklärung umbrachte), „Hab ich Dich immer noch nicht erwischt?“ (zu Polly Sheppard, die mit „Nein“ antwortete), worauf Roof bemerkte: „Ich werd Dich auch nicht erschießen, denn ich will, dass Du die Geschichte erzählst.“

Blumen am Ort des Verbrechens, Charleston, South Carolina; Quelle: ibtimes.com
Am nächsten Morgen wurde Roof in Shelby, einer Stadt in North Carolina, gestellt. Er leistete keinen Widerstand und gab seine Personalien an. Dies war kein „Amoklauf“ oder die Tat eines Geistesgestörten. Roof verfügt nach Aussagen der Gerichtsmediziner über einen IQ von 141 und ist voll zurechnungsfähig. Dies war die Tat eines Rassisten, der alles Deutsche liebt und in der Zelle Zeichnungen mit der Odal-Rune, der Lebensrune und den SS-Runen verzierte. Er war ein regelmäßiger Gast und Beiträger auf der Webseite der weißen Suprematisten „Stormfront“ und zeichnete dort unter dem Namen „LilAryan“. Am 17.2.2015 schrieb er dort unter anderem: „Ich würde gerne ausführen, warum ich mit Ian nicht übereinstimme. Ich glaube, dass ich mich im Rassismus sehr gut auskenne.”
Weiße Suprematisten
Die geschilderte Tat und die ihr entsprechende Gesinnung sind Teil einer technischen und diskursiven Infrastruktur, die seit den 1990er Jahren massiv aufgerüstet wurde. Immer häufiger bedienen sich amerikanische Neonazis nicht nur der sozialen Medien, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie zeichnen auch verantwortlich für eine Reihe von Foren auf dem Internet, die dem Zugriff des Staates entzogen sind und regelmäßig zu Gewalttaten aufrufen.

Ku Klux Klan Imperial Wizard Don Black (Mitte) in Winnsboro, Texas, September 1982; Quelle: nymag.com
„Stormfront“ ist eine solche Webseite der „weißen Suprematisten“, die man getrost als Neonazis bezeichnen kann. Gegründet wurde sie in den frühen 1990er Jahren als „Schwarzes Brett“ (Bulletin Board) vom ehemaligen Neonazi und Mitglied des Ku Klux Klan Don Black. Black hatte dieses Bulletin Board initiiert, um die Wahlkampagne des Rassisten und vormaligen Ku Klux Klan-Anführers David Duke zu unterstützen, der in Louisiana für das Amt des Staatssenators kandidierte und zu den Unterstützern Donald Trumps gehört. 1996 wurde das Mitteilungsbrett zu einer Webseite mit öffentlichem Zugang umfunktioniert. Bis zu diesem Zeitpunkt waren den Versuchen der Neonazis, das Internet für ihre Zwecke zu nutzen, wenig Erfolg beschieden. Als Grand Wizzard des Ku Klux Klan und als Mitglied der „National Socialist White People’s Party“ saß Black seit 1981 in einem US-Gefängnis, weil er versucht hatte, die Regierung des karibischen Inselstaates Dominica gewaltsam zu stürzen. Black nutze seine Zeit im Gefängnis, indem er programmieren lernte und so den Grundstock für den Erfolg seiner Webseite legte. Richtig bekannt wurde „Stormfront“ dann aber durch die Fernsehdokumentation „Hate.com“ aus dem Jahre 2000, produziert von CBS/HBO. Darin wurden Black und sein elfjähriger Sohn Derek interviewt; sie ließen keinen Zweifel daran, dass African Americans und „Mexikaner“ das Land verlassen sollen, damit die USA („wieder“) eine rein weiße Nation werden könnten – ein Punkt, der auch Aufnahme in die Agenda etlicher Trump-Anhänger gefunden hat.

Quelle: deadspin.com
Im Jahr, als diese TV-Doku veröffentlicht wurde, stieg „Stormfront“ mit etwa 2.5 Millionen Zugriffen zu einer unglaublich populären Webseite auf. Immer wieder wurde hier zu Gewalttaten gegen Schwarze, Latinos/as, Juden und Jüdinnen und Homosexuelle aufgerufen. Derartige Texte sind in den Vereinigten Staaten durch den Ersten Verfassungszusatz geschützt; die Seiten-Betreiber können sich also hinter der Meinungsfreiheit verschanzen, und nur Menschen, die diese Aufrufe praktisch umsetzen, werden gerichtlich belangt.
