Der Begriff Ambivalenz bezeichnet Widersprüche, die nebeneinander existieren. Aktuell wird er oft sehr vage benutzt, was verschleiert, wie aktuell er eigentlich sein könnte. Dies zeigen Beispiele aus der Literatur von Franz Kafka bis Kim de l’Horizon.

  • Caspar Battegay

    Caspar Battegay ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er leitet die Fachgruppe Kultur und Kommunikation an der Hochschule für Technik der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zudem unterrichtet er Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel. Seine Habilitation ist 2018 unter dem Titel „Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ‚jüdische Frage‘“ im Wallstein Verlag erschienen.

Alles ist ambi­va­lent. Als «ambi­va­lent» wird der Umgang des verstor­benen Papstes Bene­dikt XVI. mit dem Thema des sexu­ellen Miss­brauchs bezeichnet, «ambi­va­lent» sei «die Posi­tion des Westens» gegen­über der ange­grif­fenen Ukraine, ein neues Elektropop-Album klingt «schil­lernd ambi­va­lent» und die Lifestyle-Zeitschrift GQ diagnos­ti­ziert, dass «ambi­va­lentes Verhalten des Chefs» für ein «schlechtes Arbeits­klima» sorge.

Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl, „Invi­ta­tion of the Soft Machine and Her Angry Body Parts“, Bien­nale Venedig 2022; Quelle: ndion.de

Die Fest­stel­lung, dass die Welt verwir­rend viel­deutig und anstren­gend sein kann, ist banal. Dass sie ambi­va­lent ist, scheint hingegen irgendwie inter­es­sant. Doch was hat es mit dem Begriff der Ambi­va­lenz auf sich? Begriffs­ge­schicht­lich ist er zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts durch die Psych­ia­trie, ab den 1960er Jahren durch die Sozio­logie geprägt worden. Ein Blick auf diese Geschichte zeigt zum einen, dass die aktu­elle Verwen­dung oft diffus ist, das spezi­fi­sche Poten­zial des Begriffs auflöst und mit Wider­sprüch­lich­keit oder bloß Komple­xität synonym setzt. Zum anderen wird aber ersicht­lich, wie der Begriff der Ambi­va­lenz tatsäch­lich geeignet ist, bestimmten Anfor­de­rungen der Gegen­wart gerecht zu werden.

Zur psycho­ana­ly­ti­schen Begriffs­ge­schichte der Ambivalenz

Eugen Bleuler; Quelle: wikipedia.org

Der Neolo­gismus Ambi­va­lenz (vom Grie­chi­schen amphi = zwei­fach, doppelt und Latei­ni­schen valere = gelten, stark/kräftig sein) ist etwas mehr als hundert Jahre alt. Erfunden hat ihn der Schweizer Psych­iater Eugen Bleuler, lang­jäh­riger Direktor der Psych­ia­tri­schen Univer­si­täts­klinik «Burg­hölzli», der ihn bei einem Vortrag anläss­lich der «Ordent­li­chen Winter­ver­samm­lung des Vereins schwei­ze­ri­scher Irren­ärzte» in Bern am 26. November 1910 in den medi­zi­ni­schen Diskurs einführt. Bleuler unter­scheidet graduell eine ‹normale› Ambi­va­lenz von einer ‹patho­lo­gi­schen› Ambi­va­lenz, in der Gefühls- oder Wahr­neh­mungs­ge­gen­sätze unauf­ge­löst und teil­weise unbe­wusst für lange Zeit «neben­ein­ander bestehen» blieben. Mit seinem Begriff beab­sich­tigte er zunächst eine Charak­te­ri­sie­rung krank­hafter Struk­turen des Erle­bens bei einer ‹Schi­zo­phrenie› (ein weiterer Begriff, den Bleuler prägt, um damit die Bezeich­nung ‹Dementia Preacox› zu ersetzen). Die Psycho­ana­lyse nimmt den Terminus schnell in ihre Fach­sprache auf. Sigmund Freud benutzt ihn mehr­mals vor allem im Zusam­men­hang der Libi­do­theorie und des so genannten Ödipus­kom­plexes. In seinen Vorle­sungen zur Einfüh­rung in die Psycho­ana­lyse (1916/17) spricht Freud von der «Gefühls­am­bi­va­lenz» zwischen Zunei­gung und Aggres­sion in der Primär­be­zie­hung zu den Eltern und popu­la­ri­siert damit die Idee der ‹Hass­liebe›.

