Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Flucht. Nach 1918 wurden in Europa über 13 Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg flohen weltweit mindestens 175 Millionen Menschen, knapp acht Prozent der Weltbevölkerung.
Das vergangene Jahrhundert war aber auch eine Epoche humanitärer Aufbrüche. 1948 formulierten die Vereinten Nationen die Allgemeine Menschenrechtserklärung. Und am 28. Juli 1951 unterschrieben 12 Staaten im Völkerbundespalast das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, die Genfer Flüchtlingskonvention. Bis heute sind ihr 149 Staaten beigetreten, sie bildet den Kern des internationalen Rechts zum Schutz für Flüchtlinge.
Auf den ersten Blick drängt sich geradezu der Eindruck auf, der Rechtstext, dessen 70. Jubiläum in wenigen Wochen begangen wird, sei eine moralische Lehre und Antwort auf die Verwerfungen der ersten Jahrhunderthälfte gewesen. Die Genese aber ist weitaus komplizierter. Viele Wege haben im Juli 1951 nach Genf geführt – und sie waren alles andere als geradlinig.
Die Etablierung eines Politikbereichs
Als sich im 19. Jahrhundert in Europa allmählich das Nationalstaatsmodell durchsetzte, kam das Bedürfnis auf, Zugehörigkeiten rechtlich zu definieren. Wer galt als Staatsbürger? Wer darf ausreisen, wer einreisen? Die jungen Nationalstaaten standen vor fundamentalen Fragen. Besonders drängend wurden sie, als im Zuge der politischen Revolutionen immer wieder Exilanten um Unterschlupf baten.
In diesem Zuge schlossen mehrere europäische Länder polizeiliche und strafrechtliche Vereinbarungen miteinander. Sie einigten sich, politische Flüchtlinge nicht auszuliefern; so entstand ein Netz bilateraler Verträge und damit eine Vorform des Non-Refoulement-Prinzips. Die Ursprünge der internationalen Flüchtlingspolitik jedoch liegen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Völkerbund definierte den Begriff des „Flüchtlings“ jeweils situativ – das heißt für jede Krise neu – nach der Zugehörigkeit zu einem nationalen, ethnischen, religiösen oder politischen Kollektiv. 1921 berief er Fritjof Nansen zum Hochkommissar für russische, 1924 für armenische Flüchtlinge; 1933 entstand das vom Völkerbund unabhängige Kommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland. Dazu kam der 1922 entworfene Nansenpass, der staatenlos gewordenen Flüchtlingen zumindest erlaubte, in das Land zurückzukehren, das den Pass ausgestellt hatte. Doch insgesamt blieben Umfang und Erfolg dieser Institutionen begrenzt.
Nach 1945 erhielten zwei Elemente besondere Bedeutung: Zum einen wurde aus dem Nansenpass 1946 das „London Travel Document“ und schließlich 1951 der „Konventionspass“ der Genfer Flüchtlingskonvention. Wichtiger aber war eine Idee, die schon im Weltkrieg an Substanz gewonnen hatte: die Idee einer internationalen Migrationssteuerung, um das Flüchtlingsproblem in technokratischer Weise ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Die Alliierten und insbesondere die USA erblickten in den „Displaced Persons“ (DPs) ein zentrales Problem der Nachkriegszeit: Der Krieg hatte Millionen von Menschen entwurzelt; die erfolgreiche Repatriierung dieser Flüchtlinge erschien daher als Lackmustest jeder neuen Friedensordnung. Die alliierten Planungsstäbe dachten dabei durchaus global. Für sie war das Flüchtlingsproblem die präzedenzlose Krise eines präzedenzlosen Kriegs. Doch während in anderen Bereichen, etwa für die Wirtschaft mit dem Abkommen von Bretton Woods 1944, langfristige Strukturen einer westlich dominierten Nachkriegsordnung ersonnen wurden, erkannten die alliierten Planer im Millionenheer der Flüchtlinge kein strukturelles, sondern bloß ein vorübergehendes Folgeproblem des Krieges. Eine in die Zukunft gerichtete Institutionalisierung der Flüchtlingspolitik hatten sie nicht im Sinn.