Solche Auswirkungen der „Stormfront“-Propaganda ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Schon 1999 erschossen Benjamin Matthew Williams und James Tyler Williams ein schwules Paar in Kalifornien, Gary Matson und Winfield Mowder. Die Williams-Brüder hatten sich vor ihrer Tat über das Internet u.a. auch bei „Stormfront“ mit homophoben und nazistischen Ideologemen versorgt. Besonders der Hass auf Juden, Homosexuelle und African Americans hatte es den Brüdern angetan. Der Boden ihres Wohnwagenanhängers war übersäht mit Ausdrucken rassistischer Webseiten, in denen Schwarze als tierähnliche Untermenschen portraitiert wurden. Das gegen Nazis sehr aktive Southern Poverty Law Center veröffentliche eine Liste von fast 100 Morden, die von Mitgliedern des Forums verübt worden sind – eine publizistische Großtat im Internet. Unter den Benutzern der „Stormfront“ war auch der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik, der 2011 69 Menschen erschoss.
Heute ist „Stormfront“ mit angeblich 300.000 Mitgliedern immer noch groß, aber die Besucherzahlen sind rückläufig. Eine Serie von Rückschlägen hat die Popularität des Forums stark eingeschränkt. 2008 bekannte Blacks Frau, keine Rassistin zu sein. 2013 machte Derek, der Sohn von Don Black, eine „Bekehrung“ durch und schwor seiner alten Ideologie öffentlich ab. Zwar ist „Stormfront“ noch immer die größte Webseite der Neonazis in den USA, in ihrem Windschatten konnte sich aber eine weitere Bewegung etablieren, die immer wichtiger wird, vor allem, weil sie zu den treuesten Unterstützern Donald Trumps gehört: der „Daily Stormer“.
„The Daily Stormer“
Andrew Anglin ist der Gründer des Neonazi-Forums „The Daily Stormer“. Der Name seiner in den USA inzwischen sehr populären Seite stammt vom Stürmer, dem pornographischen und antisemitischen Propagandablatt der Nazis. Obwohl kein offizielles Parteiorgan, diente der Stürmer, 1923 von Julius Streicher gegründet, der NSDAP als Hetzblatt gegen Juden und Jüdinnen, und zwar in einer besonders vulgären und zynischen Form. Andrew Anglin hat sich den Namenspatron seiner Webseite wohl überlegt ausgesucht. Auch er betreibt einen besonders vulgären Antisemitismus und benutzt eine stark vereinfachende und polarisierende Sprache: „Es wird der Tag kommen“, liest man hier zum Beispiel, „da werden wir das Schwindelmahnmal in Berlin einreißen und es mit einer Statue Hitlers ersetzen, die 300 Meter hoch ist.“ Oder: „Mein Problem mit Schwarzen ist, dass ich verstanden habe, dass ihre biologische Natur inkompatibel mit der weißen Gesellschaft ist und dass wir niemals Frieden haben werden, solange sie unter uns sind, wegen der irrationalen und brutalen Gewaltausbrüche, die Teil ihrer Natur sind.“ (Februar 2014) Oder im April 2016: „Juden, Schwarze und Lesben werden Amerika verlassen, wenn Trump gewählt wird – und er ist froh darüber. Das alleine ist ein ausreichender Grund, um Herz und Seele in die Unterstützung dieses Mannes zu stecken.“
Überhaupt unterstützt „The Daily Stormer“ Donald Trump, den er nur „Glorious Leader“ nennt, wo es geht. Nachdem Trump sich am 16. Februar 2017 geweigert hatte, den Antisemitismus öffentlich zu brandmarken und einen jüdischen Reporter als Lügner bezeichnet hatte, weil er seine Besorgnis über das Ansteigen des Antisemitismus in den USA geäußert hatte, bemerkte Anglin über die Pressekonferenz: „[Sie] war eines der größten Dinge, die ich in meinem Leben erleben durfte. Von Anfang an war es einfach großartig. [Trump] griff die Medien an, die Juden, die Mexikaner, Obama – all seine und unsere Feinde.“ In Anlehnung an Trumps Wahlslogan „Make America Great Again“ war am 1. März 2017 unter dem Pseudonym „ReinhardHeydrich1” auf den Seiten des „Daily Stormers“ zu lesen: „Make Pogroms Great Again“, unterlegt mit einem Hakenkreuz.
Anglins Webseite lehnt sich ästhetisch an Internetforen wie 4chan und 8chan an und unterscheidet sich damit von den ästhetisch konservativeren Seiten wie „Stormfront“. 4chan ist eine englischsprachige Website, auf der Bilder veröffentlicht und diskutiert werden, ein sogenanntes Imageboard. Die Seite ist dem japanischen Vorbild 2channel nachempfunden. Sie machte in der Vergangenheit durch provokante Netzaktionen auf sich aufmerksam. Popularität erfuhr 4chan vor allem als Quelle neuer Web-Phänomene in Text, Bild und Audio. 8chan ist ein US-amerikanisches Imageboard, das wie 4chan aus Foren besteht, die von den Usern verwaltet werden. Jedes Forum wird von seinem Besitzer moderiert, ohne dass sich die Administration von 8chan einmischt. Solange die Foren nicht gegen amerikanisches Recht verstoßen, werden sie nicht sanktioniert.