Bleuler schreibt in einem Vortrag mit dem Titel «Die Ambi­va­lenz» (1914): Der Begriff «ist geschaffen worden zur Heraus­he­bung der Eigen­schaften der Schi­zo­phrenen, eines­teils neben­ein­ander mit zwei­erlei Affekten auf die gleiche Idee zu reagieren, und ander­seits die nämliche Idee positiv und negativ zu denken.» Diese Defi­ni­tion unter­scheidet zwischen affek­tiver und intel­lek­tu­eller Ambi­va­lenz, was für den Begriffs­ge­brauch bis heute typisch ist. Bleuler schil­dert einige anschau­liche Beispiele aus seiner ärzt­li­chen Praxis: «Da glaubt eine Frau, ihr Mann sei in der Anstalt einge­sperrt. Wenn ich ihr sage, er sei nicht einge­sperrt, so ist das für sie ganz gleich­be­deu­tend, wie wenn ich ihr sage, er sei es. So wird auch die Bedeu­tung der Worte oft ganz syste­ma­tisch verkehrt wie im Traum: ‹Gift› kann ‹Speise› bedeuten, ‹Lohn› ‹Strafe› usw.» Ambi­va­lenz besteht also auf einem zeit­li­chen und inhalt­li­chen Zugleich sich ausschlie­ßender Wahr­neh­mungen, aber auch auf einem seman­ti­schen Zugleich. Dieses geht über die rheto­ri­sche Figur des Oxymo­rons hinaus, das wir etwa aus der mysti­schen Rede kennen: In Wendungen wie der ‹höchsten Tiefe› oder der ‹hellsten Nacht› wird beispiels­weise in der christ­li­chen Mystik des Mittel­al­ters das über jede ratio­nale Erfas­sung hinaus­ge­hende Wesen Gottes bezeichnet.

Doch in der Bleuler’schen Prägung bezeichnet Ambi­va­lenz nicht die Aufhe­bung einer Diffe­renz, auch nicht ein Entweder-Oder oder einen simplen Wider­spruch, sondern die Erfah­rung, dass Diffe­renzen unver­söhn­lich «neben­ein­ander» bestehen. Zudem meint sie auch keinen Zustand an sich, eine Art des Seins eines Dings, Gottes oder eines Menschen. Der Sozio­loge Kurt Lüscher betont in seinen Arbeiten, dass Ambi­va­lenz immer auf «Modi des Erfah­rens, vor allem des Verste­hens, Beschrei­bens und Gestal­tens von sozialen Bezie­hungen» verweist. Ambi­va­len­zer­fah­rungen sind demnach stets rela­tional verfasst und beziehen sich auf Prozesse der Iden­ti­täts­bil­dung, die in Momenten des Zauderns, des Anhal­tens der Zeit und in Räumen vor Entschei­dungen vonstatten gehen.

Kafka­eske Ambivalenz

Franz Kafka, 1922; Quelle: sueddeutsche.de

Es ist beispiels­weise weniger rele­vant zu beschreiben, inwie­fern ein Kunst­werk, ein lite­ra­ri­scher Text oder ein Film ambi­va­lent ist, als aufzu­zeigen, wie Kunst rela­tional auf eine bereits bestehende Ambi­va­lenz aufmerksam macht. Ein berühmtes Beispiel für eine ambi­va­lente Bezie­hung gegen­über dem eigenen Schaffen, also der Exis­tenz als Künstler oder Schrift­steller in einer bürger­li­chen Welt, bietet das Werk von Bleu­lers Zeit­ge­nosse Franz Kafka. Im legen­dären Brief an Max Brod vom November 1922 schreibt Kafka, dass er nur fünf seiner publi­zierten Texte als erhal­tens­wert ansieht, aller­dings meine er «damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künf­tigen Zeiten über­lie­fert werden, im Gegen­teil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigent­li­chen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.» Kafkas zweimal wieder­holter «Wunsch» wird noch weniger eindeutig in der Instruk­tion Brods, den rest­li­chen Nach­lass «ausnahmslos zu verbrennen»: Doch «wehre ich Dir nicht hinein­zu­schauen, am liebsten wäre es mir aller­dings wenn Du es nicht tust, jeden­falls aber darf niemand anderer hinein­schauen». Die in dieser Anwei­sung gegen­über dem Werk zutage tretenden Ambi­va­lenz zwischen Scham und Stolz spie­gelt sich immer wieder in Kafkas Texten. Eindrück­lich beschreibt er beispiels­weise «ein eigen­tüm­li­ches Tier, halb Kätz­chen, halb Lamm», das nicht nur zoolo­gisch eine Unmög­lich­keit darstellt, sondern auch seman­tisch sich ausschlie­ßende Eigen­schaften aufweist: Seine Augen sind zugleich «flackernd und mild», seine Bewe­gungen sind «sowohl Hüpfen wie Schlei­chen». Dieser «Kreu­zung» zwischen Opfer­lamm und mörde­ri­schem Raub­tier sei «die Haut zu eng», die eigene Exis­tenz wird also als unmög­liche erfahren. Diese Erfah­rung kann als Kafkas Einzel­gän­ger­exis­tenz in der vom Ehe- und Fami­li­en­ideal geprägten jüdi­schen Bürgertum seiner Zeit gedeutet werden, zeigt ihn aber auch als Ange­hö­riger der doppelten, deutsch­spra­chigen jüdi­schen Minder­heit in Prag.