Die Alliierten schufen daher zwei zeitlich begrenzte Organisationen: Die UN Reflief and Rehabilitation Administration repatriierte knapp sechs Millionen Menschen in Europa und im pazifischen Raum noch einmal sechs Millionen Japaner, Koreaner und Chinesen. Weil sich aber viele europäische DPs weigerten, in ihre nun sowjetisch dominierten Herkunftsländer zurückzukehren, wurde die Repatriierung von Flüchtlingen zusätzlich durch ein international reglementiertes Neuansiedlungsprogramm ergänzt. Innerhalb von fünf Jahren siedelte die Internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) eine Million europäische DPs in über 25 Staaten an. In den Augen der Planer war diese nicht zuletzt eine Friedensicherungsmaßnahme im aufziehenden Kalten Krieg – eine technische und humane Alternative zu den ethnischen Säuberungen im und nach dem Krieg. Doch das Programm war auf Europa beschränkt.
Ein globales Problem …
Die Zahl der weltweiten Flüchtlinge aber nahm nach dem Zweiten Weltkrieg weiter zu. Der Bürgerkrieg in China entwurzelte Millionen Menschen, infolge der Teilungsunruhen nach 1947 flohen in Pakistan und Indien mindestens 15 Millionen, nach Deutschland strömten 12 Millionen Vertriebene, 700.000 Araber wurden 1948 aus ihren Wohngebieten im neugegründeten Staat Israel vertrieben, im Zuge des Koreakriegs erwartete man eine Massenflucht. Die Globalität des Problems war offenkundig.
Daher drängten mehrere Hilfsverbände und Staaten des globalen Südens auf eine weltweite Hilfsorganisation. Parallel dazu strebten mehrere Rechtsexperten danach, den Geflüchteten einen Ort im internationalen Recht zu geben: Flüchtlinge galten als rechtliche Anomalie. Da das Völkerrecht Individuen über die Zugehörigkeit zu Nationalstaaten schützt, waren Flüchtlinge doppelt schutzlos, national wie international. Die beiden Leiter der Rechtsabteilung der IRO, Alexander Kullmann und Paul Weis, wurden zu den wichtigsten Triebkräften des Rechtsprojekts. Sie gehörten einer Gruppe einflussreicher Juristen an, die am Ende der 1940er Jahre mehrere wichtige Rechtstexte entwarfen und das internationale Recht grundlegend neu gestalteten. So sollten internationale Normen etwa die Benachteiligung von Frauen beenden, Minderheitenprobleme lösen oder den Krieg einhegen und ganz allgemein die Position des Individuums im Völkerrecht stärken.
Als 1947/48 über die Charta der Menschenrechte beraten wurde, sah diese Gruppe ihre Chance gekommen. Die Diskussionen über den Asyl-Paragraphen aber offenbarten ein unauflösliches Spannungsverhältnis: Sollte grundsätzlich ein individueller Anspruch auf Asyl proklamiert werden – oder vielmehr ein staatliches Recht, Asyl zu gewähren? Individuelle Rechte standen Souveränitätsvorbehalten gegenüber; die USA und Großbritannien argumentierten, man könne Staaten nicht zwingen, eine unbestimmte Anzahl an Flüchtlinge aufzunehmen. Schließlich kam es zu einer abgeschwächten Formulierung. Zwar sollten Flüchtlinge Asyl beantragen dürfen – ob dieses aber gewährt würde, blieb Vorrecht der Aufnahmeländer. Die Souveränität der Staaten wurde nicht angetastet. Deshalb drängten die desillusionierten Rechtsexperten fortan darauf, Flüchtlingsrechte in einem eigenständigen Rechtstext festzuhalten. Für sie wurde die dann in Genf unterzeichnete Flüchtlingskonvention zu einer Art letzten Chance.
