Die Geschichte der 10er Jahre wird noch zu schreiben sein, aber im Rückblick auf die politische Kultur des eben vergangenen Jahrzehnts wird die Auseinandersetzung mit einem Begriff unumgänglich sein: Es war das Jahrzehnt der „alt-right.” Kurz vor Beginn des Jahrzehnts als Gegenparole gegen bestehende „neo-” und „paleokonservative” Strömungen in den USA ins Feld geführt, fing das Wort im Laufe der folgenden Jahre Feuer und verursachte vor allem im Netz Flächenbrände. Unter dem Begriff der „alt-right” firmierten Attacken auf weibliche gamer, die Mobilisierung der „manosphere” gegen jegliche Form des Feminismus oder „meme wars” gegen den vermeintlichen „cultural Marxism” in entsprechenden Internetforen. Es entstanden im Laufe des Jahrzehnts ganze Netzwerke von neurechten „alternative influencers,” die in den amerikanischen „culture wars” verschärft Position bezogen.

„Proud Boys“-Gründer Gavin McInnes, 2017; Quelle: nbcnews.com
Es formierten sich neue identitäre Gruppierungen wie etwa die „Proud Boys” oder „Identity Evropa” (heute „American Identity Movement”) und die verschiedenen europäischen Spielformen der génération identitaire. Mit den kursierenden Ideologemen der „alt-right” identifizierten sich Terroristen in Texas, Kalifornien und Neuseeland, und die gleichen ideologischen Versatzstücke mobilisierten im Mai 2017 in Charlottesville Anhänger unter dem Slogan „Unite the Right” zur öffentlichen Demonstration – mit tödlichem Ausgang. Ja, letztendlich fällt auch der Wahlsieg eines Donald Trump unter das Sigel der „alt-right.”
Spätestens zu diesem Zeitpunkt aber, also um die Mitte des Jahrzehnts, hätte sich die Frage aufgedrängt, was an der „alt-right” eigentlich noch „alt” – also alternativ – war, schien doch mit dem Wahlsieg der Marsch durch die Internetzonen „from 4chan to the White House“ zum Abschluss gekommen und die populistische Rechte im Zentrum der Macht angelangt zu sein. Aus der „alt-right” war die neue Rechte geworden, der Unterschied zwischen „right” und „alt-right” scheint verschliffen. So ließe sich auch der deutliche Rückgang der Google-Suchanfragen zu „alt-right” nicht etwa als Abflauen der Bewegung erklären, sondern als deren erfolgreiche Besetzung des politischen Mainstreams.
Der Begriff der „alternativen” Rechten
Zwar gibt es einige gute Gründe, am Begriff der „alt-right” festzuhalten. So bezeichnet dieser nach wie vor eine politische Differenzierung vor allem vom vormaligen rechten Mainstream – in den USA also vor allem von traditionellen, konservativen Republikanern, aber auch von den wirtschaftsliberalen „neocons” von Reagan bis G.W. Bush –, gegen die der Begriff der „alt-right” 2008 von Richard Spencer geprägt wurde. Vom traditionellen, von rassistischen Tendenzen allerdings keineswegs freien rechten Spektrum weicht die „alt-right” auch in ihrem unverhohlenen Ethnozentrismus ab, weshalb zum Beispiel Alexandra Stern in ihrem neuen Buch zu dem Thema am Begriff „alt-right” festhält. Hinzu tritt die transatlantische, ja transnationale Anschlussfähigkeit an andere „Alternativen”, ob „für Deutschland”, „för Sverige”, oder sonstwo. Vor allem aber konnotiert die Prägung „alt-right” nach wie vor eine politische Struktur, die ohne Internet und soziale Medien nicht denkbar wäre: Diese medialen Strukturen und Möglichkeiten bildeten im Jahrzehnt der „alt-right” den Nährboden, auf dem sich deren dezentralen Netzwerke ausprägen konnten. Anonyme message boards wie 4-chan und 8-chan, Plattformen wie YouTube, deren Algorithmen schon aus betriebsökonomischen Gründen die politische Radikalisierung begünstigen, leicht manipulierbare Foren wie Facebook und Twitter, denen Jessie Daniels eine strukturelle Affinität zur „white supremacy” nachgewiesen hat: Sie alle machen das Biotop aus, in dem sich in der Tat „alternative” Formen zur traditionellen Rechten herausbilden konnten.