Wegen des Ersten Verfassungszusatzes gibt es praktisch keine Handhabe gegen neonazistische Foren. Das erlaubt es Anglin, seinen Antisemitismus voll auszuleben; immer wieder geht es um die jüdische Weltverschwörung. Im April 2016 lag „The Daily Stormer“ auf Platz 15.451 aller Webseiten in den USA und war damit die am meisten frequentierte Seite der Alt-Right-Bewegung. Was der „Daily Stormer“ von anderen Seiten der Neonazis unterscheidet, ist nicht nur der Zynismus der Propaganda, sondern auch die Fähigkeit ihrer Betreiber, Trolling für ihre Zwecke einzusetzen. Trolling als Möglichkeit, Individuen gezielt anzugreifen und Ereignisse zu erfinden und als Tatsachenbehauptung über die sozialen Medien zu verbreiten, nimmt einen großen Raum in der Propaganda der amerikanischen Naziszene ein, und der „Daily Stormer“ kann sogar als Erfinder dieser Technik der sozialen Kontrolle angesehen werden. Die Seite verfügt über ein eigenes Trollarchiv, in dem die erfolgreichen Trollaktionen der Neonazis dokumentiert werden.
Zugute kommt ihnen dabei, dass die antifaschistische und demokratische Öffentlichkeit zum Teil panisch und unüberlegt auf Trollaktionen des „Daily Stormer“ reagiert, anstatt den Wahrheitsgehalt der Veröffentlichungen zu überprüfen. So gelang es dem „Stormer“ durch Veröffentlichung eines entsprechenden Facebook-Accounts den Eindruck zu erwecken, als hätten sich auf zahlreichen Campus amerikanischer Universitäten studentische Vereinigungen („White Student Union“) gegründet, die den Zielen der Neonazis naheständen. Dies sorgte für entsprechenden Medienwirbel, erwies sich aber als Fälschung. Anglin hatte seine Anhänger zuvor instruiert: “So lautet der Plan: Eröffnet mehr White Student Union-Seiten auf Facebook. Ihr müsst überhaupt nicht vor Ort sein. Macht eine in Dartmouth und in Princeton etc. auf. […] Gründet diese Seiten und dann teilt ihr es den örtlichen Medien mit.“ Die Medien schluckten den Köder, und Berichte über rassistische Studierendengruppen erschienen an verschiedenen Orten. Dies ließ sich wiederum instrumentalisieren, um die angebliche Verlogenheit der Mainstreampresse herauszustellen.
Düstere Perspektiven
Dylann Roof wurde am 11. Januar 2017 wegen 33 „hate crimes“ von einem Bundesgericht zum Tode verurteilt. Kurz danach wurde er von einem Gericht des Staates South Carolina wegen neunfachen Mordes ebenfalls zum Tode verurteilt. In seinen Schlussbemerkungen verteidigte er die Morde. In seiner Vernehmung durch das FBI hatte Roof vorher ausgesagt, er habe gehofft, seine Handlungen würden die Rassentrennung zurückbringen oder einen „Rassenkrieg“ auslösen.

Der Schauspieler Daniel Radcliffe im Film „Imperium“, 2016: Quelle: businessinsider.com
Ein wirksames Konzept gegen Überzeugungstäter wie Roof gibt es bislang nicht. Eine Abschaffung des Ersten Verfassungszusatzes ist aus politischen Gründen unmöglich. Die Re-Etablierung eines liberal-demokratischen Diskurses würde voraussetzen, dass die Kräfte der Linken und der gemäßigten „Verfassungspatrioten“ sich zusammenschließen und gemeinsam die Aushöhlung der Verfassung durch die Neonazis und den Staat unterbinden. Gegenbewegungen wie die amerikanische Antifa, schwarze Bürgerrechtsbewegungen, organisierter Feminismus, Black Lives Matter und studentischer Protest können einen Anfang und einen Unterschied machen. Es wird jedoch auf die massenhafte Mobilisierung der Mitte der Gesellschaft ankommen, wenn hier etwas erreicht werden soll. In einer Gesellschaft, die sich nach 9/11 in einem nicht-erklärten permanenten Kriegszustand befindet, ist das keine einfache Aufgabe. Der Staat wird zu recht mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Hinzu kommt, dass sich die Fußtruppen der Neonazis aus der Gruppe der entwurzelten und verunsicherten jungen Männer rekrutieren, die ohne Bildungschancen und ohne soziale Bindungen aufwachsen und deren Männlichkeitsmodelle durch aggressive Abwehr alles „Fremden“ (Schwarze, Juden und Jüdinnen, Muslime, Frauen, Schwule, Lesben) geprägt sind. Solange diese Gruppe nicht sozial integriert werden kann, wird der amerikanische Rechtsradikalismus und Faschismus weiter Zulauf haben.