… und eine regional begrenzte Lösung im Kalten Krieg
Doch auch hier zeigte sich relativ schnell, dass ein universeller Rechtstext niemals das Licht der Welt erblicken würde: IRO-Jurist Gustave Kullmann stellte fest, eine künftige Konvention müsse „in dem Sinne realistisch [sein], dass sie nicht über das hinausgeht, was vernünftigerweise von einem liberal-demokratischen Staat verlangt werden kann.“
Vor allem im US-Kongress verfing die Idee nicht, nicht nur kurzfristig nach dem Krieg, sondern langfristig eine weltweite Struktur der Flüchtlingshilfe zu etablieren. Stellvertretend für viele betonte der texanische Demokrat Ed Gossett schon 1946 im Repräsentantenhaus: „Es gibt wahrscheinlich 100 Millionen Menschen auf der Welt, die gerne in unser Land kommen würden, viele leiden weitaus schlimmer als die DPs in Europa. Millionen verhungern in China und Indien. Aber es gibt eine Grenze, wie viele auswärtige Menschen wir aufnehmen können.“
Gossetts Einwand beschrieb sinnbildlich, wie sehr sich die Wahrnehmung verschoben hatte: In einer Welt voller Flüchtlinge könne man niemals allen helfen, lautete fortan die Überzeugung. Angesichts der Flüchtlingszahlen konnte es nur darum gehen, den eigenen Staat vor zu großen Verpflichtungen zu schützen. Und so rang der Kongress der Truman-Administration das Versprechen ab, keine praktischen UN-Hilfsaktionen mehr zu unterstützen. In Großbritannien, dem zweitgrößten Geldgeberstaat der internationalen Hilfsbemühungen, gestaltete sich die Debatte ganz ähnlich.
Aus Sicht der Truman-Administration war es primär von sicherheitspolitischer Relevanz, dass die verbliebenen rund 200.000 DPs in Europa versorgt würden. Als Besatzungsmacht waren die USA daran interessiert, die Versorgung an die Aufnahmestaaten zu übergeben, das hieß an Westdeutschland und Österreich. Für die US-Regierung war die Flüchtlingskonvention ein Vehikel, um völkerrechtlich sicherzustellen, dass es Aufgabe der europäischen Aufnahmestaaten sei, die verbliebenen DPs zu schützen und aufzunehmen.
Eine Konvention für die Vergangenheit
Vor dem Hintergrund dieser politischen Entscheide und Positionen begann am Ende der 1940er Jahre die Gründungsdebatte der Flüchtlingskonvention. Sie zog sich zwei Jahre hin, bis die letzten Details auf einer diplomatischen Konferenz in Genf im Juli 1951 geklärt wurden. Die Konvention definierte Personen als Flüchtling, die vor dem 1. Januar 1951 und „aus begründeter Furcht“ vor rassistischer, religiöser oder politischer Verfolgung aus ihrem Heimatland geflohen waren. Diese Flüchtlinge erhielten soziale und wirtschaftliche Rechte, fortan durften Staaten sie nicht mehr in ihre Fluchtländer zurückschicken. Damit aber gewährte die Konvention kein Recht auf Asyl und keine Einreiserechte für Individuen, sondern normierte das Recht im Asyl, nicht auf Asyl. Vor allem aber konnten die Unterzeichnerstaaten bei der Ratifizierung die Definition des Flüchtlings einschränken und wählen, sie auf Europa zu limitieren. Die New York Times kommentierte: „Was als Konvention für die gesamte Welt begonnen hatte, endete als Konvention für Europa.“ Zudem beschrieb sie lediglich über Grenzen fliehende Menschen als Flüchtlinge. Binnenvertriebene, zum Zeitpunkt in China, Westdeutschland, Indien und Pakistan die mit Abstand größten Flüchtlingsgruppen, ließ sie dezidiert außen vor. Am Ende rieb man sich daher im US-State Department die Hände. Die Hilfsverbände und Rechtsexperten aber waren entsetzt.