Neue Schlagworte und neue Konturen
Dennoch scheint der Begriff „alt-right” in letzter Zeit sowohl an Bindungs- wie an Sprengkraft verloren zu haben. Nach dem Tod der Gegendemonstrantin Heather Heyer in Charlottesville versuchten einige prominente Vertreter der US-amerikanischen „alt-right”, sich von dem Begriff (wenn auch nicht von den damit bezeichneten ideologischen Positionen) zu distanzieren und, wie Stern feststellt, zu dezentralen Formen politischer Organisation im Netz zurückzukehren. Hier werden inzwischen andere Schlagworte ins Feld geführt, unter denen das politische Projekt fortgesetzt werden und neue Konturen gewinnen soll – sei es als „Identitäre”, als unverblümte „Nationalisten” oder (genauer) als „Ethnonationalisten”, als „affirmative right” oder gar als „dissident right.”
Nicht zufällig erinnert letzterer Begriff, der unter anderem im rechts-intellektuellen Umfeld von Greg Johnsons Publikationsplattform Counter-Currents favorisiert wird, an ehemals linke Positionen. Explizit und strategisch ist die neue Rechte bestrebt, genau jene politischen Formen zu kapern und zu beerben, welche die neuen sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren ausgeprägt hatten (ein informatives Handbuch über die europäischen „Identitären” beschreibt dies mit den Begriffen der „Mimikry” und der „Retorsion”): Viele Strategien der Identitären unterscheiden sich von APO-happenings der späten 60er Jahre wie Pudding-Attentaten, der Sprengung von Vorlesungen oder dem Anbringen von Spruchbändern im öffentlichen Raum nur hinsichtlich des neuen Verstärkereffekts der sozialen Medien.
Umdeutung demokratischer Grundbegriffe
Weitaus perfider ist allerdings die Umdeutung demokratischer Grundbegriffe von links- in rechtsalternative Parolen, die unter dem Deckmantel semantischer Anleihen die ehemals progressiven, demokratischen Gehalte durch rassistische ersetzen. Diese Tendenz hat ihre Vorläufer in der Integration sozialistischer Elemente zumal in den deutsche Faschismus, oder etwa in Henning Eichbergs Prägung eines Begriffs wie Ethnopluralismus in den 1970er Jahren, welcher dann von der Nouvelle Droite um Alain de Benoist aufgegriffen und verwendet wurde. Diese quasi beiläufige Spezifizierung von Pluralismus unter ethnischen Vorzeichen hat nun die „alt-right” übernommen.

William Lind und Donald Trump; Quelle: theamericanconservative.com
Im Namen von Vielfalt werden rassistische Formen sozialer Aus- und Abgrenzung propagiert – die unter anderem in einschlägigen science fiction Romanen der „alt-right” von William Pierce’s Turner Diaries bis William Lind’s Victoria durchgespielt werden.
Deren Gewaltphantasien entlarven die vorgeblich anti-hierarchische Vision eines pluralistischen Nebeneinander der Ethnien ebenso wie den Sozialdarwinismus der avisierten demographischen Experimente. Diese werden dann noch mit rhetorischem Augenzwinkern biologistisch ausgebaut, etwa wenn sich die „alt-right” mit der Rede von „human biodiversity” selbst auf den Schutz von Artenvielfalt bezieht (aber den Schutz einer weißen „Rasse” vor dem angeblich bevorstehenden „grand replacement” meint). Diese Floskeln sollen ebenso wie der verbreitete und verharmlosende Slogan „it’s OK to be white” dazu dienen, die unübersehbaren faschistischen Inhalte (Rasse, Lebensraum, Hierarchie, Demokratiefeindlichkeit) durch den Verweis auf scheinbar unverfängliche, ja demokratiefreundliche Begriffe von Pluralität und Diversität glaubhaft abzustreiten.
Angesichts dieser rhetorischen Anleihen und strategischen Überschneidungen bezüglich progressiver demokratischer Positionen ist es kaum verwunderlich, dass einige neue Rechtsintellektuelle dem eher deskriptiven Präfix „alt” ein polemisches „dissident” vorziehen – womit gleichzeitig deren Vereinnahmung durch jegliches politisches Establishment vorgebeugt werden soll. Dieser Tendenz steht, ebenfalls in Entsprechung zur Geschichte der Linken, vor allem im europäischen Kontext ein Prozess gegenüber, der an den langen Marsch der ehemals außerparlamentarischen Opposition der 60er Jahre durch die Institutionen gemahnt – die AfD, die britische UKIP oder das französische Rassemblement National bieten einschlägige Beispiele für den Erfolg dieser Strategie von rechts.