Signi­fi­kant war für Kafka auch der sehr aufmerksam verfolgte zionis­ti­sche Diskurs, also die Debatten um jüdi­sche Iden­tität in Europa, bei denen sich etwa sein Freund Max Brod als eine promi­nente Stimme betei­ligte. Zentral in diesem Diskurs war die «Gemein­schaft», der sich indi­vi­du­elle Wünsche unter­zu­ordnen hatten. Solche Ideen einer einheit­li­chen Gemein­schaft parodiert Kafka etwa im postum als «Forschungen eines Hundes» beti­telten Erzähl­frag­ment. Ein Hund fanta­siert vom Mark in einem Knochen, den zwar nur das gemein­schaft­liche Beißen aller Hunde aufkna­cken könnte, den er aber ganz allein ausschlürfen möchte. Dies sei jedoch nur ein «Bild»: «Das Mark, von dem hier die Rede ist, ist keine Speise, ist das Gegen­teil, ist Gift.» Es ist bezeich­nend, dass Kafka in seinem «Bild» für das ambi­va­lente Dasein als Outsider, der sich doch einem Kollektiv zuordnet, die gleiche Ambi­va­lenz beschreibt wie Bleuler in seinen psych­ia­tri­schen Beob­ach­tungen: «‹Gift› kann ‹Speise› bedeuten».

Ambi­va­lenz als Trieb­feder der Dichtung

Louise Bour­geois, Spiral; Quelle: nationalgalleries.org

Bereits Bleuler bemerkt, dass die Ambi­va­lenz «eine der wich­tigsten Trieb­fe­dern der Dich­tung» darstelle. Auch Freud betont neben der psych­ia­tri­schen Bedeu­tung vor allem in seinen späteren Schriften die grund­le­gende Bedeu­tung der Ambi­va­lenz für jedes Verständnis von Kultur. Er beschreibt etwa das «Schuld­ge­fühl» – eine Emotion, die das Schreiben Kafkas maßgeb­lich bestimmt –, als «Ausdruck des Ambi­va­lenz­kon­flikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktion- und Todes­trieb. Dieser Konflikt wird ange­facht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusam­men­le­bens gestellt wird […].«

Diese «Aufgabe des Zusam­men­le­bens» ist eine soziale Konstante. Für Kafka bestand sie in Bezug auf seine Familie, seine schei­ternden Bezie­hungen zu Frauen und seine von der zionis­ti­schen «Gemein­schaft» begeis­terten jüdi­schen Freunde. Der polnisch-britische Sozio­loge Zygmunt Bauman deutet Kafka in seinem Buch Moderne und Ambi­va­lenz. Das Ende der Eindeu­tig­keit (1991) als para­dig­ma­ti­sche Figur, die für die «Wurzel­lo­sig­keit» des euro­päi­schen Juden­tums und damit des modernen Subjekts insge­samt stehe. Bauman defi­niert die Ambi­va­lenz als Möglich­keit, «einen Gegen­stand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kate­gorie zuzu­ordnen». Die Moderne dagegen sieht er vor allem als Epoche, in der die Ordnungen der Welt und des Selbst reflek­tiert werden. Der moderne Natio­nal­staat ordnet ein Terri­to­rium nach Sprache und «Rasse»; der moderne Intel­lekt klas­si­fi­ziert und defi­niert, trennt zum Beispiel Normales von Anor­malem, Gesundes von Krankem. Doch das Verhältnis von Ordnung und Ambi­va­lenz ist selbst ambi­va­lent und bewirkt nach Bauman ein Paradox: Jeder Ordnungs­ver­such resul­tiere in neuen Ambi­va­lenzen. «Ambi­va­lenz stellt unstrittig die genuinste Beun­ru­hi­gung und Sorge für die Moderne dar, da sie […] mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt.» Wenn man diese Aussagen zuge­spitzt verstehen möchte, dann wäre die von Bleuler fest­ge­stellte Ambi­va­lenz der Pati­entin also nur ein Ergebnis der psych­ia­tri­schen Ordnungsversuche.