Somit wurden die Konvention und der zu ihrer Implementierung installierte UN High Commissioner for Refugees bewusst nicht als eine grundlegende völkerrechtliche Innovation konzipiert; die Staatengemeinschaft nahm vielmehr dezidiert Abstand von den utopischen Entwürfen der Nachkriegsjahre. Resigniert beschränkten sich viele Debattenteilnehmer darauf, wenigstens einem kleinen Teil des Problems beizukommen – die Konvention fußte ausdrücklich auf der Annahme, dass Flüchtlinge eine Sache der Vergangenheit waren. Gedanklich verbanden die Zeitgenossen das Phänomen mit den Verwerfungen des Weltkriegs. Die Konvention war nicht prospektiv auf die Zukunft ausgerichtet, sondern rein retrospektiv konzipiert. Sie war eine Aufräumarbeit für ein europäisches Nachkriegsproblem.
Die Gegenwart der Flüchtlingskonvention
Wenn heute vom Scheitern der Flüchtlingspolitik gesprochen wird, missversteht das die historischen Entwicklungen und romantisiert eine Vergangenheit, die es so nie gab. Die Konvention sollte zur Bewältigung einer akuten und klar abgegrenzten Krise dienen. Erst Jahre später wurde sie schrittweise ausgeweitet, das New York Protocol etwa hob 1967 die geographischen und zeitlichen Beschränkungen der Konvention auf.

Abdalla Al Omari, „World leaders as refugees“, Vulnerability series, Quelle: www.demilked.com
Das war ebenfalls ein verschlungener Prozess. Durch die Dekolonisation konnten Staaten des globalen Südens in den Vereinten Nationen neue und folgenreiche Mehrheiten bilden. Das führte teilweise zu einer symbolischen Umkehrung der Machtverhältnisse. In Flüchtlingsfragen drängten afrikanische und asiatische Staaten so darauf, die Einschränkungen der Flüchtlingskonvention aufzuheben. Erst auf diesen Druck hin bemühten sich westliche Staaten und der UNHCR am Ende der 1960er Jahre um ein Update der Konvention.
Diese Ausweitung wurde zu einem Zeitpunkt erlangt, als im diachronen Vergleich weltweit weniger Menschen auf der Flucht waren als zuvor. Als die Flüchtlingszahlen nach 1970 und besonders in den 1980er Jahren aber wieder zunahmen, flohen erstmals Personen aus dem globalen Süden in großer Zahl in den Norden. Erst in diesem Moment entfaltete die Flüchtlingskonvention eine geradezu globale Wirkung.
In der Folge begannen westliche Staaten Mechanismen zu entwickeln, um die Konvention de facto auszuhebeln. Die Drittstaatsregelungen der Abkommen von Dublin oder des deutschen Asylkompromiss unterminierten das Non-Refoulement-Gebot, indem sie die staatlichen Grenzen in Drittstaaten verschoben. Sie verhinderten, dass Flüchtlinge überhaupt in den Aufnahmeländern einen Asylanspruch formulieren konnten. Damit riegelten sich Deutschland und Europa gegenüber einer Zuwanderung auf dem Asylweg weitgehend ab und übertrugen die Verantwortung auf die Staaten an den EU-Außengrenzen.
Als infolge des Syrienkriegs in den 2010er Jahren über eine Million Personen nach Europa flohen, trugen diese Mechanismen nicht mehr. Durch mehrere Absprachen mit Drittstaaten außerhalb Europas re-installierte die EU im Anschluss an die sogenannte Flüchtlingskrise ihr System, sich vor einer Einwanderung durch das Asylrecht abzuschotten.
Das Bild des „Scheiterns“ der Genfer Flüchtlingskonvention trifft daher kaum zu. Vielmehr sollte man fragen, ob eine Konvention, deren Gründung so zurückhaltende Ziele im Blick hatte und die anschließend immer wieder gezielt unterminiert wurde, überhaupt scheitern konnte.