Durchsetzung
Nun spielt die „alt-right” für die rechtspopulistischen Parteien in Europa auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle (ein zweiter Blick würde sich jedoch lohnen). Wenn aber der Eindruck stimmt, dass auch auf der anderen Seite des Atlantiks nicht nur die Suchanfragen, sondern auch die Verwendung des Begriffs „alt-right” rückläufig sind, sollten wir uns zur Begründung nicht mit den Selbstaussagen derer begnügen, die ein strategisches Interesse daran haben, die politische Semantik neu zu besetzen. Legen solche Versuche einer Neubestimmung – ob als ethnonationalistisch oder dissident – zumal nach Charlottesville das Eingeständnis politischer Fehler nahe, so scheint mir allerdings das Gegenteil der Fall zu sein. Die tendenziell rückläufige Verwendung von „alt-right” zur Bezeichnung rechtspopulistischer Energien ist ein Index ihrer Durchsetzung.
Die Räume, welche die „alt-right” im Netz und in den sozialen Medien besetzten, haben materielle Eigendynamiken: die medialen Möglichkeiten sind in erster Linie technologische, die zugrunde liegenden Interessen ökonomische. Der dort ausgetragene Kampf aber ist politisch. Genauer: Er ist, wie es Vertreter der „alt-right” gerne ausdrücken „metapolitisch.” Es geht, wie die „alt-right” freimütig eingesteht und die sächsische AfD plakatiert, um die Eroberung von Diskurshoheit.

Andrew Breitbart; Quelle: washingtonpost.com
Andrew Breitbart, Vordenker der „alt-right” und Gründer eines ihrer wichtigsten Sprachrohre, hat für diesen Kampf die Floskel geprägt „politics is downstream from culture” – wer stromaufwärts Einfluss auf die Kultur ausübt, bestimmt den politischen Mainstream. Es kommt also, um die Welt zu verändern, doch darauf an, sie zunächst anders zu interpretieren. Frei nach Antonio Gramsci, den die „alt-right” sich wie schon de Benoist von der Nouvelle Droite in den 1970er und 80er Jahren im gleichen Atemzug aneignet, in dem sie ihn als „cultural Marxist” verteufelt, geht es um die Besetzung hegemonialer Positionen im Stellungskrieg um kulturelle Macht.
Normalisierung
Die 10er Jahre lassen sich aus dieser Perspektive rückblickend als diskurspolitische Erfolgsgeschichte der „alt-right” lesen. Im selben Maß, in dem einerseits deren führende Köpfe, von Richard Spencer über Milo Yiannopoulos bis Steve Bannon, an persönlichem Einfluss verloren (wenn auch nur um diesen, wie Bannon, auf der europäischen Seite des Atlantiks wieder aufzubauen), haben sich ihre Provokationen im medialen Diskurs normalisiert. In der Sprache der Rechten hat sich das „overton window” des Sagbaren inzwischen so verschoben, dass vordem als extremistisch tabuisierte Begriffe und Meinungen – etwa zum „Ethnonationalismus,” zur „Invasion” durch Migration, zur „WQ” (women question) oder gar zur „JQ” (Jewish question) – in den medialen Sprachgebrauch eingegangen sind. In Deutschland sind mit der AfD Teile der Bevölkerung politisch durch prominente Abgeordnete wie Alice Weidel vertreten, die ungehemmt „alt-right”-Verschwörungstheorien über einen nun eingedeutschten „Kulturmarxismus” verbreiten. Diskurse, die zunächst auf 4chan und 8chan geschürt wurden, sind mittlerweile auf die sogenannten „mainstream media” übergesprungen.
Die Rolle der Medien
Das Paradebeispiel hierfür ist sicherlich Fox News, nach wie vor der führende Nachrichtenbetreiber im Kabelfernsehen, der in der Trump-Ära kaum anders denn als Staatsfernsehen zu bezeichnen ist. Der Sender hat nicht nur jegliche Distanz zu Regierungsorganen, geschweige denn zu Trumps twitter-feed aufgegeben, sondern auch jegliche Abgrenzung zum Internetdiskurs der „alt-right” auf 4-chan und YouTube. So werden etwa die wirren Manifeste, welche die Attentäter von Christchurch, Poway, El Paso und anderswo auf 4chan und Facebook veröffentlichten, in Nachrichtensendungen auf Fox kaum entwirrt – im Gegenteil, der Sender hat sich längst die Sprache der Attentäter anverwandelt.