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Viel­sei­tig­keit als Kritik

Kim de l’Horizon; Quelle: schweizer-illustrierte.ch

Spätes­tens seit der Jahr­tau­send­wende scheint die Ambi­va­lenz ihr Beun­ru­hi­gungs­po­ten­zial verloren zu haben. Viel­deu­tig­keit und Diver­sität werden zumin­dest im Westen gefeiert und zuneh­mend einge­for­dert. Doch explizit ausge­spielte Ambi­va­lenz provo­ziert auch hier nach wie vor. Ein aktu­elles Beispiel ist Kim de l’Horizons Roman Blut­buch, der 2022 mit dem Schweizer und dem Deut­schen Buch­preis ausge­zeichnet und zum Best­seller wurde, gerade weil er davon erzählt, wie grund­sätz­liche Ordnungs­ka­te­go­rien frag­würdig werden, aber gerade deshalb auch Irri­ta­tionen auslöst. Die nonbi­näre Erzähl­in­stanz des Romans schil­dert sich einmal als Kind vor dem Spiegel: «Das Kind fragt sich. Wann muss man sich entscheiden. Ob man Mann oder Frau wird?» Das Ich entzieht sich dieser Entschei­dung und verschreibt sich Sprach­magie und «Hexen­sprü­chen». Es bemüht ein Spre­chen, das nicht klas­si­fi­zie­rend oder ratio­na­li­sie­rend ist, sondern auf poeti­sche Flui­dität abzielt. Denn das Funk­tio­nieren der (Geschlechter-)Differenz wird zwar im Erzählen in Frage gestellt, noch viel wirk­samer aber thema­ti­siert Kim de l’Horizon die Ambi­va­lenz der Sprache selbst, indem der Text um Doppel­be­deu­tungen kreist, die er durch das helve­tisch gefärbte Erzählen sichtbar macht: Buch meint auch (bern­deutsch) Bauch oder Buche (der Baum); Meer steht auch für (bern­deutsch) Mère, die in der Erzäh­lung sowohl mit Gebor­gen­heit wie mit Kontrolle und Angst asso­zi­iert wird.

Blut­buch zeigt also die emotio­nalen Ambi­va­lenzen des Ich-Erzählers gegen­über seiner Familie. Nicht zufällig spielen auch hier die biogra­fi­schen «Schuld­ge­fühle» gegen­über der Mutter und der Groß­mutter eine Rolle. Zudem zeigt es die in der Sprache bestehenden seman­ti­schen Ambi­va­lenzen. Diese werden durch die impli­zite Ambi­va­lenz von Schwei­zer­deutsch und Hoch­deutsch noch zugespitzt.

Wie Kafka und aktuell Kim de l’Horizon zeigen, gibt es Entschei­dungen, deren Dring­lich­keit nur scheinbar sind, weil sie bestehende Ordnungen immer stützen. Sie nicht zu treffen, nicht den vermeint­lich unaus­weich­li­chen Anfor­de­rungen von Gesell­schaft, Politik oder Familie nach­zu­kommen und auf einem viel­leicht auch nur tempo­rären Zugleich sich rational ausschlie­ßender Bedeu­tungen zu bestehen, kann ein krea­tiver Prozess sein, diese Gesell­schaft und uns selbst neu zu sehen und schließ­lich auch anderes zu handeln. Wir benö­tigen nicht mehr Ambi­va­lenz­to­le­ranz, wie es manchmal heißt, viel­mehr benö­tigen wir Verfahren, um die Ambi­va­lenz in und um uns besser wahr­zu­nehmen, zu beschreiben und zu nutzen.