Tucker Carlson, Fox News; Quelle: mediamatters.com

Laura Ingraham auf Fox News, 2019; Quelle: mediamatters.org
Tucker Carlson und Laura Ingraham bedienen sich in den Monologen, mit denen sie allabendlich ihre massiv populären Shows beginnen, der gleichen Begriffe und Phrasen wie die Attentäter und leisten deren Verschwörungstheorien Vorschub: Die USA sei an der mexikanischen Grenze einer lateinamerikanischen „Invasion” ausgesetzt; weiße US Amerikaner stünden deshalb unmittelbar vor dem demographischen Abgrund eines „cultural and ethnic replacement” – ein Ideologem, das in Frankreich vom Verschwörungstheoretiker Renaud Camus geprägt und dann in Charlottesville mit tödlichen Folgen skandiert wurde.
Aber auch in den sozialen Medien zeichnen sich die mainstreaming-Erfolge der „alt-right” ab, etwa wenn sich Twitter inzwischen außer Stande sieht, den weißen Suprematismus einzudämmen. Zwar lassen sich, wie Twitters Vorgehen gegen den IS im Netz zeigt, Algorithmen entwickeln, welche die Verbreitung von Hass und Hetze eindämmen. Doch der Versuch, solche Algorithmen auch für den ethnonationalistischen, rechtsextremen Terrorismus zu entwickeln, scheiterte, weil zu viele Twitterkonten im republikanischen Mainstream, darunter auch solche von Abgeordneten der Partei, in die Fangnetze geraten wären: Jeder denkbare Algorithmus zum Aufspüren und Entfernen entsprechender Tweets, stellten Mitarbeiter bei Twitter fest, hätte unweigerlich zu einem automatischen Ausschluss von republikanischen Parteimitgliedern geführt – was auch nicht im geschäftlichen Interesse eines Medienkonzerns läge, dessen ökonomische Macht auf der Akkumulation von Accounts, Clicks und Retweets beruht.
Trump als Symptom

Trump-retweet, 2015; Quelle: bbc.com
Trumps Wahlsieg ist daher auch insofern ein Erfolg der „alt-right,” als deren Rassismus nun regierungsfähig geworden ist. Der anti-muslimische Vorstoß gegen Einreisen aus islamischen Ländern war hierfür nur ein früher Vorbote, und auch Trumps Retweets britischer rechtsextremer Videos und Bilder führender Politiker*innen in diffamierender Absicht sind bloße Symptome der strukturellen Verankerung des weißen Suprematismus in der US-Regierung und deren Medienstrategien. Ein Präsident, dessen twitter feed nachhaltig im verschwörungstheoretischen Milieu vernetzt ist, kann kein politisches Interesse daran haben, rechtsextremen Terrorismus zu thematisieren oder konsequent zu verfolgen. Denn das bedürfte der Distanzierung vom Rassismus der „alt-right”, woran allerdings ausdrücklich kein Interesse besteht („[white supremacism] is not something this administration is comfortable speaking out against” – so ein ehemaliger Mitarbeiter der Regierung Trump, der damit zu erklären versuchte, warum das Ministerium für Heimatschutz sich sträubt, den „domestic terrorism” zur strategischen Priorität zu erklären).
Mit solchen Statements, mit der nahtlosen Rückkoppelung zwischen Fox News und Trumps Twitternetzwerken, und Dank der politischen Unfähigkeit, ihrer Verbreitung im Netz Einhalt zu gebieten, ist die „alt-right” im Mainstream angelangt. Die Geschichte wird wie gesagt noch zu schreiben sein, sie sollte sich aber von den semantischen Verwirrspielen der „alt-right” ebenso wenig leiten geschweige denn hinters Licht führen lassen, wie vom vordergründigen Abflauen des Begriffs, unter dem die neuen Rechten zumal im englischen Sprachraum – und damit auch im globalen Netz – zu Beginn des Jahrzehnts angetreten waren. Angesichts der dezentralen Formen politischer Organisation im Netz verliert die dafür geprägte Bezeichnung „alt-right” in dem Maße an Gewicht, in dem deren Inhalte sich gesellschaftlich durchsetzen.
Das vergangene Jahrzehnt begann mit der Kür von „alternativlos” zum Unwort des Jahres; es endet mit nachhaltigen Erfolgen einer als „alternativ” konnotierten neuen Rechten (nicht nur) im Netz. Diese nicht alternativlos wirken zu lassen wird eine der dringlichsten politischen Aufgaben für die 20er Jahre sein.